Wird Syrien der nächste gescheiterte Staat?

Mitglieder der Hayat Tahrir al-Sham; Foto: Mohammad Bash /shutterstock.com
Nach Massakern steht Syrien am Abgrund. Die Übergangsregierung kämpft um Kontrolle im zerrissenen Land. Wird das einst stolze Syrien nun endgültig zerfallen? Interview mit Stephanie Doetzer.
Letztes Wochenende kam es zu Massakern an Alawiten und einer Massenflucht in den Libanon. In der Küstenregion eskalierte die Gewalt.
Wie sieht die Lage in Syrien aus? Es ist Zeit, sich kritischer mit Syrien und der Berichterstattung auseinanderzusetzen.
Über die Hintergründe und die Rolle der Medien sprach Telepolis mit der Nahost- und Syrien-Kennerin Stephanie Doetzer, die jahrelang aus der Region für deutsche Medien und für Al Jazeera berichtete.
Stephanie Doetzer ist ehemalige SWR- und Al-Jazeera-Redakteurin. Sie arbeitete mehrere Jahre lang in arabischen Ländern, lebt heute wieder in Deutschland und hält Vorträge zum Nahen Osten – vor allem über die Frage, wie eine Konfliktberichterstattung aussehen kann, die Kriege nicht zusätzlich befeuert.
Hinter den Schlagzeilen – Wer sind eigentlich die syrischen Alawiten?
▶ Frau Doetzer, Sie haben seit über 20 Jahren beruflich und privat immer wieder mit Syrien zu tun. Unter anderem haben Sie für Al Jazeera gearbeitet. Wieso äußern Sie sich normalerweise nicht zu Syrien?
Stephanie Doetzer: Weil ich nicht Teil des Lärms im Internet sein will. Ich mag die medialen Grabenkämpfe nicht. Außerdem verändert sich die Situation in Syrien in rasender Geschwindigkeit.
In der Zeit, die ich brauche, um mir ein einigermaßen klares Bild zu machen, haben die HTS (Hayat-Tahrir-asch-Scham)-Rebellen letztes Jahr ein ganzes Land erobert. Ich bin also eine denkbar schlechte Berichterstatterin für alles, was mit Tagesaktualität zu tun hat.
▶ Aber vielleicht eine für den langfristigen Hintergrund. Sie kennen die syrische Küstenregion und Menschen in Tartus und Latakia. Wer sind eigentlich die syrischen Alawiten?
Stephanie Doetzer: Vor allem etwas anderes als die türkischen Aleviten! Ich sage das, weil mir derzeit auffällt, dass viele, die sich irgendwo im Internet dazu äußern, beides in einen Topf werfen.
In Kürze ist es so: Seit den 1970er-Jahren gelten die Alawiten offiziell als eine Untergruppe des schiitischen Islams, wobei die meisten syrischen Alawiten nicht besonders religiös sind. Aus Sicht mancher salafistisch geprägten Sunniten gelten sie nicht einmal als "richtige Muslime", sondern als "Ungläubige".
Die syrischen Alawiten stehen dem politischen Islam sunnitischer Prägung sehr kritisch gegenüber und haben somit ein Interesse an einer säkularen Regierung – genauso wie alle anderen Minderheiten in Syrien auch.
Manche sahen im Assad-Regime eine Art Garant für ihre Sicherheit, andere wiederum waren seit Langem scharfe Kritiker des Regimes. Es ist eine irreführende Verkürzung, wenn behauptet wird, das Regime von Baschar al Assad sei in der Hand "der Alawiten" gewesen.
Die Unterdrückung war überkonfessionell
▶ Hat Assad nicht Schlüsselstellen des Regimes mit Mitgliedern seiner eigenen Gemeinschaft besetzt?
Stephanie Doetzer: Doch, das hat er. Trotzdem waren am früheren Regime sämtliche religiösen Gemeinschaften beteiligt und das System war dezidiert nicht auf den konfessionellen Identitäten aufgebaut, sondern auf der nicht-religiösen Ideologie der Baath-Partei.
Auch die Unterdrückung vonseiten des Regimes war überkonfessionell: In den Gefängnissen wurden Syrer jeglicher Herkunft misshandelt – auch Alawiten.
Alawiten in der Armee
▶ Aber diese waren in der Armee stark vertreten?
Stephanie Doetzer: Ja. Aus interessanten Gründen: Die Alawiten waren historisch gesehen eine ökonomisch stark benachteiligte Gesellschaftsgruppe. Um irgendwie über die Runden zu kommen, gingen junge Männer zum Militär – übrigens auch schon weit vor Beginn der Assad-Herrschaft.
