Syrien: Die Schreie der Gefolterten
Wenn Dschihadisten Freunde gefangen nehmen und wie sich das zur Berichterstattung über das Land fügt
In der großen Öffentlichkeit wird Folter in Syrien mit dem Regime Baschar al-Assad gleichgesetzt. In einem aktuellen Interview bezichtigt der US-Journalist Bilal Abdul Kareem die Miliz HTS (Hayat Tahrir asch-Scham) Folterpraktiken in ihren Gefängnissen in Idlib. Sechs Monate war der Journalist in Einzelhaft in einem HTS-Gefängnis und hörte fast jeden Tag in der Woche Schreie von Gefolterten in anderen Bereichen.
Das Besondere daran ist nicht eine Aufrechnung. Kareems Aussagen zu den Schmerzensschreien, die er "ein paar Meter entfernt" gehört hat, werden, auch wenn sie aktuell in der bekannten Publikation Middle East Eye veröffentlicht sind, kaum ein derart großes Publikum erreichen, dass sich daraus ein politischer Kipppunkt der Wahrnehmung der Lage in Syrien ergibt. Auch ist das Ausmaß der Folterungen, die von der Regierung Syriens angeordnet wurden und werden, nicht durch solche Erfahrungen im Lager ihrer bewaffneten Gegner zu relativieren.
Das politisch Interessante an Bilal Abdul Kareems "Enthüllungen" hat mit der Berichterstattung über Syrien zu tun, mit den Ambitionen der Dschihadisten und dem Konflikt zwischen Russland, der syrischen Regierung und dem Westen über Hilfslieferungen nach Idlib.
Schlacht um Aleppo: Der Freund der Islamisten vor Ort
Bilal Abdul Kareem dürfte auch manchen deutschen Leserinnen und Lesern von Nachrichten aus Syrien bekannt sein, die sich schon länger für die Geschehnisse dort interessieren. Im Winter 2016 dominierte der Kampf um Aleppo auch die Nachrichten in Deutschland und die Hitze war auch trotz mehr als 3.000 Kilometer zwischen Berlin und Aleppo hierzulande so groß, als ob die Schmerzensschreie aus dem Krieg nur ein paar Meter entfernt waren.
Die sagenhaft eindeutig Bösen waren Putin und al-Assad, deren Gegner, die "radikal islamistischen" Milizen, wurden als "Rebellen" dargestellt, die der Sache der Bevölkerung nahestanden (Aleppo: Das neue "Srebrenica"?, Aleppo: UN beschuldigt die syrische Armee, Gräueltaten begangen zu haben).
Der US-Reporter Bilal Abdul Kareem bestätigte dieses Bild mit Exklusiv-Interviews von Milizionären, die er vor Ort durchführte. Mancher Videoausschnitt tauchte auch in deutschen Berichten auf oder wurde verlinkt. Dass sich Mitarbeiter der On the Ground News, deren bekanntester Reporter Bilal Abdul Kareem war, ihrerseits als Islamisten herausstellten, deren Sympathien zu den Milizen unverkennbar waren, wurde mehr oder weniger ausgeblendet.
Der Fokus lag auf dem Leiden der Zivilbevölkerung und den Zerstörungen, die die syrisch-russische Offensive in Aleppo anrichteten. (Bei ähnlichen militärischen Operationen etwa bei der Befreiung von Mossul vom IS durch die irakische Armee und schiitische Milizen mit kräftiger Unterstützung der US-Armee war die Berichterstattung nicht gleichermaßen auf die Zerstörungen und die zivilen Opfer konzentriert, sondern auf die Befreiung der Stadt von den IS-Dschihadisten, ursprünglich eine Schwester-Vereinigung der al-Nusra-Front.)
Im letzten Jahr wurde Bilal Abdul Kareem von der HTS in Idlib gefangen genommen. Das nahmen aber nur mehr interessierte Beobachter zur Kenntnis. Die Medienaufmerksamkeit war längst woanders. Zwar sorgte die HTS, eine Nachfolgeorganisation der al-Qaida-Miliz al-Nusra-Front und Herrscherin über Idlib, gelegentlich für ein paar Berichte über ihre Aufräumaktionen, zu der auch die Festnahme des US-Reporters gehört, aber das, worum es dabei ging, hatte seine Bedeutung für die größere Öffentlichkeit verloren.
"Al-Golani ist ein Lügner"
Ausgerechnet der Mann, der, wie es seine früheren Interviews nahelegen, unverkennbar freundschaftliche Beziehungen zu al-Nusra- und später HTS-Kämpfern hatte, bringt es nun auf den Punkt: Al-Golani, der Führer der HTS, Chef und Gründer der al-Nusra-Front, ist nicht der, als der er zuletzt auch in großen amerikanischen Medien präsentiert wird: kein Vertreter des unterdrückten syrischen Volkes, sondern ein Machthaber, dessen Praxis sich an Grausamkeit nicht von Tyrannen unterscheidet.
Mit einem großen Interview mit PBS "Frontline", erschienen im Februar dieses Jahres, landete al-Golani einen beachtlichen PR-Coup. Dort stellte er sich dar als Militärführer, "kein Terrorist", der die Sache der Revolution des syrischen Volkes vertritt. Das war der bislang letzte große Etappenerfolg des Dschihadistenführers auf dem langen Weg zur Anerkennung als Verhandlungspartner, wenn es um die Zukunft Idlibs geht.
