Syrien - Christen in Angst
Die Staatsform im zukünftigen Syrien ist für Christen von existenzieller Bedeutung
Wenn heute von Syrien gesprochen wird, muss dringend berücksichtigt werden, dass Syrien als einheitliches politisches Gebilde nicht mehr existiert. Auch wenn dieser mehrheitlich arabisch-muslimische Staat Mitglied der UNO ist, kann von einer vollständigen Souveränität dieses Staates nicht gesprochen werden.
Die Lage in dem vom Bürgerkrieg erschütterten Land Syrien ist sehr komplex. Die in einen brutalen Bürgerkrieg gemündete Revolte vom März 2011 führte nach und nach zu einem faktischen Zerfall des Staates. Die Arabische Republik Syrien ist heute (April 2019) in mindestens fünf Machtbereiche eingeteilt.
Der größte Teil des Landes, etwa 58%, ist unter Kontrolle des Regimes von Baschar al-Assad; etwa 27% werden von den "Syrischen Demokratischen Kräften" (SDF), einem Militärbündnis, das von Kurden angeführt wird, kontrolliert; etwa 11% werden von Hai'at Tahrir asch-Scham (HTS), einem Ableger des Terrornetzwerkes al-Qaida, beherrscht; etwa 3% sind von der Türkei besetzt und der Rest wird von den USA und Milizen gehalten.
Der IS hat bis Frühjahr 2019 nahezu alle "seiner" Gebiete entweder an die SDF oder an die syrische Armee verloren. Dementsprechend ist die Lage der Christen im Irak und in Syrien davon abhängig, wer gerade das Gebiet oder die Ortschaft, die von Christen besiedelt ist, beherrscht.
Zwei bis drei Millionen Christen in Syrien bis 2011
Nach Ägypten war Syrien bis zum Ausbruch der Revolte im März 2011 das Land mit der größten christlichen Minderheit im Nahen Osten. Dort lebten zwei bis drei Millionen Gläubige. Diese syrischen Christen sind hinsichtlich ihrer Konfessionen sehr unterschiedlich, da es eine Vielfalt von christlichen Kirchen in Syrien gibt.
Mit etwa einer Million Gläubigen machten die Rum-Orthodoxen den größten Anteil der Christen in Syrien aus. Sie sehen sich allgemein gesagt als Repräsentanten eines arabischen Christentums, das die islamische Kultur als konstitutiven Rahmen akzeptiert. Zum Ausdruck kommt dieses Selbstverständnis in der Liturgie der Rum-Orthodoxen, die ausschließlich auf Arabisch gehalten wird.
Die Syrisch-Orthodoxen dagegen legen im Vergleich zu den Rum-Orthodoxen sehr großen Wert auf die Selbständigkeit ihrer Kirche, was in ihrer Liturgie sichtbar wird, die auf Syrisch gefeiert wird. Dafür wurden sie einst von den Rum-Orthodoxen verfolgt. Viele Syrisch-Orthodoxe, besonders im Norden von Syrien, sind Nachfahren von Geflüchteten.
Nach der Verfolgung und dem Genozid an bis zu 500.000 Christen aller Konfessionen im Gebiet der heutigen Südosttürkei im Ersten Weltkrieg hatten viele Überlebende in Syrien Schutz gesucht. Die 62.000 syrisch-katholischen Christen, deren Kirche mit der römisch-katholischen Kirche uniert ist, stellen eine Abspaltung von der syrisch-orthodoxen Kirche dar.
Weitere Konfessionsangehörige, die von Geflüchteten abstammen und auf syrischem Staatsgebiet lebten/leben, sind die etwa 15.000 Mitglieder der assyrisch-apostolischen Kirche des Ostens sowie die 15.000 Chaldäer, eine Abspaltung von der apostolischen Kirche des Ostens. Die Chaldäer fühlen sich der römisch-katholischen Kirche zugehörig.
Maroniten
Zudem gibt es die Maroniten, deren Zahl mit 49.000 Anhängern heute weit geringer ist, als sie es noch vor Mitte des 19. Jahrhunderts in Syrien gewesen war. Aufgrund von Spannungen zwischen Drusen und Maroniten sowie Massakern 1866 im Raum Damaskus flohen viele Maroniten in den Libanon. In Syrien steht die maronitische Glaubensgemeinschaft heute im Schatten ihrer einst großen Geschichte.
Maroniten wie auch Chaldäer erkennen den römisch-katholischen Papst als ihr Religionsoberhaupt an. Ursprünglich war ihre Liturgie syrischsprachig, aber das Arabische hat die syrische Sprache bis auf wenige Ausnahmen in religiösen Zeremonien und Riten weithin verdrängt. Hinzu kommen noch rund 25.000 Protestanten, deren Kirchen aus europäischen Missionsbemühungen entstanden, sowie 15.000 Angehörige der römisch-katholischen Kirche.
Eine Art Sonderfall stellen die Assyro-Aramäer dar. Diese haben ihre Sprache Aramäisch (Altsyrisch) bewahrt und gelten als indigene Bevölkerung Syriens. Auch sie werden als Christen vom Regime toleriert, sind aber in vielen Fällen als ethnische Minderheit durch regierungsbedingte Zwangsarabisierungsmaßnahmen ihrer historischen altsyrischen bzw. assyrischen Identität, die sprachlich und kulturell definiert ist, beraubt worden. Heute bezeichnen sich daher viele syrische Christen als Araber. Wahrscheinlich ist aber, dass diese christlichen Araber assyrisch/aramäischer Abstammung sind.
Armenier
Auch die Armenier sind Christen und in der Regel Nachfahren von Geflüchteten, nämlich den Überlebenden des Völkermords von 1915 bis 1917, bei dem Hunderttausende, nach armenischen Angaben sogar zwischen 1,5 und zwei Millionen Menschen, im Osmanischen Reich ermordet wurden. Sie sprechen ihre armenische Sprache, in der sie auch ihre Liturgie feiern. Zu der mit Rom unierten armenisch-katholischen Kirche in Syrien, deren Patriarch im Libanon residiert, gehören ca. 21.500 und zu der armenisch-apostolischen Kirche etwa 200.000 Gläubige.
