Stürzt uns die Türkei in die Finanz- und Wirtschaftskrise 2.0?

Seite 3: Türkei vor Finanzkrise?

Kurz: Der dramatische Absturz der Lira könnte und dürfte dazu führen, dass so mancher türkische Schuldner in Rückzahlungsprobleme kommt. Das ist umso wahrscheinlicher, als das Vertrauen der türkischen Konsumenten im November 2021 den tiefsten Stand seit Beginn der Datenerhebung 2004 erreichte.

Die Prognosen für den Inlandskonsum und damit für die wirtschaftliche Entwicklung sind also denkbar schlecht, trotz steigender Exporte. Auch die Inflationsrate von derzeit knapp 20 Prozent trägt nicht gerade zur Vertrauensbildung der Konsumenten und zu Optimismus bei der Währungsentwicklung bei.

Dazu kommt, dass auch die langfristigen Zinsen in der Türkei in den letzten Monaten dramatisch gestiegen sind. Türkische Staatsanleihen mit zehnjähriger Laufzeit haben derzeit einen Zins von über 20 Prozent, das sind etwa acht Prozentpunkte mehr als vor einem Jahr. Also auch eine Refinanzierung über den Inlandsmarkt ist für viele Schuldner derzeit extrem teuer und keine einfache Lösung.

Auswirkungen türkischer Finanzprobleme auf die Weltfinanzmärkte

Angesichts des selbst im internationalen Vergleich relativ hohen Gesamtbetrages der Fremdwährungsschulden von über 570 Milliarden Dollar könnten sich Zahlungsprobleme türkischer Schuldner schnell auf die Weltanleihemärkte übertragen und dort zu Kursrückgängen führen. Es ist also gut möglich, dass türkische Finanzprobleme eine Erschütterung an den Bondmärkten nach sich ziehen und dort möglicherweise eine Kettenreaktion auslösen.

Zur Erinnerung: Lehman hatte kurz vor seiner Pleite 2008 Schulden von 613 Milliarden Dollar. Dieser Betrag hat ausgereicht, um eine Weltfinanzkrise auszulösen. Die Schulden der Türkei haben eine ähnliche Größenordnung und daher möglicherweise ebenfalls das Zeug, eine globale Finanzkrise loszutreten. Ist die Türkei diesmal der erste Dominostein, der umfällt, wie es 2008 Lehman war?

Möglicher Ablauf

Wie könnten sich konkret türkische Schuldenprobleme auf die Weltfinanzmärkte auswirken? Wenn die ersten türkischen Gläubiger ihren Schuldendienst nicht mehr bedienen können, dürfte das zu einem Kurssturz bei türkischen Anleihen führen.

Solche Turbulenzen in einem wichtigen Schwellenland führt leicht zu Ängsten der Anleger und zu einer allgemeinen Flucht aus riskanten Anleihen durch Investoren an den Bondmärkten.

Konkret dürften zunächst die Anleihen auch anderer Schwellenländer unter Druck kommen und zu Kapitalabzügen durch die Industrieländer, insbesondere der USA3, aus riskanten Schwellenländern führen.

Wie bei der Südostasienkrise Ende der 1990er-Jahre bringt dies schnell Währungsturbulenzen, genauer Währungsabstürze von Schwellenländern mit sich. Aber nicht nur Anleihen in Schwellenländern dürften Probleme bekommen, sondern auch bonitätsschwache Schuldner in Industrieländern, vornehmlich High-yield-Bonds und BBB-Anleihen, Stichwort Zombie-Unternehmen, könnten unter die Räder kommen.

Wenn ein solcher Vertrauensverlust bzw. eine solche Angst weiter um sich greift, wie beispielsweise 1907 oder 1929, und zur Panik wird, dann kann dies recht schnell auch die Aktienmärkte mit nach unten reißen. Auch die Immobilienpreise würden dann eine starke Korrektur erleben, weil die Immobilien mit ungeheuren Mengen an Schulden finanziert sind.

Die internationalen Anleihe- bzw. Bondmärkte waren Ende 2020 mit einem Marktvolumen von 123,5 Billionen Dollar größer als die weltweiten Aktienmärkte mit 105,8 Billionen Dollar. Mit anderen Worten: Es ist weltweit mehr Geld in Anleihen investiert als in Aktien. Wenn die Bondmärkte in die Knie gehen, können sie daher mit Leichtigkeit die Aktienmärkte mit nach unten ziehen.

Letztlich beruht das Funktionieren aller Schuldbeziehungen, aller Kredit- und insbesondere der riesigen Anleihemärkte auf dem Glauben der Geldgeber, auf dem Vertrauen, dass das Geld zurückbezahlt werden wird.

Das Wort Kredit kommt von credere, glauben. Wenn der Glaube der Gläubiger, das Vertrauen der Investoren bricht, dann führt dies zu einem allgemeinen Crash an den Finanzmärkten. Die Auswirkungen auf die Realwirtschaft wären verheerend. Auch der Euro könnte dann infrage gestellt werden, was unabsehbare ökonomische und gesellschaftliche Verwerfungen in Kontinentaleuropa nach sich ziehen würde.

Steht die Finanzkrise 2.0 bevor?

Das Crash-Potenzial an den Aktienbörsen, den Bond- und Immobilienmärkten ist heute deutlich höher als 2008. Der Sturz könnte also wesentlich tiefer werden als während der Finanzkrise 2007-2009. Die Schulden der Türkei könnten heute eine ähnliche Rolle spielen wie die Schulden von Lehman 2008 und der Auslöser einer zweiten Finanzkrise sein. Die dürfte deutlich schlimmer werden als die Erste. Ich denke, die Zeichen stehen auf Sturm, möglicherweise einen perfekten Sturm.

Zum Autor:

Prof. Dr. Christian Kreiß, Jahrgang 1962: Studium und Promotion in Volkswirtschaftslehre und Wirtschaftsgeschichte an der LMU München. Neun Jahre Berufstätigkeit als Bankier, davon sieben Jahre als Investment Banker. Seit 2002 Professor an der Hochschule Aalen für Finanzierung und Volkswirtschaftslehre. Autor von sieben Büchern: Gekaufte Wissenschaft (2020); Das Mephisto-Prinzip in unserer Wirtschaft (2019); BWL Blenden Wuchern Lamentieren (2019, zusammen mit Heinz Siebenbrock); Werbung nein danke (2016); Gekaufte Forschung (2015); Geplanter Verschleiß (2014); Profitwahn (2013). Drei Einladungen in den Deutschen Bundestag als unabhängiger Experte (Grüne, Linke, SPD). Zahlreiche Fernseh-, Rundfunk- und Zeitschriften-Interviews, öffentliche Vorträge und Veröffentlichungen. Mitglied bei ver.di und Christen für gerechte Wirtschaftsordnung. Homepage: www.menschengerechtewirtschaft.de