Das solches nicht ohne Resonanz in Washington geschieht, veranschaulicht ein Think-Tank-Artikel vom Februar dieses Jahres mit der These: "Das Etikett 'Terrorist', das der stärksten Rebellengruppe in Idlib angeheftet wurde, untergräbt einen entscheidenden Waffenstillstand und blockiert mögliche Wege, einen militärischen Showdown abzuwenden. Es spiegelt auch eine Lücke in der westlichen Politik wider. Kreative Ideen aus Washington könnten helfen, die Sackgasse zu durchbrechen und einen nützlichen Präzedenzfall zu schaffen." (Washington’s Chance to Reimagine Counter-terrorism, Crisis-Group)
Al-Golani beteuerte in dem Interview, dass HTS keine Gefangenen mache, die gefoltert werden.
Aber wir haben nie jemanden festgenommen oder inhaftiert. Das ist nie passiert. (…) Es wird nicht gefoltert. Das wird komplett abgelehnt. Und wir sind nicht dafür verantwortlich, Verhaftung, Folter und der ganze Prozess bei den Gerichten. Das Justizkorps ist in den befreiten Zonen völlig unabhängig. Es gehört nicht zu uns. Hier gibt es eine eigene Regierung. Wir sind die Hayat Tahrir al-Scham. Unser Ziel ist - unsere Rolle ist rein militärisch.
Al-Golani im PBS-Interview
Bilal Abdul Kareem weiß es nun besser. Die Realität sieht anders aus, als sie al-Golani schildert. Die Lüge fängt schon mit der Behauptung an, dass die (Heils-)Regierung in Idlib von HTS unabhängig wäre. Nichts spricht dafür.
Das Selfie
Das Interview ist darauf angelegt, dass sich al-Golani in der US-Öffentlichkeit entdämonisiert und seine frühere, langjährige Mitgliedschaft zur al-Qaida verkauft als eine Art Jugendsünde, die mit seinen Umständen erklärt werden kann, die aber nichts mehr mit seiner gegenwärtigen politischen und militärischen Aufgabe als "Oppositionsführer" gegen die Tyrannei Baschar al-Assads zu tun habe.
Zum Hintergrund dieses "Selfies" gehört, dass Russland den USA Laxheit gegen HTS vorwirft, dass die Miliz in Idlib von den USA in auffallender Weise verschont würde. Das hat der russische Außenminister Lawrow seinem damaligen US-Amtskollegen Kerry schon bei dessen Umgang mit der al-Nusra-Front vorgeworfen.
Freilich ist das nicht "neutral" gesehen, sondern aus einem politischen Interesse heraus, Russland steht aufseiten der syrischen Regierung und achtet auf seinen durch den Militäreinsatz in Syrien gewonnenen Einfluss in dieser Kernregion des Nahen Ostens.
Die Hilfslieferungen
Doch miteinzubeziehen, wenn es um die Hilfslieferungen nach Idlib geht, sind ebenso die Rolle der HTS und die Interessen, die die USA mit deren Dominanz in Idlib verknüpfen können: die Schwächung der syrischen Regierung, die Aufteilung Syriens, Probleme für Russland.
Das ist ein Streitpunkt, der diese Tage wieder neu auch auf die Agenda der Medien kommt: Dass humanitäre Güter weiter über einen Grenzübergang bei al-Bab geliefert werden, wird in vielen Berichten einzig als humanitäres Problem geschildert, bei dem die russische und die syrische Führung wieder einmal keine Rücksicht auf menschliche Nöte nehmen, weil sie diesen Übergang sperren wollen.
Das ist einseitig akzentuiert. Ausgeblendet wird bei dieser Perspektive, dass die HTS von diesen Lieferungen profitiert, materiell und politisch, weil die syrische Regierung ausgeschaltet wird. Russland drängt darauf, dass die Lieferungen über die syrische Regierung laufen. Dabei geht es nicht um Gut und Böse, sondern um Interessen.
Es gab in den letzten Monaten einige Veröffentlichungen, die aufzeigten, dass sich Journalisten, die über Syrien schreiben, meist nur an bekannte Gesprächspartner hielten, die erzählten, was sie zuvor schon anderen Journalisten erzählt haben, auf den Weg zu anderen Gesprächspartnern, die etwas anderes aus der syrischen Wirklichkeit berichten könnten, machten sich nur wenige.
Nur eine Handvoll dieser Reporter spricht Arabisch oder eine andere lokale Sprache; nur wenige, so habe ich erfahren, kennen die Grundlagen der syrischen Geschichte, etwa wie das Land regiert wurde, bevor das Assad-Regime 1970 die Macht übernahm. Im Nordosten arrangieren sie über einen Übersetzer Treffen mit der autonomen Verwaltung oder gelegentlich mit erklärten Regimegegnern.
Aber selten bekommt die Presse die Meinung von Hotelmanagern, Ladenbesitzern oder Schullehrern - Menschen, die dazu neigen, weniger dogmatisch über eine bestimmte Seite des Konflikts zu sein. Wenn Journalisten in die von der Regierung kontrollierten Gebiete reisen, werden sie wahrscheinlich daran gehindert, mit jemandem zu sprechen, der sich für die Opposition ausspricht, doch die vorsichtigen Unterstützer der Regierung erhalten wahrscheinlich die wenigste Berichterstattung - obwohl sie vielleicht die entscheidendste Bevölkerungsgruppe sind, die die Herrschaft von Präsident Bashar Hafez al-Assad gesichert hat.
Sam Sweeney, Columbia Journalism Review
So wurde eine bestimmte Wahrnehmungsschablone bedient und blieb intakt.
Oft wird dabei vergessen, wie sehr dem Westen nahestehende Länder, wie zum Beispiel Katar, eine große Menge Geld an die Opposition vermittelte. Dass von solchen reichlich fließenden Geldern vonseiten der Gegner al-Assads im Nahen Osten und im Westen auch die Öffentlichkeitsarbeit der islamistischen Milizen stark profitierte, ist kein Geheimnis.