Sylt, rechte Gesänge und die Medien: Erst skandalisieren, dann fragen

Oktoberfest: Hier soll das inkriminierte Lied verboten sein. Bei Bier ist man sich noch nicht sicher. Bild: rawf8, Shutterstock.com

Wieso hören wir seit Tagen von einem Lokal auf Sylt, das die meisten von uns meiden würden? Über gesellschaftliche Relevanz und mediale Echokammern. Eine Medienkritik.

"Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien", sagte einst der deutsche Soziologe und Gesellschaftstheoretiker Niklas Luhmann.

Der Lehrsatz bekommt neue Bedeutung angesichts der Berichterstattung über rechtsradikale Gesänge in einer überteuerten Bar auf Sylt, auf Schützenfesten und in Internaten; Ereignissen also, von denen wir nie erfahren und die nie gesellschaftliche Relevanz entwickelt hätten, die nun aber auf einmal überall in den Schlagzeilen auftauchen.

Verständlich wird das Geschehen durch die Agenda-Setting-Theorie. Hunderte Studien haben sich seit 1972 mit den gesellschaftlichen Effekten der Presse beschäftigt.

Aktuell beobachten kann man den Mechanismus bei dem sogenannten "Sylt-Video", in dem zum über 22 Jahre alten Song "L’amour toujours" einige Partygäste "Deutschland den Deutschen, Ausländer raus" grölen. Nach der üblichen Verbreitung über Social Media landete der Vorfall bundesweit in den Medien.

So bekam der Vorgang in der 20-Uhr-Tagesschau am 24. Mai Platz fünf mit Sprechertext und Filmbeitrag, inklusive Statements von Bundeskanzler Olaf Scholz und Innenministerin Nancy Faeser. Der Einleitungssatz lautet: "Ein Video mit rassistischen Parolen junger Menschen hat bundesweit Entsetzen und Empörung ausgelöst."

"Entsetzen und Empörung" sind hier unbestreitbare Tatsachen. Der Anteil der redaktionellen Medien daran dürfte allerdings nicht unerheblich sein. Denn die besondere Aufmerksamkeit konnte der Vorfall nur bekommen, weil er zunächst als singulär hingestellt wurde. Zwar kamen schöne "Nachrichtenfaktoren" hinzu – konkret die Begriffe "Sylt" und "Nobel-Bar", beispielhaft von der taz auf die Schlagzeile verdichtet: "Champagner, Rolex und Rassismus".

Fehlende journalistische Souveränität

Doch mit etwas journalistischer Souveränität (statt Vermarktungsinteresse) hätte die erste Frage natürlich lauten müssen: Soll es wirklich eine absolute Ausnahme sein, dass irgendwo in Deutschland auf einer Party dieser berüchtigte Slogan gerufen wird?

Denn falls nicht, wäre zu begründen, was nun gerade den Sylter Vorgang so berichtens- und kommentierenswert macht.

Das Agenda-Setting ist auch im weiteren Verlauf gut zu beobachten: Denn natürlich blieb es nicht bei der Meldung des Vorkommnisses an sich. Es folgten der Reihe nach unzählige Stellungnahmen dazu, dann die ersten Konsequenzen, die die im Video zu Sehenden bereits erfahren haben, u. a. die Kündigung des Arbeitsverhältnisses, Hausverbot einer Universität und die unvermeidlichen Strafanzeigen (zu ihrer journalistischen Irrelevanz siehe hier).

Oh! Kein Einzelfall!

Dann folgte die Entdeckung, dass es sich tatsächlich nicht um einen Einzelfall gehandelt hat, wobei Formulierungen wie "Nach Sylt: Immer mehr rassistische Parolen im Norden" trotzdem ein neues Phänomen nahelegen. "Weitere Verdachtsfälle" bekamen eigene Meldungen.

Mit der erfolgreichen Suche nach weiteren Parolen-Partys ist ein Versiegen des Nachrichtenstroms zunächst unterbunden. Und in die Suche wird die Crowd eingebunden:

Wo wurden die häßlichen Parolen von #Sylt noch zum Song "L’amour Toujours" gegrölt? Es gibt die Bilder von dem Dorffest in Hainichen....es gibt sicher noch mehr. Wer was hat, schickt es gern an uns @correctiv_org, per DM oder über hinweise@correctiv.org. Wir wollen das erfassen

Justus von Daniels, Editor-in-chief bei Correctiv, auf X, Schreibweise wie im Original

Das Funk-Netzwerk bastelt eine Karte

Das "Content-Netzwerk" Funk von ARD und ZDF hat derweil eine Karte mit "30 Vorfälle, bei denen meist Jugendliche – ähnlich wie auf Sylt – rassistische Parolen zu L'amour Toujours von Gigi D'Agostino rufen" erstellt. Und das seien "nur die Fälle der letzten acht Monate, über die berichtet wurde".