In den letzten 14 Jahren ergab sich daraus, dass die alawitische Gemeinschaft sehr viele Todesopfer zu beklagen hatte, allerdings weniger Zivilisten, sondern vor allem Soldaten.
Die grundlegenden Sichtweisen
▶ Wie reagiert man jetzt in Ihrem syrischen Umfeld auf die Entwicklungen der letzten Tage?
Stephanie Doetzer: Mit tiefer Trauer und Verzweiflung an der syrischen Küste. Mit Angst unter den Angehörigen fast aller religiösen und ethnischen Minderheiten. Mit riesiger Frustration und Enttäuschung auch unter all denjenigen, die nach dem Sturz des alten Regimes an einen demokratischen Aufbruch oder zumindest an bessere Zeiten glauben wollten.
Aber wie immer gibt es unterschiedliche Erzählungen, sich widersprechende Opferzahlen und verschiedene Sichtweisen darauf, wer was getan hat und wer genau die Täter sind. Mehr Syrer oder ausländische Dschihadisten? Mit Auftrag oder ohne?
▶ Wovon hängt es denn ab, wie jemand darauf schaut?
Stephanie Doetzer: Letztlich von der grundlegenden Sichtweise auf all das, was seit 2011 in Syrien geschehen ist.
Grob gesagt: Die einen sehen im Machtwechsel den Sieg eines aus der syrischen Gesellschaft heraus geborenen Freiheitsstrebens, die anderen empfanden den Kampf gegen Assad als etwas von außen Angestacheltes und die Rebellen als Handlanger ausländischer Interessen.
Und heute: Manche empfinden eine islamistische Regierung in einem Land wie Syrien als stimmig – andere dagegen als Horrorszenario. Die einen sehen in Ahmad Al-Sharaa (vormalig Abu Mohammed al-Golani, Einf. d. Red.) einen gereiften Islamisten, der durchaus zum Staatsmann taugt, die anderen dagegen einfach nur einen Ex-Al-Qaida-Führer, dem nach wie vor nicht zu trauen ist.
Argumente kann man jeweils für beides finden. Es hängt schon ein bisschen davon ab, was man eben glauben möchte – und welches eigene Weltbild man aufrechterhalten will.
Medien und der Krieg in Syrien: "Gleiche Ereignisse, extrem unterschiedlich erzählt"
▶ Sie waren einige Jahre vor dem Krieg einmal als Gastjournalistin beim syrischen Staatsfernsehen und später dann Mitarbeiterin bei Al Jazeera. Das sind zwei ganz konträre Blickwinkel auf Syrien, oder?
Stephanie Doetzer: Ja, völlig. Das syrische Staatsfernsehen war das eindeutige Sprachrohr der Regierung und hat somit nichts gesendet, was das Assad-Regime nicht in gutes Licht getaucht hätte.
Al Jazeera wiederum hat sich den Sturz des Regimes zu einer Art journalistisch-politischen Aufgabe gemacht – und wiederum sehr positiv über diejenigen Rebellengruppen berichtet, die von Katar unterstützt wurden.
Insofern waren beide Sender jeweils in unterschiedlichen Lagern des internationalen Medienkriegs. Je nachdem, ob ein Medium eher die Interessen der USA verteidigt oder aber die Russlands und des Irans wird die gesamte Geschichte des Krieges unterschiedlich erzählt. Beide Sichtweisen spiegeln Positionen, die sich innerhalb der syrischen Gesellschaft wiederfinden.
Das ist der Punkt, der mich selbst am meisten interessiert: Zu verstehen, wie es möglich ist, dass die gleichen Ereignisse so extrem unterschiedlich erzählt werden können.
Die Menschenrechtsperspektive und die geopolitische Perspektive
▶ Können Sie genauer erläutern, inwiefern das auch heute in Bezug auf den Machtwechsel in Syrien so ist?
Stephanie Doetzer: Auch wenn es eine sehr grobe Gegenüberstellung ist: Es gibt einerseits die Menschenrechtsperspektive, die sich auf die Verbrechen des alten Regimes konzentriert – und daraus oft folgert, dass es eigentlich nur besser werden kann.
Und es gibt die geopolitische Perspektive, die sich auf die Interessen anderer Regierungen konzentriert – und die den Umsturz vom Dezember nicht als Revolution, sondern eher als eine Art Regime-Change ansieht.