Syrien ist für Armenier bereits seit Jahrhunderten eine Heimat. Das Land diente auch immer als Schutz- und Zufluchtsort. Vor allem während des Genozids an den Armeniern zwischen 1915 und 1917, bei dem bis zu 1,5 Millionen armenische und 500.000 assyrisch-aramäische Christen getötet wurden, flüchteten viele Armenier vor der türkischen Armee nach Syrien.
1918 zählte die armenische Gemeinde hier schätzungsweise 142.000 Menschen. 2011 leben etwa 300.000 Armenier in Syrien, von denen mit 30.000 bis 40.000 Personen die größte Gemeinschaft in der Stadt Aleppo wohnt. Kleinere armenische Gemeinden gibt es in Damaskus, Qamischli und in Qasaab.
Die Armenier in Aleppo sind im syrischen Mosaik der Religionen und Ethnien eine kleine Gruppe, heben sich aber durch ihre aktive Beteiligung am wirtschaftlichen und kulturellen Leben des Landes hervor. Armenier gelten beispielsweise als die besten Handwerker Syriens. Während des Völkermordes 1915 konnten viele Armenier in Syrien gerettet werden.
Viele Armenier bewahren und schützen ihre Religion und Kultur aktiv. Die Armenier leben in einer "perfekten" Parallelgesellschaft: Sie bilden innerhalb ihrer Gruppe eigenständige Gemeinden. Aus politischen und wirtschaftlichen Gründen verließen viele Armenier Ende der 1960er Jahre Aleppo und Qamischli. Die ehemalige Sowjetrepublik Armenien nahm damals zwar viele syrische Armenier auf, doch die meisten wanderten nach Amerika, Europa und Australien aus.
Wegen des blutigen Bürgerkrieges in Syrien hat sich diese Auswanderung weiter intensiviert. Sie könnte das Ende einer Gemeinschaft bedeuten, die bereits seit mehreren Jahrhunderten in Syrien eine Heimat gefunden hat. Die heutige Republik Armenien hatte es in den letzten Jahren mit einer Einwanderungswelle großen Ausmaßes zu tun. Viele syrische Armenier fanden in der Republik Armenien Zuflucht.
Eingeschränkte Rechte, aber relativ frei
Als Monotheisten sind Christen in Syrien "Schutzbefohlene". Ihre Rechte sind aber auch erheblich eingeschränkt. Laut syrischer Verfassung kann kein Christ Präsident werden. Außerdem gibt viele Gesetze, die Christen benachteiligen, insbesondere in den Bereichen Kultur und Schulwesen. Diese Gesetze schränken die freie Entfaltung der kulturellen Eigenständigkeit und Identität der Christen ein bzw. machen sie nahezu unmöglich.
Die Christen konnten ihre Religion bisher dennoch relativ frei ausüben und durch den säkularen Charakter der Arabischen Republik Syrien war ein Leben in Frieden weitgehend möglich. Das Assad-Regime gewährt Christen zumindest das Recht auf freie Religionsausübung und toleriert das Christentum als Glaubensgemeinschaft, auch wenn zu einer weitreichenden Religionsfreiheit mehr gehört.
Die beschriebene Situation der syrischen Christen war seit Beginn des Aufstandes gegen das syrische Regime von schwerwiegenden negativen Veränderungen geprägt. In den vergangenen Jahren sind Christen im gesamten Nahen Osten immer wieder Opfer exzessiver Gewalt geworden. Brennpunkte waren dabei zunächst Ägypten und Irak, aber auch in Syrien kommt es seit Beginn des Aufstandes gegen den Diktator Assad zu gewaltsamen Übergriffen auf Christen.
Aktuell: Zwischen 500.000 bis 700.000 Christen
Wie viele Christen in Syrien heute (2019) leben, kann nur spekuliert werden. Schätzungen sagen, dass die christliche Bevölkerung in Syrien im Vergleich zu 2010 um die Hälfte oder weniger als die Hälfte zurückgegangen ist. Demnach leben nun noch etwa 500.000 bis 700.000 Christen in ganz Syrien.
Eindrücke der Konrad-Adenauer-Stiftung in 2018 zeigten ein etwas positiveres Bild: demnach wird die Zahl der Christen in Damaskus, im Tal der Christen, Latakia und Tartus auf 500.000 bis 750.000 geschätzt.
Christen im Machtbereich des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad
Wie bereits erwähnt, ist Syrien in verschiedene Machtbereiche eingeteilt. Im Folgenden wird die Lage der Christen im Machtbereich von Baschar al-Assad beschrieben. In der "Arabischen Republik Syrien" gab es bis zum Ausbruch der Revolte im März 2011 in den Gebieten, die unter Assads Armee stehen, keine offizielle Staatsreligion, wenngleich der Verfassung nach der Präsident Syriens muslimisch sein muss und islamische Rechtsprechung der Hauptbezugspunkt für die Gesetzgebung ist.
Religionsfreiheit wird in Artikel 3.3 der Syrischen Verfassung garantiert, so die Ausübung der Religionsfreiheit nicht die öffentliche Sicherheit gefährdet. Zudem dürfen Staatsbürger aufgrund ihrer religiösen Weltanschauung nicht diskriminiert werden (Artikel 33.3). Die Verfassung enthält auch rechtliche Mechanismen, um religiöse Gruppierungen zu verbieten, die von der Regierung als "extremistisch" eingestuft werden. Dazu werden neben muslimischen Extremisten ebenso beispielsweise die Zeugen Jehovas gezählt.
Die Mitgliedschaft in salafistischen Organisationen ist rechtswidrig, wobei die Regierung die Kennzeichen für Salafismus nicht näher definiert hat. Dem Gesetz zufolge steht auf Zugehörigkeit zur syrischen Muslimbruderschaft die Todesstrafe. Trotz diskriminierender Gesetze und Regelungen, wie des Verbotes für Christen den Präsidenten Syriens zu stellen, konnten und können Christen unter der Herrschaft Assads ihre Religion in der Arabischen Republik Syrien relativ uneingeschränkt ausüben.
In den vergangenen Jahren wurden sowohl regierungskritische Geistliche, wie der aus Italien stammende Jesuitenpater Paolo dall’Oglio, als auch regierungsfreundliche Bischöfe, wie Mor Gregorius Yuhanna Ibrahim oder Mor Boulos Yazigi aus Aleppo, entführt. Ende 2011 hatte das Assad-Regime den Jesuitenpater Paolo dall’Oglio zur Persona non grata erklärt, nachdem er drei Jahrzehnte um Verständigung zwischen Christen und Muslimen in Syrien bemüht war.
