Syrien: Raketen gegen Ölgeschäfte der Türkei und islamistischer Milizen
Ist die "Zeitbombe" Idlib zurück auf den politischen Agendas?
Es gibt Unruhe in Idlib, meldete gestern der Vizechef des "russischen Zentrums für die Versöhnung von gegnerischen Parteien in Syrien", Alexander Karpow:
"Vor dem Hintergrund einer humanitären Krise auf dem von den türkischen Streitkräften kontrollierten Territorium breitet sich das Gefühl des Protests gegen die Gesetzlosigkeit illegaler bewaffneter Gruppen unter den Anwohnern immer mehr aus. In der Siedlung Irkhab im Gouvernement Idlib kam es zu Zusammenstößen zwischen Einheimischen und Kämpfern, die anreisten, um neue Mitglieder für pro-türkische militante Gruppen zu rekrutieren." Alexander Karpow
In sozialen Netzwerken kursierten in den letzten Tagen Bilder von Protesten in Idlib wie auch im benachbarten Gouvernement Aleppo. Als Grund werden u.a. "Säuberungskämpfe" des HTS gegen radikalere Rivalen wie der al-Qaida-Miliz Hurras ad-Din genannt. Im Zuge dessen wurden angeblich Ehemänner und Söhne der protestierenden Frauen festgenommen.
Wie an dieser Stelle bereits berichtet, liegt den Machtkämpfen in Idlib auch die Absicht des al-Qaida-Abkömmlings HTS zugrunde, sich als moderate Opposition darzustellen. HTS-Führer al-Golani will sich als Verhandlungspartner für Vereinbarungen zu Idlib etablieren. Bislang gilt die HTS als terroristische Miliz, die nach dem Willen der syrischen Regierung und Russlands Idlib möglichst räumen soll. Doch die Machtverhältnisse sind kompliziert.
Garantiemacht der Opposition: Die Türkei
Dabei kommt es besonders auf die Position der Türkei an. Sie operiert in Grenzzonen zu Idlib und besonders im Großraum Aleppo mit ihren verbündeten islamistischen Milizen der sogenannten Nationalen Syrischen Armee. Das Verhältnis der Türkei zu HTS ist nicht ganz so eindeutig, offiziell kann man nicht von einem Bündnis sprechen, aber es gibt immer wieder Zeichen einer Interessensgemeinschaft und Nähe, vor allem der türkische Geheimdienst spielt da eine Rolle, die der Unterstützung einer terroristischen Gruppe, die die HTS offiziell ist, doch bedenklich nahekommt.
Bemerkenswert sind in diesem Zusammenhang Berichte über Gespräche zwischen islamistischen Gruppen, die mit der Türkei verbündet sind, und HTS-Mitgliedern, bei denen es angeblich um Sicherheitsvereinbarungen geht..
Eindeutig ist das große Ziel der Türkei: möglichst viel Kontrolle auf der syrischen Seite ihrer Grenze zum Nachbarland, möglichst tief in das Nachbarland hineinreichend, um, wie Ankara es reklamiert, aus einem "nationalen Sicherheitsinteresse" heraus die Kurden zurückzudrängen, die mit ihrer Selbstverwaltung in den Gebieten im Norden Syriens ein demokratisches Modell aufbauten, das Ankara widerstrebt und als feindlich tituliert. Das ist gemäßigt formuliert. Es gibt viele Stimmen, die in der Türkeipolitik in Syrien eine kriegerische, neo-osmanische Expansionspolitik sehen, die sich Teile von Syrien einverleiben will.
Dafür gibt es mehrere Anzeichen und entsprechende Erfahrungen von Bewohnern in Afrin und in Gebieten östlich des Euphrat, die die türkische Armee mit ihren islamistischen Verbündeten erobert hat. Dazu zählt auch die Vertreibung von Kurden aus ihren Wohnungen und Lebensräumen.
Angriffe auf den Ölhandel
Mit der türkischen Besatzung von Zonen in Nordsyrien und wichtiger Grenzübergänge gehen seit Eröffnung des Kriegsschauplatzes Syrien Jahren auch lukrative Geschäfte einher. Zum Beispiel der Handel mit Öl in dem Land, dessen Bevölkerung es bitter an "Fuel und Food" fehlt. Auch in diesem Geschäftsfeld arbeitet die Türkei mit islamistischen Milizen zusammen.
Am vergangenen Wochenende gab es dazu eine weitere Unruhe-Meldung aus Nordsyrien, Berichte über Raketenangriffe auf "Raffinierien" und auf einen Konvoi von Öl-Lastern am Umschlagplatz al-Hamran, allesamt Ziele in nächster Nähe zur türkischen Grenze im Großraum Aleppo.
Laut Informationen des Syrian Observatory for Human Rights (SOHR), das bekanntermaßen nicht immer zuverlässige Fakten beisteuert, weil sein Informantennetzwerk näher mit den oppositionellen Gruppen verbunden ist als mit der syrischen Regierung, sollen bei dem Großfeuer in al-Hamran "180 Lastwagen und Tankwagen" verbrannt sein und es seien mindestens vier Menschen getötet worden.
Offiziell gibt es keine Aussagen, wer für die Angriffe verantwortlich ist. Spekuliert wird vonseiten der islamistischen Milizen, dass die Raketen von einem russischen Schiff abgefeuert wurden. Ausgeschlossen ist das nicht, da die syrische Regierung derartige Geschäfte auf ihrem Territorium "mit gestohlenem Öl" nicht gut akzeptieren kann. Die Frage wäre, warum dieser krachende Schlag jetzt erfolgt? Weil Damaskus und Moskau die Händel zwischen der Türkei und den bewaffneten Milizen zu weit gehen? Warum wollten sie gerade jetzt ein Zeichen setzen?
Frankreich: Beunruhigende Verbindungen
Geht es nach der Einschätzung des US-Beobachters der Konfliktzonen in Syrien, Sam Heller, so könnte das Problem "Containment" (Eindämmung) der militanten, islamistischen und dschihadistischen Oppositionsgruppen wieder neu zum Thema werden.
Seine Begründung hängt allerdings mit einer anderen beunruhigenden Meldung als den zwei bisher genannten zusammen. Wie die französische Zeitung Le Parisien heute berichtet, bestätigen Ermittler im Fall des im Herbst letztes Jahres von einem islamistischen Fanatiker geköpften französischen Lehrers Samuel Paty, dass der letzte Telefonkontakt des Mörders zu Militanten in Idlib führt.
Angeblich bestätigte er einem Mitglied der Miliz HTS gegenüber den mörderischen Akt (mit einem Foto des Opfers), den er in Frankreich ausgeführt hat. Als Name wird Faruq Shami genannt, der sich offiziell als Journalist ausgibt und zur Miliz HTS gehören soll.
In politischen Kreisen in Frankreich wird über solche Hintergründe nicht leichtfertig hinweggegangen. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass das Thema Nordsyrien wieder mehr zur Geltung kommt, sobald die Corona-Krise nicht mehr das politische Geschehen bestimmt wie in den letzten Monaten.
Man wird sich auch in Paris Gedanken darüber machen, wie die vor Corona so prominenten "Zeitbomben", so z.B. die humanitäre Katastrophe in Idlib, entschärft werden sollen. Zumal man in Paris, auch und besonders wenn es um Syrien und um die Kurden geht, nicht gerade auf Freundschaftsfuß mit Erdogan und der terroristischen Gefahr durch Dschihadisten steht.