Fast jeder, der zu Syrien spricht oder schreibt, lässt sich in eines dieser Lager einordnen. Einige wenige fallen aus dem Schema heraus. Ich selbst glaube, dass keine der beiden Perspektiven für sich alleine ausreichen.
▶ Wie ordnen Sie die Berichterstattung Ihres früheren Arbeitgebers Al Jazeera ein?
Stephanie Doetzer: Auch Al Jazeera hat dazu beigetragen, dass die Lage in Syrien so ist, wie sie ist.
Die Berichterstattung hat durch ihre Parteinahme für islamistische Gruppen in Syrien die Gräben vertieft, statt dazu beizutragen, dass Brücken entstehen können. Oder wenigstens Verständnis für diejenigen, die eine andere Sichtweise auf Syrien haben.
Allerdings ist Al Jazeera damit nicht alleine. Die meisten deutschen Medien machen etwas Ähnliches.
Die dominante einseitige Erzählung: "Assad im Krieg gegen das Volk"
▶ Wie meinen Sie das?
Stephanie Doetzer: Die Syrien-Berichterstattung war schon seit Beginn der Proteste – also ab 2011 – von Einseitigkeit geprägt. Die dominante Erzählung lautete: "Baschar al Assad führt einen Krieg gegen sein eigenes Volk."
Doch ob es einem nun gefällt oder nicht: Ein gegen die Regierung wirklich geeintes Volk hat es zu keinem Zeitpunkt gegeben. Auch wenn es stimmt, dass ein großer Teil der Syrer sich sehnlichst ein Ende der Assad-Herrschaft gewünscht hat.
Wie der Übergang aber funktionieren kann und was für ein Syrien danach entstehen soll – darüber gab es auch innerhalb der syrischen Oppositionsbewegungen keine Einigkeit.
Die Rolle der konfessionellen Zugehörigkeit
▶ Hängt die Wahrnehmung der ganzen Situation stark von der religiösen Zugehörigkeit ab?
Stephanie Doetzer: Ja und Nein. Es klappt nicht gut, mit einem europäischen Blick auf die Religionsgemeinschaften Syriens zu schauen. Man wird in Syrien in eine bestimmte Gemeinschaft hineingeboren, die als eine Art Identitätsmarker fungiert.
Je nach Zugehörigkeit ist die Sozialisation eine andere – und auch das faktische Erleben des Landes ein anderes. Unabhängig davon, was einer nun glaubt oder nicht glaubt.
Syrische Sunniten in meinem Umfeld betonen gern, dass doch alle Syrer sind und Syrien konfessionell nie so tief gespalten war wie der Libanon. Aber das ist eine Sichtweise, die sich aus der Mehrheitsposition heraus leichter aufrechterhalten lässt.
Syrische Christen und Alawiten erzählen in den letzten Jahren eher andere Geschichten.
Wer also behauptet, die konfessionelle Zugehörigkeit würde in Syrien keine wesentliche Rolle spielen, der spielt das Thema herunter. Wer aber behauptet, mit der konfessionellen Zugehörigkeit alles voraussagen zu können, der liegt ebenso falsch.
Verschiedene Syrien
▶ Sie haben vor zehn Jahren ein Radiofeature über Syrien verfasst, das fast prophetische Qualität hat. Darin beschreiben Sie, wie unterschiedlich Sie das Land erlebt haben, je nachdem, ob Sie in Damaskus oder an der syrischen Küste waren.
Stephanie Doetzer: Ja, es gibt nun mal verschiedene Syrien. Je nachdem, welches Syrien jemand selbst kennengelernt hat, fällt auch die Einschätzung der Kriegsjahre unterschiedlich aus. Und je nachdem, wo jemand gelebt hat, waren "die Guten" und "die Bösen" eben nicht immer die Gleichen.
Diese Trennlinie zieht sich bis heute durch: Wer 2011 Hoffnung geschöpft hat, dass eine neue, bessere Ära anbrechen könnte, der hat sich der "Revolution" verschrieben – und konnte feiern, als am 8. Dezember letzten Jahres das Regime fiel.
Wer nie an einen demokratischen Aufbruch geglaubt hat, das Wort "Revolution" unpassend fand und von Anfang an befürchtete, dass Dschihadisten an die Macht kommen, für den ist im Dezember etwas völlig anderes passiert.
Wie verhält sich jemand, wenn er die Macht hat?
