Syrien: Erdogan auf Expansionskurs
Seite 2: Momentum für die Türkei
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Erdogan ist momentan in einer starken Position, wie sein selbstbewusstes Auftreten auch beim "Syrien-Gipfel" in Istanbul mit Putin, Merkel und Macron gezeigt hat. Zuvor hatte er durch seine geschickten Informationspolitik im Fall Khashoggi ebenfalls an Profil gewonnen.
Sein größter Trumpf, der ihn nahe an sein großes Ziel heranführt, in Nordsyrien einen von der Türkei und ihren Verbündeten kontrollierten "Sicherheitskordon" an der Grenze anzulegen, ist das Sotschi-Abkommen mit Russland und die Astana-Verabredungen. Beide sind miteinander verbunden und räumen der Türkei mit Einwilligung der syrischen Regierung eine Schlüsselrolle bei Vereinbarungen mit oppositionellen Milizen im syrischen Grenzgebiet ein.
Hier lassen Russland wie auch die syrische Regierung große Geduld walten. Schon längst hätten die "terroristischen und radikalen Milizen" aus der demilitarisierten Zone in Idlib abziehen müssen. Der Stichtag, den die Türkei und Russland im Abkommen von Sotschi vereinbart haben, war der 15. Oktober.
Seither hat sich aber nichts getan. Hay'at Tahrir asch-Sham (HTS), die Miliz, die als Nachfolger der Nusra-Front ganz besonders mit "Terroristen" gemeint ist, hat in einem Statement erklärt, dass man nicht abziehen und den Dschihad fortsetzen werde.
Das Statement war so abgefasst, dass es als "ambivalent" eingeordnet wurde. Denn es wurde zwar formell an der Fortsetzung des Dschihad festgehalten, aber zugleich auch indirekt die türkische Initiative, die ein Blutvergießen in Dilib vermieden haben, gutgeheißen. Und: Am Boden tat sich nichts mehr, was die Sicherheitsinteressen der syrischen Regierung oder des russischen Militärs empfindlich berührt hätte.
Grund für die Geduld: Kämpfe der Milizen untereinander
Dennoch konnte man sich wundern über die Geduld in Moskau und in Damaskus. Eine Erklärung findet sich in einer kleinen Meldung, die heute vom französischen Dschihad-Experten Wassim Nasr weitergegeben wird und auch von der italienischen Agenzia Nova berichtet wird. Dort ist von Kämpfen zwischen HTS, Ahrar asch-Scham und Nur ad-Din az-Zinki bei Kfar Hamam die Rede.
Der französische Journalist Nasr sieht darin ein Zeichen dafür, dass die Milizen angesichts einer Konfrontation mobilisieren würden. Anhand des Lagebilds in Idlib zeigte Nasr schon am 15. Oktober auf, warum die syrische Regierung und die russischen Verbündeten keinen Grund haben, etwas zu forcieren.
Die HTS und die anderen dschihadistischen Milizen wie Hurras ad-Din seien in der "demilitarisierten Zone", die wie ein Band die Grenzen Idlibs umsäumt, eingefriedet oder eingehegt. Sie sind im Blick der Beobachtungsposten, militärische Ausfälle über Idlib hinaus seien nicht zu erwarten. Man könne angesichts der "fixierten Front" nun abwarten, bis die Milizen anfangen, sich gegenseitig zu bekämpfen - was in Idlib schon häufiger der Fall war.
Eine Offensive der syrischen Armee und ihrer Verbündeten wäre demgegenüber mit großem Aufwand, Risiko und einer miserablen internationalen Presse verbunden. Daher räumt man der Türkei Zeit ein, die Dinge anders zu regeln. Für deren Erfolg sei es nötig, so Nasr, der sich immer wieder auf gute Kontakte zu den Milizen beruft, dass möglichst viele Radikale bei der HTS bleiben, so behalte al-Golani, der HTS-Chef, die Kontrolle.
Eine neue Verkleidung für HTS/al-Nusra-Front?
Die Türkei, bzw. ihr Geheimdienst MIT, hat seit Jahren enge Kontakte zur al-Nusra-Miliz und deren Führung. Auch bei der "Abspaltungserklärung" von al-Qaida habe die Türkei eine wichtige Rolle gespielt.1 So lange die Radikalen in der HTS-Miliz sich nicht abspalten und zu den anderen Dschihadisten, etwa Harras ad-Din überlaufen, sind sie aus türkischer Sicht besser zu kontrollieren.
Nach Informationen von Fabrice Balanche könnten sich die Interessen der Türkei und der Dschihadisten der HTS darin überkommen, dass die HTS die "Grenzsicherung" zur Türkei übernimmt. Dafür müssten allerdings Hindernisse aus dem Weg geräumt und Arrangements getroffen werden, die noch einige Zeit brauchen. Eine Frage wird sein, wie sich die Türkei verhalten wird, wenn sich die Kämpfe zwischen den Milizen in Idlib tatsächlich aufschaukeln.
Die andere Frage ist, wie lange die Regierung in Damaskus zuschauen wird. Spätestens dann, wenn es um das Utimatum der freien und sicheren Verbindungsstraßen in Idlib geht, dürfte die durchaus begrenzte Geduld an ihr Ende kommen.