Verbrechen der Al-Nusra-Front
Die Al-Nusra-Front setzte im Oktober 2014 Franziskanerpater Hanna Dschallouf sowie etwa 20 weitere Geistliche fest. Im April 2014 wurde der niederländische Jesuitenpater Frans van der Lugt, der die Aushungerung der Altstadt Homs durch die Regierung anprangert hatte, in Homs ermordet
Ende 2013 wurden 12 syrisch-orthodoxe Nonnen in der Stadt Ma’alula durch die Al-Nusra-Front entführt. Besonders gefährdet ist die christliche Minderheit in den nordsyrischen Gebieten, welche vom IS kontrolliert werden. Dort kam es Ende Februar 2015 in der Provinz Hassaka in mehreren Dörfern zur Verschleppung von über 300 assyrischen Christen.
Auch die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte (SOHR) prangerte zahlreiche Verbrechen gegen assyrische Christen im Nordosten des Landes an, darunter die Exekution von 2.000 assyrischen Christen. In anderen Berichten wird von der Rückeroberung von IS-Stellungen im Nordosten Syriens durch kurdische Kämpfer berichtet, die dabei 14 von assyrischen Christen bewohnte Dörfer befreiten.
Exodus
"Die christliche Gemeinschaft in Syrien wie auch in weiten Teilen des Nahen Ostens wird zu einem Schatten ihrer selbst." Zu dieser Einschätzung gelangte der International Religious Freedom Report des US-Außenministeriums für das Jahr 2013 und belegte seine Aussage exemplarisch mit Zahlen für die Stadt Homs: Demnach zählte die christliche Gemeinschaft in Homs vor Ausbruch des bewaffneten Konfliktes 160.000 Angehörige, während für das Jahr 2013 nur noch einige Tausend registriert wurden.
In Aleppo machen Christen die größte religiöse Minderheit aus. Schon vor 2011 lebte in Aleppo eine große armenisch-christliche Gemeinschaft. Viele Christen sind in den vergangenen Monaten vor den Luftangriffen aus den am stärksten betroffenen Stadtteilen geflohen. Dabei stieg die Zahl der Binnenmigranten aus Homs, Damaskus und Aleppo in den Küstengebirgen, aber auch die Zahl der Geflüchteten.
Vor einem Exodus der christlichen Gemeinde in Syrien hatten deutsche Menschenrechtsorganisationen bereits im August 2013 gewarnt und von der deutschen Bundesregierung gefordert, bei ihren außenpolitischen Entscheidungen ein besonderes Augenmerk auf den Schutz christlicher Minderheiten zu legen.
Das "Tal der Christen"
Immer wenn die Rebellen vorrückten, flohen Christen zu Zehntausenden entweder in die Gebiete unter Assads Kontrolle im Westen des Landes oder in die Regionen, die von Kurden beherrscht werden, im Norden. Eine Region, in der die Christen Zuflucht fanden ist die sogenannte Wadi al-Nasara (deutsch: Tal der Christen). Diese Region im Westen Syriens, nahe der libanesischen Grenze, gehört administrativ zu Homs.
Die meisten Menschen, die dort leben, sind griechisch-orthodoxe Christen. Rund 150.000 Christen leben in den rund 40 Dörfern des "Tals der Christen". Das Tal "Wadi al-Nasara" gilt als historische Hochburg der syrischen Christen. Hier haben in den vergangenen Jahren zehntausende Binnenflüchtlinge aus Homs und anderen Städten und Provinzen Zuflucht gesucht.
Nach Nasra zum Beispiel, eines der christlichen Dörfern, kamen seit mehreren Jahren ungefähr 100 geflüchtete Familien, welche nun in diesem kleinen Dorf leben. Viele Christen flohen in die mehrheitlich von Alawiten1 besiedelten Ortschaften an der Mittelmeerküste Syriens. Viele Christen haben in Latakia, an der Küste, ein Zuhause gefunden. Vor dem Bürgerkrieg hatte Latakia eine Bevölkerungszahl von 600.000. In den Jahren bis 2018 erhöhte sich die Bevölkerungszahl auf 2 Millionen. In Aleppo lebten 150.000-170.000 Christen (2010). Ein Drittel floh in das "Tal der Christen" und ein weiteres Drittel ins Ausland.
Die syrische Rebellion und die Christen
Während sich 2011 einige Christen an den Protesten beteiligten, ging das Gros der christlichen Bevölkerung aufgrund der raschen Militarisierung, Radikalisierung und Islamisierung des Aufstandes sehr früh auf Distanz.
Ungeachtet dessen befinden sich unter den bekanntesten Politikern der von Islamisten unterwanderten Opposition auch einige Christen. Das Assad-Regime stellt sich selbst als Schutzmacht der Christen dar und unterstreicht seine Verbundenheit mit der christlichen Glaubensgemeinschaft etwa durch medienwirksame Auftritte wie Assads Auftritt im bekannten christlichen Wallfahrtsort Maaloula im April 2014.
Im Verlauf des an Schärfe zunehmenden Krieges gab es immer mehr Befürchtungen, dass die als eher "regimefreundlich" geltende Haltung von Christen sie zur Zielscheibe bewaffneter nicht-staatlicher Gruppen macht. Diese Ängste werden von dem Regime auch aktiv instrumentalisiert. Unter dem Assad-Regime war die Situation der syrischen Christen ruhig. Sie erfuhren weitgehende Toleranz und waren keiner gezielten religiösen Verfolgung ausgesetzt.
Assad hatte sich selbst als "Beschützer der alawitischen, christlichen und sonstigen Minderheiten" erklärt, die er vor radikalen Muslimen beschützen würde. Manche Geistliche bezeichneten dies jedoch bloß als machtpolitische Geste, der keine Taten folgten. Offen wird sich jedoch nicht getraut, gegen das Regime zu sprechen, weil Christen stärkere Repressionen befürchten. So appelliert auch die Kirchenführung - jedenfalls offiziell - an ihre Gläubigen, sich aus politischen Konflikten herauszuhalten, um nicht zwischen den politischen Blöcken aufgerieben zu werden.
