Streiks und Sozialprotest in Frankreich: Millionen gegen Rentenreform

"L'heure est greve": Wortspiel aus "Die Lage ist ernst" und "Die Stunde des Streiks". Foto: Bernard Schmid

Gewerkschaften und Linksparteien mobilisieren um die Wette. Allerdings wird im Nachbarland nicht gegen die volle Rente ab 64 rebelliert. Eine Klarstellung zur medialen Stimmungsmache.

Am Samstagnachmittag fanden in Paris zum zweiten Mal in einer Woche Massenproteste gegen die von Staatspräsident Emmanuel Macron geplante Rentenform statt. Aufgerufen hatten die linke Opposition und Jugendverbände.

Zuvor waren am Donnerstag landesweit mindestens 1,5 Millionen Menschen einem Aufruf der Gewerkschaften gefolgt. Sie kamen zu Demonstrationen in 230 französischen Städten, während Züge, Metros und Straßenbahnen stillstanden und Flüge ausfielen. Auch im Energiesektor wurde gestreikt.

Der Aufruf zu den Massenprotesten am Samstag kam von politischen Oppositionsparteien, insbesondere der stärksten linken Kraft im Parlament in Gestalt der Wahlplattform LFI ("Das unbeugsame Frankreich"), sowie von Jugendverbänden. Angaben über die Teilnehmerzahl variieren stark.

Seit 2017 findet in Frankreich eine Art Wettbewerb darum statt, ob Gewerkschaftsvorstände oder Linksparteien – insbesondere LFI –, die Nase vorn haben, wenn es darum geht, den Sozialprotest auf der Straße zu repräsentieren.

Daher rührt auch die Tatsache, dass es getrennte Aufrufe gibt, wie auch im vorigen Herbst für Protesttage der Gewerkschaften am 29. September, und am 18. Oktober sowie der LFI am 16. Oktober. Beide sollten dabei die Rechnung lieber nicht ohne ihre gesellschaftliche Basis machen.

Derzeit jedenfalls ziehen beide dabei objektiv am selben Strang, dreht es sich doch darum, möglichst viele Menschen auf die Straße zu bewegen, um dem Protest gegen die Rentenreform Ausdruck zu verleihen – diese soll an diesem Montag, den 23. Januar vom Kabinett verabschiedet werden, am 31. Januar wird die Parlamentsdebatte in Ausschusssitzungen beginnen.

Doch worum geht es dabei inhaltlich?

Die rückwärts gerichtete Reform ist nicht die erste ihrer Art ist, sondern gehört zu einer ganzen Serie – Maßnahmen zur Verlängerung der Lebensarbeitszeit gab es in Frankreich bereits 1993 (im August mitten in der Urlaubsperiode quasi ohne Vorwarnung verabschiedet), im Herbst 1995 (durch Massenstreiks verhindert), 2010 (trotz monatelanger Massenproteste verabschiedet) 2014 und zuletzt 2019/20, wobei der letzte Anlauf aufgrund der Covid-19-Pandemie abgebrochen wurde.

Kerngegenstand der geplanten "Reform" ist eine Erhöhung des gesetzlichen Renten-Mindesteintrittsalters, das vor der "Reform" von 2010 (und seit den frühen 1980er-Jahren) noch 60 Jahre betrug, heute bei 62 liegt, in kurzen Schritten bis auf 64 im Jahr 2030.

Die künftige gesetzliche Untergrenze, also 63 (ab 2026) respektive 64 (ab Anfang 2030), entspricht nicht dem deutschen "Renteneintrittsalter", das gerade schrittweise von 65 auf 67 Jahre angehoben wird, wo es dann ab 2031 angesiedelt ist.

Dieser oft angestellte Vergleich – der sowohl das deutsche als auch das französische Medienpublikum zu der Schlussfolgerung führen soll, dass Französinnen und Franzosen sich doch mal nicht so anstellen sollten, sie hätten doch immer noch Glück – ist schlicht falsch.

Vielmehr entspricht die in Frankreich nun angepeilte Zahl 63 respektive 64 dem deutschen Alter für die Möglichkeit einer "Rente mit Abschlag" (oder mit potenziellem Abschlag, denn wenn mindestens 45 Beitragsjahre – eine hohe Zahl – vorliegen, dann entfällt dieser Abschlag. Eine Rente ohne Abschläge bei fehlenden Beitragsjahren gibt es in Frankreich schon jetzt erst ab 67.

