Syrien: 70.000 Mitglieder des IS warten auf Abholung
- Syrien: 70.000 Mitglieder des IS warten auf Abholung
- Die Zukunft der kurdischen Verwaltung in Syrien
- Auf einer Seite lesen
Die Kurden sind damit überfordert. Der Sieg in Baghouz und das Ende der militärischen Lösungen
Seit Tagen heißt es, dass der Sieg in Sicht sei. ("Wir sind nah dran", US-Außenminister Pompeo). Doch die SDF warnen auch seit Tagen. Trotz großer Fortschritte würden sich noch immer IS-Kämpfer im Gelände der Umgebung von Baghouz verschanzen. Es dauere noch bis zur endgültigen Befreiung.
Tunnels und Gräben, auch Höhlen werden genannt, würden als Versteck dienen. Sogar Frauen und Kinder sollen an der Seite von Männern kämpfen, wie Videos zeigen, die aber einigen Interpretationspielraum lassen (eine Vollverschleierung zeigt nicht viel). Kinder werden als Schutzschilde benutzt. Wie hoch die Zahl der verbliebenen kämpfenden IS-Anhänger ist, sei schwer einzuschätzen. Auch nächtliche Luftangriffe haben sie nicht zur Kapitulation bewegt.
"Es gab Russen, Schweden, Deutsche und andere", sagte Asmar al-Bahr (ein Fotograph, Anm. d. A.) am Donnerstag. "Viele von ihnen sagten mir, dass sie nicht aufgeben und dass sie zurückkommen würden, um sich die Köpfe der Ungläubigen zu holen; einige sagten, dass sie es bedauern würden, dass sie sich Daesh angeschlossen haben, dass sie aber nicht so einfach gehen könnten, also blieben sie."
Al-Jazeera
Auf Twitter-Seiten sind grausige Bilder von Opfern im Umlauf, die mit "Massaker" betitelt werden. Wie bei der Befreiung von Rakka und Mosul werden Vorwürfe an ein unerbittliches militärisches Vorgehen gemacht. Sie werden von anderen als bloße Propaganda gebrandmarkt. Und sie werden sicher als Propagandamaterial ihre Verwendung finden. Der Guerillakampf des IS geht weiter.
Verlustreiche Kämpfe
Derweil müssen auch die SDF, die angeblich zur Hälfte jeweils aus kurdischen und arabischen Milizen bestehen, stärkere Verluste im Bodenkampf hinnehmen. Sprengfallen und in einem offenbar weit verzweigten Tunnelsystem (behauptet wird, dass es bis Deir ez-Zor und in die irakische Wüste reichen soll) und in Gräben versteckte Schützen machen die Befreiung des letzten Geländes am Ufer des Euphrat zu einer schwierigen und verlustreichen Angelegenheit.
Manche Bilder zeigen IS-Kämpfer, die ohne Waffen zwischen geparkten Autos hin- und hergehen, dem Eindruck nach unaufgeregt. Vieles ist von außen kaum verständlich. Unglaublich waren schon die Zahlen derjenigen, die die "IS-Bastion" in den letzten Tagen und Wochen verlassen haben; auch dafür gab es Bilder langer Reihen von Kämpfern, die aufgegeben haben.
Die Zeit der militärische Lösungen geht zu Ende
Was von außen zu verstehen ist, dass die Zeit zu Ende geht, in der militärische Lösungen in Syrien die Hauptsache ausmachten. Ganz drastisch ist das am Problem al-Hol zu erkennen. Al-Hol ist das "Auffanglager" im von Kurden verwalteten Nordosten Syriens, wohin IS-Anhänger, meist Frauen und Kinder, aber auch IS-Kämpfer gebracht wurden. Über 70.000 sollen dort untergebracht sein. Das im April 2016 für Menschen, die vor dem IS flohen, errichtete Lager ist für 10.000 Bewohner angelegt.
Mittlerweile ist das Lager eine eigene, seltsame Welt geworden. Das Syrische Observatorium für Menschenrechte (SOHR) nennt es ein "statelet", einen Kleinstaat.
Laut der US-Publikation The Defense Post sollen nach SDF-Angaben seit 9. Januar 66.000 Personen, "meist Zivilisten", die letzte IS-Zuflucht verlassen haben. Aufgeschlüsselt wird die Zahl so: 37.000 Zivilisten, 5.000 Dschihadisten, 24.000 Familienmitglieder.
Das Lager in al-Hol, wohin am vergangenen Mittwoch noch 3.000 gebracht wurden, zähle 72.000 Bewohner, darunter, so das International Rescue Committee (IRC), 40.000 (!) Kinder. "Die Frauen und die Kinder seien in der "schlimmsten Verfassung", die sie seit Beginn der Krise gesehen haben, wird eine IRC-Mitarbeiterin zitiert. Viele hätten schwere Verletzungen durch die Kämpfe erlitten, Brandwunden und Granatensplitter.
Al-Hol: 40.000 Kinder
Amberin Zaman berichtet für Al-Monitor aus dem Lager, dass nach Angaben der UN-Hilfsorganisation OCHA bis zum 14. März 120 Tote registriert wurden. 80 Prozent davon sind Kinder unter fünf Jahren. Sie starben entweder auf der Anreise oder nach der Ankunft. Viele Kinder leiden an Unterkühlung und Ruhr.
25.000 Kinder seien in einem schulpflichtigen Alter. Die Weltgesundheitsorganisation hätte bisher 65 Tonnen an medizinischer Hilfe herangebracht. Die mobilen medizinischen Einheiten würden täglich 1.300 Konsultationen durchführen. Es gebe Probleme bei der Unterbringung, bei der medizinischen Versorgung und bei der Abfallentsorgung.
Das größte Problem sei die Essensversorgung. Die Verwaltung stößt an Grenzen.
Die internationale Gemeinschaft hebt keinen Finger für uns. Wie sollen wir alleine mit dieser Last fertigwerden? Erst haben wir den IS besiegt und nun erwartet man von uns, dass wir sie ernähren und mit Kleidung versorgen.
Verwaltung, Lager Al-Hol, Al-Monitor
Zu den Versorgungsproblemen kommen Konflikte innerhalb des Lagers. IS-Mitglieder sind aggressiv, nach wie vor fanatisch, was extremistisch-pure Lebensführung, z.B. Burkatragen, angeht. Sie teilen die Welt noch immer in Gläubige und Ungläubige ein.
In sozialen Netzwerken werden Streitigkeiten geschildert, die Fragen zur Rolle der Frauen im IS aufwerfen, die unbedingt vor Gericht gehören.