Umfragen ergaben, dass eine deutliche Mehrheit der syrischen Christen zu Beginn des Konfliktes hinter Assad stand. Seit Beginn der Proteste sind jedoch auch tausende syrische Christen dem Konflikt zu Opfer gefallen. Dabei ist oft unklar, ob die Taten von Anhängern des Regimes und seinem Sicherheitsapparat oder von radikalen Muslimen aus den Reihen der islamistischen Opposition ausgingen.
Die GfbV als eine Menschenrechtsorganisation, die für die Rechte verfolgter oder bedrohter ethnischer, sprachlicher und religiöser Minderheiten eintritt, ist in großer Sorge, vor allem über das Schicksal der nicht-arabischen und nicht-sunnitisch-muslimischen Bevölkerung Syriens. Mindestens 45 Prozent der syrischen Bevölkerung besteht aus Angehörigen der ethnischen und religiösen Minderheiten.
Bedrohung durch totalitäre islamistische Ideologie
Auch wenn sich Christen und andere Minderheiten der Assad-Diktatur nicht aktiv widersetzen, waren Minderheiten in Syrien mit dieser Unterdrückungspolitik nicht "einverstanden". Anfänglich waren die Proteste gegen Assad auch mit Hoffnungen der Minderheiten verbunden. Nun haben die ethnischen und religiösen Minderheiten Syriens jedoch Anlass zu befürchten, dass es ihnen in einem neuen Syrien unter der von der Türkei oder Katar unterstützten Opposition kaum besser ergehen wird.
Mit der Verfolgung der wenigen Christen in den Regionen, die von pro-türkischen Rebellen beherrscht werden, gingen alle Hoffnungen auf einen demokratischen Wandel in Syrien verloren. Nun sind die syrischen Minderheiten einer neuen Bedrohung ausgesetzt, nämlich der totalitären islamistischen Ideologie, die Dschihadisten aus der ganzen Welt mit Gewalt durchsetzen wollen und die innerhalb der syrischen sunnitischen Opposition teilweise auf fruchtbaren Boden fällt.
Die Mehrheit der etwa 21 Millionen Syrer ist arabisch und bekennt sich zum Islam. Dabei ist die Bevölkerung zumeist der sunnitischen Glaubensrichtung des Islam zuzurechnen. Zur schiitischen Minderheit werden die Drusen, die Ismailiten sowie die Alawiten, zu denen auch Präsident Bashar al-Assad gehört, gezählt.
Die nicht-muslimische Bevölkerung Syriens besteht vor allem aus Christen und aus Yeziden. Diese religiösen Minderheiten leben in ständiger Angst und Ungewissheit. Die schleichende Radikalisierung der Opposition ist eine große Gefahr für religiöse Minderheiten, da die radikalen Islamisten Angehörige solcher Bevölkerungsgruppen meistens als "Ungläubige" ansehen.
Verlierer des Krieges
Anfang Dezember 2013 wurden zwölf syrisch-orthodoxe Nonnen aus ihrem Kloster entführt, nachdem islamistische Gruppen die Stadt Maalula einnahmen. Obwohl ein Video veröffentlicht wurde, in dem die Nonnen aussagten, von den Islamisten in Sicherheit gebracht worden zu sein, sagte die Oberin des Klosters aus, die Frauen würden von den Islamisten als "menschliche Schutzschilde" genutzt. Die Nonnen wurden Anfang März 2014 schließlich frei gelassen.
Als am 16. Dezember 2013 das christliche Dorf Kanayé besetzt wurde, zwangen Dschihadisten die Bevölkerung unter Drohung eines Blutbades dazu, sich an islamistische Gesetze zu halten. Zwangskonvertierungen wurden angedroht. Damit wiederholt sich ein Muster der Eroberung welches auch schon in benachbarten Dörfern eingesetzt wurde.
Des Weiteren wurde berichtet, dass islamistische Gruppen, deren Ziel es ist, Christen endgültig aus Syrien zu treiben, Kirchen zerstört hätten. Dabei seien geistliche Bücher und Ikonen verbrannt sowie Kreuze auf den Kirchen mit islamistischen Fahnen ersetzt worden. Christen und andere Minderheiten werden so immer mehr zu den großen Verlierern des Krieges.
Während nahezu alle anderen Gesellschafts- oder Religionsgruppen teils massive Unterstützung aus dem Ausland erhalten, wird die christliche Bevölkerung de facto von den Kirchen im Westen weitgehend im Stich gelassen.
Sie müssen ohnmächtig mit ansehen, wie sie immer mehr zwischen die Fronten geraten und dabei ihre kulturellen, gesellschaftlichen und religiösen Einrichtungen zerstört werden. Da sie, mit Ausnahme einer bewaffneten christlichen Miliz der Assyrer/Aramäer in der Provinz al-Hasakeh, die einzige unbewaffnete Bevölkerungsgruppe darstellen und sie durch die mittlerweile destabilisierte Staatsgewalt keinerlei Schutz erwarten können, trauen sich viele Christen nicht einmal mehr auf die Straße.
Kinder gehen oft nicht mehr zur Schule, junge Männer verstecken sich aus Angst, zum Militärdienst eingezogen zu werden, und selbst gut ausgebildete Frauen geben oft ihren Job auf. Denn die Gefahr ist zu groß, auf dem Weg zur Arbeit auf offener Straße entführt zu werden. Trotz der "Neutralität" der Christen in Syrien ist das Elend des Krieges längst bei ihnen angekommen. Die allgegenwärtige Bedrohung veranlasst viele von ihnen dazu, ihr Zuhause aufzugeben und zu fliehen.
Radikalisierung der syrischen Opposition
Vor Ausbruch des Aufstandes gab es keine legal organisierte Opposition in Syrien, da das Regime eine solche nicht erlaubte und unterdrückte. Nachdem die ersten friedlichen Proteste blutig niedergeschlagen worden waren, formierte sich aber eine Opposition, die vor allem durch den Willen geeint ist, Präsident Baschar al-Assad und sein Regime zu stürzen.
Auch wenn die arabischen Golfstaaten (Saudi-Arabien, Katar), die Türkei, die USA, Deutschland sowie Großbritannien versuchten, eine gemeinsame Opposition gegen Assad zu bilden, gab es zu keinem Zeitpunkt eine einheitliche Opposition. Die erwähnten Staaten unterstützen mit unterschiedlicher Intensität die im Jahre 2012 gegründete "Nationalkoalition syrischer Revolutions- und Oppositionskräfte" (Die Syrische Koalition - al-itilaf).
