Südtirol als Modell für die Ostukraine?
Seite 2: Die nationale Frage vor und nach der Sowjetunion
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Die nationale Frage oder die Frage der ethnisch-nationalitätenpolitischen Zugehörigkeit stellte sich nach dem Ersten Weltkrieg mit dem Untergang der moskowitisch-imperialen Zaren-Autokratie allenfalls in der zeitgeschichtlich kurzen Phase einer westukrainischen Eigenstaatlichkeit zwischen bolschewistischer Oktoberrevolution 1917, dem sich anschließenden Bürgerkrieg und dem Sieg der Bolschewiki des Wladimir Iljitsch Uljanow (bekannt als Lenin) mit darauffolgender Gründung der Sowjetunion 1922 (amtliche Form UdSSR / CCCP; Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken), der die Ende 1918 ausgerufene Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik (UkrSSR/ УССP) beitrat, in der Ostukraine dagegen überhaupt nicht.
Hierbei ist – insbesondere wegen des fundamentalen Unterschieds zur Entwicklung nach dem Ersten Weltkrieg – die "Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts" (George F. Kennan) – darauf hinzuweisen, dass in der Ukraine als einer politisch-territorialen Formation, die im Entstehen begriffen war, als das zaristische Russland infolge der Oktoberrevolution unterging und schließlich 1922 Teil der Sowjetunion wurde, eben nicht ein derartiger Konflikt entstehen konnte, wie ihn die Annexion des südlichen Tirol 1918 durch und dessen völkerrechtliche Übereignung an Italien 1919 durch das "Friedensdiktat" von St. Germain-en-laye hervorrief.
Auch nach dem Sieg im von Stalin so genannten "Großen Vaterländischen Krieg" 1945 änderte sich daran in der Ukraine nichts, ganz gleich, ob es sich um die West-, um die Zentral- oder um die Ost-Ukraine handelte. Denn die Nationalitätenfrage war im totalitären Machtgefüge der ideologisch dem Internationalismus huldigenden Einparteiherrschaft der KPdSU im Zentrum Moskau formell nicht existent und wenn überhaupt, dann konnte sie sich allenfalls im vom Geheimdienst KGB niedergehaltenen Samisdat-Untergrund spärlich regen.
Was man für diese Periode ebenfalls nicht aus den Augen verlieren sollte, ist ein nahezu delikat zu nennender Umstand, nämlich dass so gut wie alle führenden aus der UkrSSR/YCCP in die beiden zentralen Machtgremien der allein bestimmenden KPdSU entsandten Mitglieder von Zentralkomitee (ZK) und Politbüro (PB) ethnische Russen waren. (Ich nenne hier ausdrücklich die einflussreichtsten, wie Wjatscheslaw Michajlowitsch Molotow, Lazar Moissejewitsch Kaganowitsch, Nikita Sergejewitsch Chruschtschow, Nikolaj Wiktorowitsch Podgornyj und Wladimir Antonowitsch Iwaschko. Zu den wenigen Ausnahmen gehören Wolodymyr Wassyljowytsch Schtscherbyzkyj.
Russische Minderheiten
Erst mit dem Systemkollaps, dem Zusammenbruch und der Auflösung der Sowjetunion 1991/1992 kam zum Vorschein, was während der sieben Jahrzehnte, in denen es zur propagierten Partei- und Staatsadoktrin gehörte, den von nationalen Regungen losgelösten, internationalistisch denkenden und handelnden "Sowjetmenschen" zu schaffen, das Bewusstsein vom Nationalen überlagert hatte.
Mit der Souveränitätserklärung der aus der Sowjetunion hervorgegangenen Nationalstaaten rückten allmählich auch nationale Minderheiten und Volksgruppen ins Blickfeld. Wobei es nun überall dort, wo während der Phase der Zugehörigkeit zur Sowjetunion aufgrund politischer, ökonomischer und sozialer "Vergemeinschaftung" unter Moskauer Suprematie vermehrt ethnische Russen hinkamen und meist auch die führende Schicht bildeten, diese sich nach den jeweiligen Souveränitätserklärungen respektive Referenden/Volksabstimmungen als Minderheiten wiederfanden.
So in den baltischen Republiken Estland (Volksabstimmung 3. März 1991; russische Minderheit 25,5 Prozent), Lettland (Unabhängigkeitserklärung 4. Mai 1990; russische Minderheit 27 Prozent) und Litauen (11. März 1990; Russen 5,8 Prozent).
So auch in den zentralasiatischen Ländern Kasachstan (16. Dezember 1991; Russen 24 Prozent), Turkmenien (27. Oktober 1991; Russen sieben Prozent), Kirgisien (31. August 1991; Russen 12,5 Prozent), Usbekistan (1. September 1991; Russen 5,1 Prozent), Tadschikistan (9. September 1991; Russen 0,5 Prozent) und Aserbaidschan (18. Oktober 1991; Russen 1,3 Prozent), sodann Armenien (23. August 1990; Russen 0,09 Prozent), Georgien (9. April 1991; Russen 1,5 Prozent), Moldova (27. August 1991; Russen 4,1 im Landesteil westlich des Dnjestr sowie 30,3 Prozent im östlichen Landesteil, dem 1992 abgespaltenen Transnistrien) , Weißrussland / Belarus (25. August 1991; Russen 8,3 Prozent) und schließlich die Ukraine insgesamt (24. August 1991; Russen 22,1 Prozent).
Entgegenstehende Fakten
Entscheidend für die im Mittelpunkt stehende Auseinandersetzung mit der These des früheren Südtiroler Landeshauptmanns, wonach die Situation im Donbass jener in Südtirol ähnelt, sind Fakten und Umstände, welche seiner Betrachtung entgegenstehen. Man mag seine These gelten lassen, dass in den "Volksrepubliken" Donezk und Lugansk "die Zusammensetzung der Volksgruppen mit jener Südtirols vergleichbar" sei: "Zwei Drittel Russen und ein Drittel Ukrainer" führt er an und sieht dies als Parallele zu zwei Drittel Deutschsüdtirolern und einem Drittel Italienern.
Nur bleibt dabei etwas Fundamentales außen vor: Im Gegensatz zu den mittels "Friedensdiktat" von 1919 zu Staatsbürgern Italiens erzwungenen Deutschsüdtirolern, denen auch nach dem Zweiten Weltkrieg die Selbstbestimmung verweigert wurde, haben die Ukrainer jedweder ethnischen Identität beziehungsweise Volks- respektive Minderheitenzugehörigkeit sich am 1. Dezember 1991 bei einer Wahlbeteiligung von 84 Prozent zu 92,3 Prozent in einem völkerrechtlich unanfechtbaren Referendum für die Unabhängigkeit und Souveränität der Ukraine und damit für die ukrainische Staatsbürgerschaft entschieden – wobei der Bevölkerungsanteil ethnischer Ukrainer landesweit bei 72,7 Prozent lag.
Ausdrücklich sei vermerkt, dass sich auch 55 Prozent aller ethnischen Russen (mit einem Bevölkerungsanteil von 22,1 Prozent größte Minderheit des Landes), somit mehrheitlich für die Eigenstaatlichkeit der Ukraine entschieden und damit – nicht nur nebenbei bemerkt – den Wunsch des Präsidenten Boris Nikolajewitsch Jelzin unerfüllt bleiben ließ, nämlich dass die Ukraine Bestandteil Russlands, fortan in Form einer Föderation, bleiben sollte – dies wusste der selbstbewusste damalige unkrainische Präsident Leonid Makarowitsch Krawtschuk zu unterlaufen.