Ab dem Alter von 63 "darf" in Deutschland einen Rentenanspruch geltend machen, wer eine zweite Voraussetzung erfüllt und mindestens 35 Beitragsjahre aufweist, dann jedoch mit einem Abschlag von 3,6 Prozent pro Jahr des "vorzeitigen" Abgangs.

Ähnlich, wenngleich nicht genau gleich, verhält es sich auch in Frankreich. Derzeit kann einen gesetzlichen Rentenanspruch geltend machen ("darf" also in Rente gehen), wer mindestens 62 Jahre alt ist, künftig wird diese Grenze bei 63 respektive 64 Jahren liegen – jedoch dann mit Abschlag gegenüber einer vollen Rente, wenn nicht alle geforderten Beitragsjahre vorliegen.

Deren Zahl wiederum beträgt derzeit 41,5, ab 2027 dann aber 43. Die Abschläge, genannt décote, werden dabei pro fehlendes Beitragsjahr berechnet/erhoben und betragen pro Quartal 1,25 Prozent, das heißt pro Jahr fünf Prozent. Sie liegen also höher als in Deutschland.

"Rente vor der Gicht"

Das Durchschnittsalter, bis zu dem Menschen auf ein Leben ohne körperliche Beeinträchtigungen rechnen dürfen, beträgt in Frankreich derzeit 62,7 Jahre bei Männern und 64,1 Jahre bei Frauen (der Unterschied erklärt sich aus einer anderen Beschäftigungsstruktur, mehrheitlich anderen Berufsfeldern).

So geht es den Protestierenden vor allem darum, ihre Rente oder jedenfalls deren Anfänge noch ohne körperliche Beeinträchtigungen und Mobilitätsverlust genießen zu können. "Die Rente vor der Gicht" (La retraite avant l’arthrite), wurde dementsprechend auf einem Plakat am Donnerstag gefordert.

Zahlreiche Rentnerinnen und Rentner in Frankreich sind in associations aktiv – dieser Oberbegriff würde im Deutschen einem Spektrum vom eingetragenen Verein über die Bürgeriniatitive bis zur Nichtregierungsorganiation (NGO) entsprechen. Diese Organisationen sind oft eher engagiert als vereinsmeierisch. Sie bieten Kindern Hausaufgabenhilfe, spielen Theater oder helfen Migrantinnen und Migranten beim Ausfüllen von Behördenpapieren.

Wer körperliche Schwerarbeit leistet, soll allerdings den Reformplänen zufolge etwas früher einen Rentenanspruch geltend machen, kann das allerdings auch bisher schon aufgrund von Anrechnungsmechanismen für "Erschwernis-" oder "Härtekritieren" (critères de pénibilité). Bei der vorletzten "Reform", jener von 2010, waren solche Härteklauseln eingeführt worden.

Vier der zehn Härtekriterien waren allerdings just unter dem seit 2017 amtierenden Präsidenten Emmanuel Macron wieder abgeschafft worden, nachdem bereits zuvor der rechtssozialdemokratische Premierminister Manuel Valls (2014 bis 2016) deren Umsetzung wegen des "technischen Schwierigkeitsgrads ihrer Messung" vorläufig ausgesetzt hatte.

Vier der zehn ursprünglich geplanten Kriterien wurden auf diese Weise abgeschafft: Das Tragen schwerer Lasten; körperschädigende Haltung am Arbeitsplatz; mechanische Schwingungen; und die Tatsache, schädlichen chemischen Substanzen (durch Dämpfe oder Staub) ausgesetzt zu sein.

Die Regierung behauptet zwar, es dürfe auch weiterhin früher in Rente gehen, wer unter diese Kriterien falle, diese würden nur nicht mehr automatisch angerechnet, wie es ursprünglich geplant war (jedoch real nie stattgefunden hat).

Konkret ist es jedoch nur möglich, den Abgang in die Rente vorzuziehen, wenn aufgrund eines der genannten vier Kriterien eine Berufskrankheit anerkannt und eine Arbeitsunfähigkeit in Höhe von mindestens zehn Prozent ärztlich attestiert wurde.

Nur ist dann, wenn ein solches Attest vorliegt, der Körper bereits nachweislich kaputt. Wer sich das klar macht, versteht, dass die französischen Gewerkschaften dagegen Stellung beziehen.