Stürzt uns die Türkei in die Finanz- und Wirtschaftskrise 2.0?

Seite 2: Lockdowns verschärfen wirtschaftliche Widersprüche

An den internationalen Anleihe-, Schulden-, Immobilien- und Aktienmärkten hat sich meiner Einschätzung nach eine erhebliche asset bubble aufgebaut. Die Bewertungen der Vermögensgegenstände haben sich mittlerweile weit von der realen Wirtschaftskraft entfernt, sie sind seit Jahrzehnten weit stärker gestiegen als die tatsächliche Wirtschaftsleistung.2

Diese Entwicklung hat sich durch die jahrzehntelange Nullzinspolitik wichtiger Notenbanken, die Lockdowns und das viele frisch gedruckte Notenbankgeld noch erheblich beschleunigt: In den USA hat sich Zentralbankgeldmenge in den letzten 15 Jahren etwa verzehnfacht, im Euroraum verachtfacht.

Trotzdem glauben viele Investoren immer noch, dass ihre Vermögen voll werthaltig sind. Das ist aber eine große Illusion. Die Buchwerte der Vermögensgegenstände sind schon lange nicht mehr in vollem Umfang durch die reale Wirtschaftsleistung unterlegt.

In dem Moment, in dem die Anleger in größerem Umfang versuchen, ihre Schulden oder ihr in andere Vermögensgegenstände investiertes Geld zurückzubekommen, werden sie feststellen, dass das unmöglich ist.

Viele Schuldner sind hoffnungslos überschuldet, eine Rückzahlung geht weit über ihre Kraft. Wenn das den Investoren bewusst wird, dürften die Kurse und Preise weltweit zu purzeln anfangen und einen Schulden-, Immobilien- sowie Börsencrash auslösen. Was könnte der Auslöser dafür sein? Möglicherweise die Türkei.

Der Absturz der türkischen Lira

Am 25. November 2021 betrug der Wechselkurs der türkischen Lira zum US-Dollar etwa zwölf Lira pro Dollar. Mitte September lag der Kurs noch bei ungefähr 8,50. Heute bekommt man also gut 40 Prozent mehr Lira pro Dollar als vor zwei Monaten.

Vor fünf Jahren, im November 2016 stand die Lira bei ca. 3,5. Heute bekommt man also beinahe dreieinhalb Mal so viele Lira pro Dollar wie vor fünf Jahren. Anders ausgedrückt: Die Lira hat sich in den letzten fünf Jahren im Wert beinahe geviertelt.

Hohe türkische Schulden in Fremdwährung

Die Türkei hatte im zweiten Quartal 2021 laut Global Debt Monitor Schulden von insgesamt rund 153 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Bei einem BIP von rund 720 Milliarden US-Dollar 2020 entspricht das etwa Schulden in Höhe von 1.100 Milliarden US-Dollar.

Die Auslandsschulden betrugen im zweiten Quartal 2021 446 Milliarden US-Dollar. Das entspricht 62 Prozent des BIP. Nach Berechnungen des Institute of International Finance beliefen sich die Schulden der Türkei in ausländischer Währung zur Jahresmitte 2021 auf 80 Prozent vom BIP. Das wären ungefähr 576 Milliarden US-Dollar.

Die Türkei hat also erhebliche Fremdwährungsverbindlichkeiten. Das heißt, wenn die Lira sich abschwächt, wird das Bedienen der Fremdwährungsschulden schwieriger. Ein beträchtlicher Teil dieser Schulden muss innerhalb der nächsten zwölf Monate zurückgezahlt werden. Ende September 2021 waren das, je nach Abgrenzung, 125 bis 168 Milliarden Dollar. Wie sollen diese Schulden angesichts des Lira-Absturzes zurückbezahlt werden?

Allein türkische Unternehmen haben derzeit 33,8 Prozent vom BIP bzw. über 240 Milliarden Dollar Fremdwährungsschulden. Wenn man die Verbindlichkeiten in Lira umrechnet, heißt das, dass diese Unternehmen in türkischer Lira nun gut 40 Prozent mehr Schuldendienst leisten müssen als noch vor zwei Monaten oder 3,4 Mal so viel wie vor fünf Jahren.

Konkret: Wenn ein Unternehmen vor fünf Jahren 100 Millionen US-Dollar Kredit aufgenommen hat, bekam es damals 350 Millionen Lira dafür. Heute muss das Unternehmen 1.200 Millionen Lira zurückbezahlen. Das könnte manche Unternehmen in Liquiditätsschwierigkeiten bringen und zu Problemen beim Schuldendienst führen.

Das Gleiche gilt für die türkische Regierung, die mit 23 Prozent vom BIP in ausländischer Währung verschuldet ist und türkische Banken, die ebenfalls Fremdwährungsschulden in Höhe von 23 Prozent vom BIP haben.