Von einigen Staaten wurde diese Gruppe sogar als "einzige legitime Vertreterin des syrischen Volkes" anerkannt. Je länger der Konflikt jedoch dauerte, desto mehr Brüche wurden innerhalb der Rebellion sichtbar. Auch wenn einige Angehörige der Minderheiten wie Christen, Kurden, Assyro-Aramäer, Alawiten und Drusen in der "Syrischen Koalition" vertreten sind, spielte und spielt die syrische Muslimbruderschaft dort die dominanteste Rolle.
Es konnte und kann de facto ohne Zustimmung der Vertreter der Muslimbrüder kaum eine wichtige Entscheidung getroffen werden. Diese koordinieren ihre Entscheidungen mit der türkischen Regierung sowie mit dem Golfstaat Katar.
Nach dem Beginn der direkten russischen Militärintervention am 30. September 2015 in Syrien kam es zu Konflikten zwischen der Türkei und Russland. Aus Angst, dass Russland die syrischen Kurden unterstützen könnte, ging die Türkei eine Kooperation mit Russland ein. Bald entstand eine Dreier-Kooperation: Russland, Iran und die Türkei. Während die Russen mit Luftangriffen Assad den Rücken stärken, unterstützen die Türkei die syrischen Islamisten.
Nach der saudischen Militärintervention im Jemen 2015 gewann die Türkei in Syrien an mehr Einfluss. Die Saudis mussten sich mehr um Jemen "kümmern". Daher war die "Syrische Koalition" und andere syrische Gruppen, die in der Türkei ansässig sind, sowohl finanziell als auch logistisch weitgehend vom Gastland Türkei abhängig. Auch wegen der zunehmenden politischen Differenzen zwischen der Türkei und Saudi-Arabien, ist der Einfluss der Saudis auf die syrischen Islamisten zurückgegangen.
Für diese Entwicklung gibt es vor allem zwei Gründe: Die Saudis lehnen eine Unterstützung der Muslimbruderschaft ab und haben keinen direkten Zugang zu Syrien. Die saudische sowie die westliche Hilfe für die Islamisten ging in der Regel über die Türkei. Das ist der Grund, warum letztendlich die Türkei bestimmt hat, welche Gruppe in Syrien gestärkt oder geschwächt wird.
Daher trägt vor allem die Türkei die Verantwortung dafür, dass IS und andere radikalislamistische Gruppen in Syrien und im Irak gestärkt worden sind. Die Unterstützung, die SNS zusätzlich von Ländern wie den USA, Frankreich und Deutschland erhält, läuft in der Regel auch über die Türkei. Von dieser westlichen Hilfe profitieren vor allem die syrischen Islamisten und die islamistische Regierung von Erdogan.
Auch wenn sich die Muslimbruderschaft als "islamisch-moderat" bezeichnet, gehen viele Beobachter davon aus, dass sie im Falle eines Erfolges gegen das Regime die Einführung der Scharia fordern wird. Genau davor hatten die Minderheiten Angst. Daher distanzierten sich viele von ihnen von den Muslimbrüdern. Wenn Christen und andere Minderheiten heute vor die Wahl gestellt würden, würden sie sich mehrheitlich für die Assad-Diktatur und nicht für das Scharia-Recht der Islamisten entscheiden.
Ein Vorfall zeigt die Gefahr, die Christen und anderen religiösen Minderheiten droht, exemplarisch. Von den beiden christlichen Bischöfen, die am 22. April 2013 von einer bewaffneten islamistischen Gruppe entführt wurden, fehlt bis heute jede Spur.
Ibrahim Hanna, Bischof der syrisch-orthodoxen Kirche von Aleppo, und Bischof Boulos Yazigi von der griechisch-orthodoxen Kirche wurden in der Nähe von Aleppo verschleppt. Ihr Fahrer, ein Diakon, wurde von den Entführern bei dem Überfall erschossen. Auch hier kommt die islamistische Prägung der syrischen Opposition und vor allem der Freien Syrischen Armee zum Tragen. Für viele radikale Islamisten sind Christen nämlich Ungläubige. Gewalt gegen solche Ungläubige betrachten sie häufig als legitim.
Die Folgen des Bürgerkrieges und der Radikalisierung der Rebellion werden am Beispiel der christlichen Minderheit vielerorts sichtbar. Zum einen häufen sich die Berichte über grausame Hinrichtungen, gezielte Ermordungen, Entführungen und Vergewaltigungen von Christen und Angehörigen anderer Minderheiten durch radikale Islamisten, zum anderen verlassen immer mehr Minderheiten aus Angst das Land.
Auch die Neutralität christlicher Führungspersönlichkeiten während der Rebellion, die dazu dienen sollte, die Gläubigen nicht zwischen die Fronten geraten zu lassen, birgt Gefahren. Schon jetzt werden Verbrechen an ihnen damit gerechtfertigt, dass sie "nicht auf Seiten der Revolution" und somit vermeintlich auf Seiten des Regimes stehen.
Falls am Ende des Bürgerkriegs der Aufbau eines islamischen Staates stehen sollte, muss befürchtet werden, dass sich immer mehr Christen Syriens zur Flucht gezwungen fühlen, oder dass sie vertrieben werden. Das Leben eines christlichen Alltags dürfte dann fast unmöglich und eine Diskriminierung derer, die sich nicht assimilieren bzw. konvertieren lassen, nicht zu verhindern sein.
Christen im Machtbereich der syrischen Islamisten und unter türkischer Besatzung
Wie bereits erwähnt, flohen Christen, immer wenn die Rebellen vorrückten, entweder in die Gebiete unter der Kontrolle der Regierungstruppen von Assad oder in die von Kurden beherrschten Regionen. Die syrischen islamistischen Rebellen beherrschen einige Gebiete im Norden von Syrien wie Azaz, Jarabulus, Al-Bab und Afrin. Alle diese Gebiete gehören administrativ zur Provinz Aleppo.
Hinzu kommt die Provinz Idlib sowie Teile der Provinzen Hama und Latakia, die von syrischen Islamisten sowie von der Türkei besetzt werden. Die Türkei behauptet zwar, dass diese Regionen unter Kontrolle der syrischen Opposition stehen, faktisch hat aber die Türkei die eingeschränkte Herrschaft dort.
