Syrien: Russischer Angriff auf die "Lieblings-Miliz" der Türkei
Risse zwischen Moskau und Ankara? Der russische Außenminister Lawrow betont die Zusammenarbeit der beiden Länder
Die türkische Regierung schweigt zum gestrigen Angriff "auf syrische Rebellen", die vom türkischen Militär ausgebildet werden, kommentierte der türkische Journalist Ragyb Soylu heute Morgen. Soylu ist eine interessante Quelle, da er über einen guten Zugang zu Informationen aus der türkischen Regierung verfügt.
In der Tat dominieren bei den englisch-sprachigen Ausgaben der türkischen Nachrichtenagentur Anadolu Agency, bei der regierungsnahen Zeitung Daily Sabah und bei Hurriyet Daily News heute andere Themen: Erdogan versus Macron, Erdogan versus Wilders, Griechenland, Bergkarabach. Der Angriff dürfte aber Gesprächsthema in der türkischen Regierung sein.
Er ist ein Rückschlag für das Vorgehen in Syrien.
Idlib: Ein bedeutender Verbündeter der Türkei
Getroffen wurde das Ausbildungslager der islamistischen Miliz Faylaq ash-Sham im syrischen Idlib, nahe der Grenze zur Türkei. Die Zahlen der Opfer sind unterschiedlich, die Angaben schwanken grob zwischen über 40 und bis zu über 100 Toten. Nach manchen Berichten wurden auch Zivilisten getroffen.
Es gibt noch keine genauen verlässlichen Angaben, aber viele unbestätigte Gerüchte: zum Beispiel, dass die Kämpfer der Milizen zu einem Einsatz nach Aserbaidschan geschickt werden sollten. Das große Gerücht zum Luftangriff auf das Lager lautet, dass daran der Bruch zwischen Russland und der Türkei offensichtlich werde.
Den Angriff flogen russische Flugzeuge, wie aus einer Meldung von Sputnik hervorgeht. Er richtete sich gegen einen wichtigen Bündnispartner der Türkei in Nordsyrien. Die zentrale Rolle der islamistischen, manchmal auch dschihadistisch genannten Miliz Faylaq ash-Sham (auch "Failak" geschrieben oder mit "al" statt dem assimilierten Artikel "as(c)h") in den türkischen Besatzungszonen im Norden Syriens wurde an dieser Stelle schon in mehreren Berichten erwähnt (siehe etwa: Afrin: Der türkische Dschihad).
Sie spielte eine bedeutende Rolle bei der Eroberung von Idlib im Jahr 2015, wo sie ein Bündnispartner der al-Nusra war (die sich damals den Sammelnamen Jaish al-Fatah gab) wie auch von Ahrar al-Sham. Später war die Miliz Teil der türkischen Verbündeten, die bei den Militäroperationen "Euphrates Shield" (bei Jarablus) und "Olivenzweig" (in Afrin) mitmachten. Sie verfügt denn auch über gute Verbindungen zur Hayat Tahrir asch-Scham (HTS), der herrschenden Miliz in Idlib, die früher al-Nusra-Front hieß, deren Führer al-Golani auch Chef der HTS ist.
So hat der russische Angriff auf das Ausbildungslager der Miliz - die von türkischen Militärs ausgebildet wird, weswegen türkische Opfer des Angriffs nicht auszuschließen sind - auch vor allem eine Bedeutung für das Geschehen in Syrien. Geht es nach Informationen des türkischen Journalisten Fehim Tastekin, auch er ein gewöhnlich gut unterrichteter Autor, ging dem russischen Angriff eine monatelange Verstärkung der türkischen Militärpräsenz in Idlib voran.
Spannungen zwischen Russland und der Türkei
Da die Türkei und Russland im März dieses Jahres eine Vereinbarung zu Idlib getroffen hatten, entwickelten sich daraus Spannungen. Zumal es laut Tastekin Zeichen dafür gab, dass der türkische Geheimdienst versuchte, die HTS mit den Milizen-Allianzen Syrische Nationale Armee (SNA) und Nationale Front der Befreiung (NFL) unter das Dach eines Militärrates zusammenzubringen. Die beiden Milizen-Allianzen sind Verbündete der Türkei.
Dass es zwischen der Türkei und dem al-Qaida-Abkömmling HTS Kooperationen gibt, ist ein offenes Geheimnis. Unübersehbar ist auch, dass sich die HTS propagandistisch bemüht, möglichst moderat zu erscheinen und im Zuge dessen radikalere Dschihadisten-Milizen "unschädlich" gemacht hat. Nicht wenige Beobachter sahen darin eine Aktivität ganz im Sinne der Türkei, die ihren Einfluss auf Idlib auch über die HTS sichert.