Musste man sich zuvor schon fragen, in welcher speziellen Welt Politik-Journalisten leben müssen, dass ihnen erst das Mini-Video von Sylt gezeigt hat, wozu gar nicht nach Nazi aussehende Menschen fähig sind, lässt die Sammlung von längst veröffentlichten Meldungen das plötzliche Medieninteresse noch merkwürdiger erscheinen. Nun jedenfalls ist die Agenda gesetzt.

Recherchiert wird später

Auch die Aufarbeitung folgt dem üblichen Muster: erst vermelden, dann recherchieren. Also etwa zunächst von den Konsequenzen berichten, welche die ersten Täter zu spüren bekommen, und danach fragen, wie das rechtlich eigentlich aussieht: Ist das überhaupt strafbar, was in Kampen und anderswo gesungen wurde? Vermutlich nicht, meint der Rechtskorrespondent der taz, Christian Rath, was übrigens schon vor 13 Jahren in ebendieser taz stand.

Und Kündigung? Schwierig, muss im Einzelfall geprüft werden, sagt Anwältin Nele Urban, "nicht möglich", meint Christian Rath.

Folgen werden erst provoziert, dann hinterfragt

Hausverbot oder gar Exmatrikulation? Vielleicht rechtswidrig, wenn ein Exempel statuiert werden soll. Und am Ende wird wohl ein Gericht klären müssen, ob die rhythmisch wiegende Hand am gehobenen Arm eines Sylter Partygängers nun ein verbotenes Kennzeichen oder eine typische Konzertbewegung war.

Selbst zur Berichterstattungstechnik an sich scheinen einige Kollegen mit Zeitverzug den Fragekoffer auszupacken. Erst einem Tag nach der ersten Veröffentlichung auf dem Sender schreibt der WDR in einem Anhang zum Artikel "Rassistisches Video aus Sylt: Gefahr einer 'medialen Hetzjagd'?" Folgendes:

Anmerkung der Redaktion: Der WDR hat sich entschieden, die Personen in dem Video nicht unkenntlich zu machen, da es sich um ein zeitgeschichtliches Ereignis handelt und dies stärker wiegt als die Interessen der gezeigten Personen. Außerdem haben sie sich selbst in eine zumindest halb-öffentliche Lage gebracht und mussten damit rechnen, dass diese Bilder an die Öffentlichkeit gelangen.

WDR, 25. Mai 2025

Juristen sind sich mal wieder uneins, ob die Bilder unverpixelt gezeigt werden durften.

Auch Vollpfosten haben Grundrechte

Für den Journalismus stellen sich aber eher andere Qualitätsfragen. Wenn das Thema jetzt schon auf der Agenda steht und wenn man festgestellt hat, dass es so viele Fälle gab und gibt – müssten dann nicht alle gleich behandelt werden?

Also Fotos aller Parolen-Gröler und, wie 2015 die Bild, einen "Pranger der Schande" errichten? "Auch Vollpfosten haben Grundrechte", entgegnete damals Deutschlandfunk Kultur, lange bevor ein Gericht die Darstellung der Bild tatsächlich verboten hat (OLG München 29 U 368/16).

Medien berichten darüber, weil Medien darüber berichtet haben

Und selbstverständlich fragen hunderte Mediennutzer nach dem Maßstab für die Relevanz, der hier bei Sylt angelegt wurde, angesichts vieler Delikte, die keine große mediale Aufmerksamkeit bekommen. Aber das ist der Witz des Agenda-Settings: Die Relevanz wird mit der überbordenden Berichterstattung selbst begründet. So wie der WDR das Feiern einer kleinen Gruppe inmitten von 500 anderen Bar-Besuchern zum zeitgeschichtlichen Ereignis erklärt, das es eben durch die Berichterstattung geworden ist.

Sylt wird den Medien erhalten bleiben, ein neuer Aspekt steht schon für die Agenda bereit. Aus einem der ersten taz-Artikel zum aktuellen Aufreger: "Jürgen Trittin (Grüne) und Ulrich Schneider (Paritätischer Wohlfahrtsverband) bitten erst mal Punks, sie mögen nach Sylt zurückkommen. Im vergangenen Sommer hatte ein Camp von Punkern auf der Nobelinsel für Debatten gesorgt."

Diesen Punks wird journalistische Aufmerksamkeit und ein Eintrag ins Buch der Zeitgeschichte sicher sein. Und ein nachrichtliches Sommerloch droht wohl nicht.