Daher handelt es sich bei diesen Regionen, insbesondere Afrin, um syrische Staatsgebiete, die von der Türkei völkerrechtswidrig besetzt werden. Mit Ausnahme von Afrin, was hauptsächlich von Kurden bewohnt war, handelt es sich bei diesen Gebieten in der Regel um Regionen, die mehrheitlich von arabischen Sunniten besiedelt werden.
Idlibs Christen lebten in der gleichnamigen Provinzhauptstadt und in einigen Dörfern wie Yacoubiya, Ghassania, Quenya und El Jadida. Auch in der Stadt Dschisr asch-Schughur lebten bis 2011 einige Christen. Vor dem Vorrücken der syrischen Rebellen, FSA, Al Nusra-Front oder IS, sind die meisten Christen in die Regionen unter der Kontrolle von Assads Truppen geflohen.
Auch wenn sich die FSA als moderat bezeichnete, ein großer Unterschied zwischen dem Verhalten ihrer Kämpfer gegenüber Christen und dem Verhalten der Mitglieder der der Al Nusra Front oder des IS war nicht erkennbar. Wie viele Christen dort lebten ist nicht bekannt. Man geht von etwa 12.000 Christen aus, die in der ganzen Provinz lebten. Verschiedenen Quellen zufolge haben nahezu alle Christen Idlib verlassen.
Ende des christlichen Lebens unter der türkischen Besatzung
Wie bereits erwähnt, leben kaum Christen in den Gebieten, die von den syrischen Islamisten und dem türkischen Militär beherrscht werden. Afrin, eine syrisch-kurdische Region, war eine Oase der Glaubensfreiheit. Mit der Besatzung Afrins durch die türkische Armee im März 2018 wurde die jüngste christliche Gemeinde im Nahen Osten zerschlagen.
Fast alle Christen sind geflohen oder wurden vertrieben. Dort treiben jetzt die mit der Türkei verbündeten Islamisten ihr Unwesen. In Afrin herrscht jetzt faktisch das islamische Scharia-Recht. Das trifft besonders Frauen und Andersgläubige hart. Doch wer sich dem nicht unterwirft, wird drakonisch bestraft. Afrin beherbergte außer sunnitischen Kurden auch kurdische Yeziden, Aleviten/Alawiten sowie Christen.
Im Februar 2015, als ein GfbV-Mitarbeiter Afrin besuchte, lebte dort nur noch ein Armenier mit seinem Sohn. Da die Region im Norden und Westen nahezu vollständig von der Türkei und im Süden und Osten von syrischen islamistischen Rebellen abgeriegelt war, durften sich diese Armenier nur noch innerhalb von Afrin bewegen.
Die anderen Christen in Afrin waren in den vergangenen Jahren zum Islam konvertiert. Laut der Evangelical Christian Union Church gab es vor dem Einmarsch der türkischen Armee ungefähr 200 bis 250 christliche Familien in Afrin (etwa 1.200 Personen). All diese Christen mussten mit dem Einmarsch der türkischen Truppen aus Afrin fliehen. Dort leben jetzt keine Christen mehr.
Christen im Machtbereich der SDF
Syrien ist ein multiethnisches Land, obwohl die große Mehrheit arabisch ist. Die größte ethnische Minderheit stellen die Kurden dar. Die syrischen Kurden sind nun auch zu einer eigenständigen Konfliktpartei geworden, auch weil viele von ihnen allein kurdische Interessen im Blick haben und eine autonome Selbstverwaltung ihrer Siedlungsgebiete nach Vorbild der autonomen Region Kurdistan im Irak anstreben.
Die syrischen Kurden sind in weiten Teilen militärisch organisiert, kämpfen aber im Bürgerkrieg mehrheitlich auf keiner Seite. Sie wurden in den vergangenen Jahrzehnten vom Regime unterdrückt und sind daher keine Verbündeten von Präsident Assad.
Allerdings kommt es auch nicht zu einer Allianz mit der restlichen syrischen Opposition, auch weil diese von der Türkei unterstützt wird und das Verhältnis zwischen Kurden und der Türkei vorbelastet ist durch die Jahrzehnte Verfolgung der Kurden durch alle Regierungen in der Türkei, wo auch die in Deutschland verbotene kurdische PKK seit 1984 aktiv ist.
Der völkerrechtswidrige Angriffskrieg der Türkei gegen die syrisch-kurdische Region Afrin im äußersten Nordwesten des Landes führt dazu, dass die Mehrheit der Kurden in Syrien endgültig mit der protürkischen syrischen Opposition gebrochen hat. Auch die Kurden werden sich mehrheitlich für die Assad-Diktatur entscheiden und nicht für eine Herrschaft der Islamisten, die von der Türkei unterstützt werden.
Nach der Besetzung Afrins durch die Türkei im März 2018 beherrscht das von Kurden angeführte Militärbündnis "Syrische Demokratische Kräfte" (Englisch Syrian Democratic Forces, kurz: SDF) den Nordosten von Syrien, vom Euphrat bis zum Tigris. Im diesem Gebiet, in der Provinz al-Hasakeh, sind die christlichen Assyro-Aramäer zu Hause.
Hier befanden sich in den letzten Jahren auch viele Christen aus anderen Teilen des Landes. Dieses Gebiet ist heute von besonderer Bedeutung: Kurdische Organisationen haben das "Kurdengebiet" im Norden des Landes in drei Kantone unterteilt - ohne Absprache oder Zustimmung der Regierung in Damaskus oder anderer Staaten - und im Januar 2014 für autonom erklärt.
In Dschasira, so wird die Provinz al Hasakeh genannt, erhalten Assyro-Aramäer, die in dieser Region gleichsam auf eine lange Tradition zurückblicken können, lange nicht gekannte Rechte: Ihre nahezu ausgestorbene Sprache Aramäisch wurde erstmalig in der Geschichte der Region als offizielle Sprache, auch im Schulunterricht, anerkannt.
Darüber hinaus dürfen sie in Jazira ihre Religion frei ausüben und müssen sich vor keiner Diskriminierung fürchten. Eine Verfassung soll diese Rechte absichern. Aus diesen Gründen ist die von den islamistischen Gruppen regelmäßig attackierte Region für die Assyro-Aramäer Syriens von zentraler Bedeutung, müsste aber für ihr Überleben dringend Unterstützung von außen erhalten.