Die HTS hat zum Ziel, sich als Verhandlungspartner zu etablieren, an dem man nicht vorbei kommt, wenn es um Regelungen zu Idlib geht; die Türkei verfolgt ihren Plan weiter, eine durchgängige "Sicherheitszone" entlang der türkisch-syrischen Grenze zu errichten, um die Kurden zurückzudrängen und die türkischen Besatzungszonen in Syrien miteinander zu verbinden.
Es gab Druck seitens Russlands auf die Türkei, Beobachtungsposten in Idlib abzubauen, so Tastekin, um der syrischen Armee Platz zu machen. Die Türkei kam dem nach, allerdings wohl "contre coeur"; ihre Politik in Idlib ist nicht zuletzt aufgrund ihrer Verbündeten darauf ausgerichtet, die Präsenz der syrischen Armee so klein wie möglich zu halten. Kurdische Medien berichten, dass es nach dem Abzug der Beobachtungsposten zu türkischen Angriffen außerhalb Idlibs, auf Gebiete der kurdischen Selbstverwaltung, zum Beispiel in Ain Issa, kam.
Zum Schutzschirm der Türkei über den mit ihr verbündeten oder mit ihr kooperierenden Milizen gehört auch, dass HTS-Milizen und NLF-Milizen ihre militärische Ausbildung verstärkten, um etwa Nachteile gegenüber der syrischen Armee "in Nachtkämpfen" zu kompensieren. Laut Tagesschau-Informationen ist Failak al-Scham Mitglied der Allianz NLF.
Ein Stopp-Signal...
Wie es aussieht, hat die russische Luftwaffe in Syrien gestern ein deutliches "Stopp-Signal" für die von der Türkei lancierten und protegierten Milizenaktivitäten gesetzt. "Das ist ein big move, da Faylak ash-Sham der Liebling der Türkei ist, eine führende Fraktion der Syrischen Nationalen Armee und ein Teilnehmer beim Astana-Prozess wie auch beim verfassungsgebenden Komitee. Aber so zieht Moskau seine roten Linien", so die Einschätzung des Spezialisten bei al-Monitor für die Nahost-Politik Russlands, Maxim A. Suchkov, dessen Ansichten zur russischen Politik in Syrien kritisch sind, der aber nicht zum Lager der Russland-Basher gehört.
Nimmt man zu diesem Geschehen in Syrien hinzu, dass der russische Außenminister Lawrow gestern in Griechenland zu Besuch war und die besondere Rolle Griechenlands für die russischen Beziehungen zur EU hervorhob, so könnte man, dem Tenor einiger Berichte folgend, daraus schließen, dass sich nun mehr und stärker Bruchlinien zwischen Russland und der Türkei abzeichnen.
... und ein Bruch?
Einige Äußerungen, die zum Lawrow-Besuch in Athen veröffentlicht werden, würden dazu passen. So liest sich Mitsotakis Einschätzung, wonach die Türkei der Troublemaker ist, da sie im Rahmen des Besuches gemacht wird, beinahe so, als ob dies vom Einverständnis des russischen Außenministers getragen wird.
Auch die syrische Nachrichtenagentur Sana zitiert aus der Pressekonferenz zum Besuch, dass die "negative Rolle der Türkei in Syrien" kritisiert wurde. Der griechische Außenminister Nikos Dendias wird von der Konferenz damit wiedergegeben, dass die Türkei in allen regionalen Entwicklungen der "destabilisierende Faktor" sei.
Allerdings heißt es im Sana-Bericht auch, dass laut Lawrow die russischen und türkischen Positionen zu unterschiedlichen Themen zwar "nicht identisch" seien, aber er betonte auch, dass Moskau entschlossen sei, die Zusammenarbeit mit Ankara fortzusetzen, um Konflikte und Krisen in der Mittelmeerregion zu lösen.
In Libyen, so Lawrow, seien Verhandlungen zwischen Russland und der Türkei eine wichtige Basis für die Annäherung der Konfliktparteien. Auch im Konflikt in Aserbaidschan soll es Konsultationen zwischen Moskau und Ankara gegeben haben. Was die Nato betrifft, so hatten türkische Journalisten zuletzt betont, dass die Türkei etwa in Georgien ganz auf der Seite des Bündnisses sei und zur Ukraine gab es ebenfalls Positionierungen, die Transatlantikern gefallen. Allerdings geht Erdogan eigene Wege, wie sich bei den Test der S-400 zeigt - die lasse er sich nicht verbieten.
Geht es nach der Einschätzung des kritischen Beobachters des Blogs Moon of Alabama, so findet der türkische Machtanspruch gerade seine Grenzen in der Überdehnung. Um sein Militär und seine Wirtschaft zu schützen, sei ein Rückzug aus einigen der gegenwärtigen Fronten notwendig.