▶ Ihr früherer Partner war ein aktiver Teil der syrischen Opposition. Er hat ihnen vorgeworfen, die Revolution nicht genug unterstützt zu haben. Jetzt sind seitdem viele Jahre vergangen. Hat er die Sendung jemals gehört? Und sich dazu geäußert?
Stephanie Doetzer: Ja, hat er. Er kennt die Radiosendung und mag sie sogar. Nur einen Punkt findet er immer noch empörend: Nämlich, dass ich darin sage, dass ich keinen moralischen Unterschied zwischen dem Regime und den bewaffneten Rebellengruppen erkennen kann.
Natürlich gab es in den Kriegsjahren ein Machtgefälle, durch das die Gleichsetzung heikel war. Aber die wesentliche Frage für mich ist: Wie verhält sich jemand, wenn er die Macht hat?
Wie wird dann mit Menschen umgegangen, die die neuen Machthaber infrage stellen? Oder unliebsame Meinungen haben? Oder zu einer Gruppe gehören, die nicht zum eng definierten "wir" gehört?
▶ So wie es derzeit aussieht: nicht gut.
Stephanie Doetzer: Überhaupt nicht gut. Und im Vergleich zu früher kommt eine neue Dimension dazu: Die Sicherheitskräfte der Assad-Regierung gingen brutal gegen all diejenigen vor, die etwas gedacht, gesagt oder getan haben, was dem Machtapparat nicht genehm war – oder denen das zumindest unterstellt wurde.
Teile der jetzigen Siegermacht, wenn man sie denn so nennen kann, gehen gegen Menschen vor, weil sie etwas sind, was nicht sein darf.
"Der Neuanfang war von Anfang an mehr Wunschdenken als Wirklichkeit"
▶ Gleichzeitig betont die syrische Führung, dass die Verantwortlichen bestraft werden würden. Es ist also noch etwas früh für eine abschließende Beurteilung.
Stephanie Doetzer: Das ist die Position des eher zuversichtlichen Teils der Syrer. Diese sagen seit Dezember: Man müsse der Übergangsregierung eine Chance geben und nicht gleich alles schlechtreden. Das Letzte, was die Syrer jetzt bräuchten, wären Leute, die ihnen Angst vor der Zukunft machten.
Ich selbst glaube: Das Letzte, was die Syrer jetzt brauchen, ist eine Illusion. Handlungsfähig wird man nur, wenn man hinschaut. Auch dahin, wo es wehtut.
▶ Aber wieso glauben Sie, dass die derzeitige Regierung kaum eine Chance hat?
Stephanie Doetzer: Vielen Syrern tut es weh, das auszusprechen, aber ich glaube: Der große Neuanfang war von Anfang an mehr Wunschdenken als Wirklichkeit.
Erstens: Die ausländischen Interessen in Syrien sind zu übermächtig – und die Zukunft liegt somit nur zu einem erschreckend kleinen Teil in den Händen der Syrer selbst.
Zweitens: Das Land ist wirtschaftlich am Boden. Die Regierung wird nicht die Veränderungen liefern können, die sich die Bevölkerung wünscht. Wenn die Regierung aber nicht liefert, dann folgt daraus fast notgedrungen ein Machtgerangel.
Sobald aber die gesellschaftliche Stimmung kippt und man beginnt, nach Schuldigen zu suchen, ist der Weg zu weiterer Gewalt fast vorgezeichnet.
"Was sich ankündigt, ist eine Teilung des Landes"
▶ Was ist Ihre Prognose?
Stephanie Doetzer: Es wäre schön, wenn ich damit falschliege, aber: Was sich ankündigt, ist eine Teilung des Landes. Syrien ist schon seit langer Zeit kein funktionierender Staat mehr.
Mittlerweile aber sind Fakten geschaffen, die sich nicht mehr so schnell ändern lassen: Eine de-facto Besatzung durch die Türkei in Teilen des Nordens. Eine sich ausdehnende israelische Militärpräsenz im Südwesten.
Und nach den furchtbaren Tagen der Massentötungen an der syrischen Küste: Minderheiten, die aus Angst vor weiteren Massakern nach ausländischen Schutzmächten Ausschau halten.
Ob die verschiedenen Landesteile irgendwann Mini-Staaten werden oder so etwas wie unklar definierte "Gebiete", das wird sich zeigen.
Aber dass die Regierung nicht in einem guten Sinne handlungsfähig ist, das zeichnet sich schon jetzt ab. Dennoch: Ich wünsche den Syrern sehr, dass Leute wie ich einfach nur zu pessimistisch sind.