Bedarf gibt es hier insbesondere beim Aufbau der schulischen Infrastrukturen, bei der Wasserversorgung und dem Agrarsektor. Doch nicht alle christlichen Organisationen wollen mit der von Kurden dominierten autonomen Selbstverwaltung kooperieren. Oft fürchten die Christen Sanktionen seitens des Assads Regimes oder der Türkei, wenn sie mit der "kurdischen Verwaltung" zusammenarbeiten.
Eng integriert in der autonomen Selbstverwaltung ist die christliche Partei Suryoye-Einheitspartei (Syrian Union Party, SUP). Diese Partei hat auch eigene Miliz, die in den SDF eingegliedert ist. Die SUP stellt auch den Vize-Präsidenten des Exekutiven Rates der Autonomiebehörde im Kanton Jazira.2 Eine andere christliche Organisation, die Assyrische Demokratische Organisation (ADO), ist in der Opposition. Während eines Aufenthaltes in al-Hasakeh 2019 bzw. in Qamischli trafen GfbV-Mitarbeiter auch Vertreter der ADO. Die ADO ist eine assyrische Organisation in Syrien sowie in Europa, die im Jahre 1957 gegründet wurde.
Die Organisation kämpft nach eigener Darstellung für den Schutz und die Erhaltung der Interessen und Minderheitenrechte des assyrischen Volkes. Sie engagiert sich in der von den syrischen Islamisten unterwanderten "Syrischen Nationalen". Im Gegensatz zur ADO arbeitet die SUP eng mit der PYD zusammen und ist an allen politischen, administrativen und militärischen Strukturen der Autonomiebehörde in Nordsyrien beteiligt.
In al-Hasakeh besuchten GfbV-Mitarbeiter in den letzten Jahren mehrmals die Zentrale der christlichen Miliz Sutoro. Hierbei handelt es sich um eine christliche aramäisch-assyrische Miliz, die im Nordosten Syriens, vor allem in der Provinz al-Hasakeh, aktiv ist. Sie ist der SUP untergeordnet. Sutoro soll über mindestens 1.000 Kämpfer verfügen. Um das Jahr 2011 sollen in der gesamten Provinz al-Hasakeh nach eigenen Angaben, 150.000 Christen gelebt haben, von denen seitdem mindestens die Hälfte ausgewandert ist.
Die Staatsform im zukünftigen Syrien ist für Christen von existenzieller Bedeutung. Das ist der Grund, warum viele Christen in Nordsyrien die autonome Selbstverwaltung unterstützen. Viele oppositionelle Gruppen wollen "mehr Islam" in allen Strukturen des syrischen Staates. "Wir wollen aber ein demokratisches, pluralistisches, dezentrales, säkulares System in Syrien, das die Rechte alle Minderheiten garantiert", sagte Abu Al-Majd, Angehöriger der christlichen Sutoro-Miliz aus al-Hasakeh.3
Die Selbstverwaltung in Nordsyrien garantiert die sprachlichen und kulturellen Rechte der christlichen Assyrer/Chaldäer/Aramäer. Die staatlichen Behörden der autonomen Selbstverwaltung verwenden in der Regel drei Sprachen: Arabisch, Kurdisch und Aramäisch. Diese Gleichberechtigung ist sehr wichtig, besonders für Aramäisch.
Diese Sprache, die zu den bedrohten Sprachen gehört, findet in Rojava immer mehr Beachtung. Auch wenn Christen zahlenmäßig in der Minderheit sind, ist Aramäisch als amtliche Sprache in der Region eingeführt worden. Zum Beispiel findet man auf Schildern der Behörden der Autonomiebehörde auch Angaben auf Aramäisch. Auch in den christlichen Dörfern stehen mittlerweile dreisprachige Straßenschilder.
Hin und wieder kommt es zu Streitereien zwischen Christen, die mit der autonomen Selbstverwaltung arbeiten und denjenigen, die gegen die Autonomie sind. Im Sommer 2018 eskalierte der sogenannte "Schul- und Sprachenstreit" in der Region.
Auf Drängen der SUP veranlasste die "Autonome Selbstverwaltung" in der Region Dschasira (Nordsyrien), alle christlichen Privatschulen, die von verschiedenen christlichen Kirchen sowie von Privatpersonen, Angehörigen der assyro-aramäischen und armenischen Minderheit in der Provinz Al-Hasaka im Nordosten von Syrien geführt werden, zu registrieren.
Mit dieser Entscheidung sollte sich die Aramäische Sprache im Unterricht, der Verwaltung und in den Lehrmaterialien an diesen Privatschulen durchsetzen. Diese Lehrmaterialien sind aber vor der Regierung in Damaskus nicht anerkannt. Auch die Zeugnisse dieser Schulen hätte die Regierung in Damaskus nicht anerkannt. Daher wehrten sich die Privatschulen gegen eine Registrierung bei der autonomen Verwaltung.
Es kam auch zu Demonstrationen der Christen gegen die Schulpolitik der Autonomiebehörde. Die Privatschulen befürchteten außerdem eine gewisse Ideologisierung der Lehrmaterialien durch die christliche Organisation SUP oder durch die in Nordsyrien regierende "kurdische"4 Partei der Demokratischen Union (PYD). Die GfbV wandte sich damals an die Autonomiebehörde in Nordsyrien mit der Bitte, diesen Streit im Interesse aller Beteiligten zu lösen. Auch das Oberhaupt der syrisch-Orthodoxen Kirchen, Patriarch Ignatius Ephräm II. Karim, vermittelte in dem Streit.
Die Flucht der Christen aus Syrien
Wenn Christen aus Syrien ins Ausland fliehen, kommen zuerst die Nachbarländer Libanon, Jordanien oder Irak in Frage. Ein Grund, warum viele Christen in diese Länder fliehen, sind ihre Verbindungen zu den "Mutterkirchen", die ihre Mitglieder in den Ländern haben. Im Libanon, zum Beispiel, angekommen, suchen die Flüchtlinge Hilfe bei den jeweiligen Kirchen, wenn die im Libanon vorhanden ist.
Da der libanesische Staat befürchtet, in den blutigen syrischen Bürgerkrieg hineingezogen zu werden, erhalten die syrischen Geflüchteten oft nicht die notwendige Hilfe vom der libanesischen Regierung. Diese wollte zunächst auch keine Camps für Geflüchtete einrichten, weil sie der Annahme war, dass sich diese Lager in Hochburgen von Rebellen verwandeln könnten.
