Syrien: Mehr als 250.000 Menschen getötet, 12 Millionen auf der Flucht
Wie erfolgreich waren die US-Luftangriffe auf den Islamischen Staat?
Wie viele Menschen durch den Krieg in Syrien umgekommen sind, ist nicht bekannt. Es gibt nur Schätzungen. Die Vereinten Nationen gehen von 240.000 oder mehr als 250.000 Menschen aus, die seit 2011 getötet wurden. Über eine Million Menschen seien verletzt worden. Die Hälfte der Syrer ist geflohen oder vertrieben worden, öfter mehrmals, die Hälfte davon Kinder. 2015 waren es noch einmal eine Million, die zu den fast 8 Millionen hinzukamen, davon leben 4,5 Millionen in für humanitäre Missionen schwer oder gar nicht zugänglichen Gegenden. 12 Millionen Menschen in Syrien benötigen humanitäre Hilfe, auch die vier Millionen, die in die Nachbarländer geflohen sind. Schon Ende 2013 haben nach der UN Dreiviertel der Menschen in Syrien in Armut gelebt, die Hälfte in extremer Armut.
Dass die Weltöffentlichkeit geschlafen und damit die jetzige Flüchtlingskrise mit verursacht hat, zeigt ein Blick auf Zahlen des UN-Flüchtlingswerks. Dass im Jemen und in Afghanistan gerade Konflikte für neue Flüchtlingsströme eskalieren, scheint nicht groß zu bekümmern. Nach Stand August waren die USA, Großbritannien, Kuweit, Deutschland und die EU die größten Spender, die Arabischen Emirate und Saudi-Arabien haben nur 28 bzw. 12 Millionen US-Dollar zur Unterstützung der syrischen Flüchtlinge gegeben. Die osteuropäischen Staaten, die jetzt wie Ungarn "Eiserne Vorhänge" errichten oder sich weigern, Flüchtlinge aufzunehmen, haben finanziell nichts getan. Russland im Übrigen auch nicht (nach Kritik im Forum: die Aussage bezieht sich wie bei den anderen Ländern auf die Finanzhilfen für UN-Hilfsprogramme).
Die vom Flüchtlingswerk angesetzten 7,4 Milliarden US-Dollar zur Hilfe für die syrischen Flüchtlinge in Syrien und den Nachbarländern für 2015 sind nur zu 30 Prozent eingegangen. Man hat also gespart und ist jetzt überrascht, wenn die Situation für die syrischen Flüchtlinge unerträglich wurde. Am wenigsten ging übrigens an die Türkei, wo nur 17 Prozent des Bedarfs von 624 Millionen gespendet wurden. Jetzt muss die EU wahrscheinlich der Türkei 3 Milliarden Euro zahlen und noch mehr Leistungen erbringen, um die türkische Regierung dazu zu bringen, die Flüchtlinge von der Ausreise abzuhalten. Bundeskanzlerin Merkel ist gerade als Bittstellerin beim türkischen Präsidenten Erdogan. Eine europäische Politik mit Voraussicht hätte es "billiger" haben können.
Neue Zahlen hat nun das Syrian Observatory for Human Rights vorgelegt. Verlässlich sind sie nicht, aber sie können doch einen Einblick in den seit mehr als 4 Jahren stetig sich verschärfenden Konflikt in Syrien geben. Das SOHR geht davon aus, dass seit dem ersten Toten in Daraa am 18. März 2011 bei den Protesten in Syrien bis zum 15. Oktober 250.124 Menschen "dokumentiert" getötet worden sind, darunter 74.426 Zivilisten und 12.517 Kinder.
41.201 Kämpfer der YPG, der Rebellen und der islamistischen Gruppen sollen getötet worden sein, dazu kommen auslänsiche 37.010 Kämpfer aus den arabischen Ländern oder aus Europa, Russland, China, Indien, den USA etc. 52.077 Soldaten der syrischen Streitkräfte sowie 35.235 pro-Regime-Kämpfer, 921 Hisbollah-Kämpfer und 3.395 Kämpfer schiitischer Milizen sollen in Folge des Konflikt getötet worden sein. Die mehr als 20.000 Menschen, die in den syrischen Gefängnissen oder bei Massakern getötet wurden oder verschwunden sind, seien nicht mit eingerechnet worden. Zwei Millionen Menschen seien verwundet worden.
Moskau wirft den USA vor, mit den Luftangriffen nichts erreicht zu haben, während die eigenen Angriffe in Kooperation mit den Bodentruppen des syrischen Regimes, als der rechtmäßigen Macht, Kämpfer der islamistischen Gruppen in die Flucht geschlagen und in Panik versetzt und Versorgungsrouten unterbrochen hätten.
Russlands Verteidigungsministerium zufolge sind Hunderte von IS-Kämpfern nach den russischen Luftangriffen in die Türkei geflohen. Anscheinend bereits ohne ihre Bärte. Täglich würden bis zu 100 Anhänger von al-Nusra und des "Islamischen Staates" über die Grenzübergänge Reyhanlı und Jarabulus aus Syrien in die benachbarte Türkei kommen, wo sie sich als Flüchtlinge ausgäben, teilte der russische Armeesprecher Anderej Kartapolow am Freitag mit.
Die staatliche russische Naxchrichtenagentur Sputnik
Auch das Pentagon listet sorgfältig die bei den Luftangriffen angeblich zerstörten Stellungen, Häuser, Fahrzeuge etc. des IS auf. Das kann man ebenso bezweifeln oder als wahr annehmen wie die Angaben des russischen Verteidigungsministeriums oder der syrischen Armee. Das Pentagon hat, ebenso wie das russische Verteidigungsministerium, vermieden, Zahlen über die getöteten IS-Kämpfer zu veröffentlichen. Es kursieren Zahlen zwischen 15.000 und 20.000 getöteten IS-Kämpfern, die seit Beginn der Luftangriffe nach Pentagon-Mitarbeitern getötet worden seien. Im Februar 2015 hatte General Austin von 8500 gesprochen.
Erstaunlich ist bei all dem von den Kriegsparteien erzeugten Nebel wie wenig offenbar die Geheimdienste wissen, was im Land oder in den Nachbarländern geschieht. Man könnte zwar argumentieren, dass das Wissen der Geheimdienste eben geheim gehalten wird, aber das Verhalten der vielen Kriegsparteien zeugt nicht davon, dass detailliertes Wissen vorhanden sein kann, um tatsächlich schnell und treffsicher Entscheidungen herbeiführen oder Trends erkennen zu können. Das hat auch einen beruhigenden Aspekt, denn die digitalen Überwachungskapazitäten scheinen bei Weitem nicht total zu sein und dazu ausreichen, etwa die Führung des Islamischen Staats ausschalten zu können.
Frappierend ist jedoch, dass dies, sollte die Zahlen zutreffen, tatsächlich kaum Einfluss auf den Islamischen Staat zu haben schien. Angeblich hat der IS noch etwa so viele Kämpfer wie vor den Luftangriffen. Das lässt die Alternativen entstehen, dass die "Erfolge" übertrieben sind oder dass der IS permanent neue Kämpfer anwerben bzw. anziehen kann, so dass die Reihen geschlossen bleiben. Wenn allerdings der IS nur 20.000 oder 30.000 Kämpfer haben sollte, wie angenommen wird, dann müssten viele ersetzt worden sein. Es könnte also auch sein, dass die Zahl der IS-Kämpfer von Anfang an drastisch unterschätzt worden ist, wie etwa Thomas Joscelyn vom Long War Journal meint.