Da außerdem der Großteil der Geflüchteten Muslime war, trauten sich viele Christen nicht, sich für Hilfsprogramme zu registrieren, da sie befürchten, an islamistische Gruppen verraten werden zu können. Spürbar war diese Angst selbst dort, wo Aufnahmestaaten wie die Türkei, Lager speziell für christliche Flüchtlinge einrichteten.
Stattdessen zogen es die Flüchtlinge - wohl nicht immer ganz freiwillig - vor, in die Dörfer des Umlandes auszuweichen und bei den dort ansässigen christlichen Familien unterzukommen. Dies wird von den Gastgebern aber nicht als Dauerlösung erachtet.
Problematisch ist auch, dass es durch die weite Zerstreuung der Geflüchteten keine Möglichkeit einer zentralen Informationsversorgung gibt, wie etwa über mögliche Asylangebote.
Handlungsempfehlungen und Forderungen
An die Autonome Selbstverwaltung in Nordsyrien und die SDF
1. Es müssen sofort neue und bedingungslose Gespräche zwischen allen politischen Parteien einschließlich dem KNCS5, der Nationalen Allianz der kurdischen Parteien6 und der kurdischen Peşverû-Partei7 sowie der ADO über die Erweiterung der Strukturen der autonomen Selbstverwaltung aufgenommen werden. Eine breite politische Basis der Selbstverwaltung wird sowohl die Überlebenschance von Rojava erhöhen als auch die Demokratie und Menschen- und Minderheitenrechte stärken.
2. Es muss Sorge dafür getragen werden, dass die Arbeit der Behörden in Nordsyrien transparenter wird. Ohne Transparenz kann eine Verwaltung nicht lange erfolgreich funktionieren. 3. Es muss dafür gesorgt werden, dass das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung sowie die Pressefreiheit vollständig gewährleistet werden.
An die deutsche Bundesregierung
Die deutsche Bundesregierung leistet seit Jahren Hilfe an die syrische Opposition. Oft wird die finanzielle Hilfe über die die Türkei oder von der Türkei aus geleistet. Daher fordert die GfbV von der deutschen Bundesregierung, sich sowohl bei der türkischen Regierung als auch bei den syrischen islamistischen Gruppen, die Hilfe aus Deutschland erhalten, dafür einzusetzen, dass,
- die Gewalt durch islamistische Kampfverbände der Opposition gegen die Zivilbevölkerung, insbesondere gegen Christen und andere Minderheiten eingestellt wird.
- alle oppositionellen Gruppen die Einhaltung der Menschenrechte garantieren. Oppositionelle Gruppen müssen in den von ihnen kontrollierten Gebieten die Meinungs- und Demonstrationsfreiheit und Menschenrechte für alle gewährleisten. Sie müssen freien Zugang für internationale und lokale Kommissionen erlauben, die die Gefängnisse, die sie unterhält, untersuchen wollen.
- die Verantwortlichen für schlimmste Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen zur Rechenschaft gezogen werden.
Ferner wird die deutsche Bundesregierung aufgefordert,
- dafür zu sorgen, dass der türkische Angriffskrieg und die völkerrechtswidrige Besetzung in Afrin international verurteilt werden; die türkische Armee muss sich aus diesem Gebiet und aus anderen Teilen Syriens zurückziehen. Die Politik der Türkei sorgt für mehr Instabilität, mehr Konflikte, mehr Geflüchtete und vor allem mehr radikalen Islam in Syrien. Der autonome Status von Afrin innerhalb Syriens muss wiederhergestellt werden.
- dafür zu sorgen, dass die Zivilbevölkerung in ganz Syrien ausreichend mit Medikamenten und Lebensmitteln versorgt wird. Die Zivilbevölkerung muss vor Übergriffen geschützt werden.
- alle Pläne in Kooperation mit anderen westlichen Regierungen, in Syrien militärisch zu intervenieren, nur dann in Betracht zu ziehen, wenn ein vollständiges Konzept für die Lösung der bestehenden innersyrischen Konflikte "auf dem Tisch liegt". Die Minderheiten und die gesamte Zivilbevölkerung müssen nicht nur vor Assads Luftwaffe, sondern auch vor marodierenden bewaffneten Gruppen jeglicher Couleur vor Ort geschützt werden. Die Bevölkerung in Syrien darf nach einem militärischen Eingreifen nicht ihrem Schicksal überlassen werden, wie etwa in Somalia.
- die Unterstützung für jegliche oppositionellen Gruppen in Syrien daran zu knüpfen, dass in einer neuen Verfassung die sprachlichen, kulturellen und administrativen Rechte der Assyro-Aramäer, Kurden, Armenier und anderer ethnischen Minderheiten sichergestellt werden. Christen, Yeziden, Alewiten und Drusen müssen vollständige Glaubensfreiheit genießen.
- so schnell wie möglich eine internationale Syrienkonferenz einzuberufen. Auf dieser Konferenz muss ein Friedensprozess angestoßen werden, an dem alle Syrer, neben der Opposition und dem Regime auch alle Minderheiten, beteiligt sind. Außerdem müssen alle ausländischen Akteure an einer konstruktiven Lösung des Konflikts mitarbeiten.
- dafür zu sorgen, dass die Zivilbevölkerung auch im autonomen selbstverwalteten Nordsyrien humanitär unterstützt wird, insbesondere bei der Bereitstellung von Trinkwasser und Strom. Auch die zivilgesellschaftlichen Hilfsorganisationen, die sich in Nordsyrien engagieren, sollten verstärkt finanziell unterstützt werden.
- dazu beitragen, dass die Konflikte unter kurdischen Parteien sowie unter Kurden und Assyrern/Aramäern friedlich und im Sinner aller Beteiligte gelöst werden.
- die türkische Regierung dazu zu bewegen, dass Grenzübergänge nach Nordsyrien, Afrin, Kobani und Qamischli dauerhaft für Personen, Handel und vor allem humanitäre Hilfe geöffnet werden.
- die von der türkischen Regierung beabsichtigte "Schutzzone" in Nordsyrien nicht zu unterstützen. Stattdessen sollte sich Ankara um einen Ausgleich mit den Christen und Kurden in Nordsyrien bemühen.
Der Autor ist Nahostreferent der Gesellschaft für bedrohte Völker (GbV).