Syrien: Wohin mit 60.000 Kämpfern für einen islamistischen Staat?
Sollen sie von westlichen Ländern aufgenommen werden? Ein Kommentar zur Irreführung in der "Rebellen"-Berichterstattung
Im Kiosk der englischsprachigen Weltpresse wird, wie auch in führenden französischen und deutschen Medien, im Syrienkonflikt fast ausschließlich "Rebellen" als Sammelbegriff für den Widerstand gegen die Regierung Assad verwendet. Milizen wäre schon etwas genauer.
Das Problem, das die Bezeichnung "Rebellen" mit sich bringt, wird in vielen Kommentaren zum propagandistischen Sprachgebrauch der Medien mit großer Reichweite als Verharmlosung dargestellt. Diese misst sich am Gegenstück dazu: Die beiden verbündeten Regierungen in Damaskus und in Moskau verwenden den Sammelbegriff "Terroristen".
Die Irreführung durch "Rebellen" reicht aber über die Polarisierung in der Lagerdebatte - Aufständische versus Terroristen - hinaus. Denn, was der deutsche Afghanistan-Experte Thomas Rüttig als "weit verbreitete irrige Auffassung" über die Taliban herausstellt, trifft auf Ähnlichkeiten oder Parallelen zur Haltung im Westen gegenüber der bewaffneten "Opposition" in Syrien.
"Keine politische Partei"
Der Gemeinsamkeit liegt in der Erwartung, dass diese Regierungsgegner irgendwie bereit wären als "politische Partei zu agieren und sich als solche sogar in das derzeitige politische System einordnen" (Thomas Ruttig). Der Begriff "Rebellen" nährt solche Erwartungen, besonders da er die Milizen eng mit dem zivilen Widerstand verbindet.
Was aber Ruttig für die Taliban in Afghanistan klarstellt, dass sie nämlich eine Überarbeitung der gegenwärtigen afghanischen Verfassung fordern, "was wohl auch zu Änderungen im politischen Gesamtsystem führen würde", gilt nach allem, was die Öffentlichkeit über die dominierenden Kräfte der "Rebellen" in Syrien erfahren hat, durch ihre Proklamationen wie durch ihre Praxis, ganz besonders für die Islamisten dort.
Sollte es noch Milizen geben, die ein säkular ausgerichtetes Syrien wollen und den Schutz von Minderheiten ernst nehmen, so spielen sie, wenn überhaupt, nur eine Randrolle. Die Allianzen, die Gewicht haben, sind auf ein anderes politisches Gesamtsystem aus. Sie zielen auf den Umsturz. Sie bilden keine politischen Parteien mit Forderungen, die sich irgendwie in das System in Syrien integrieren ließen. Und wahrscheinlich auch nicht in irgendeins der Nachbarländer.
Die Reaktion aus den Niederlanden
Die Reaktion der Staatsanwaltschaft in den Niederlanden auf die Unterstützung von "Rebellen" in Syrien ist vielsagend, wenn es darum geht, wie Europäer reagieren würden, wenn ihnen diese Art des Rebellentums tatsächlich auf die Pelle rückt (vgl. Syrien: Niederlande beendet Unterstützung der Weißhelme und der bewaffneten Opposition).
Das ist als Hintergrund zu bedenken, wenn es nun in der nächsten Welle von moralischen Öffentlichkeitsfeldzügen darum geht, die Offensive auf Idlib schon vorab als einen ganz sicher barbarischen Akt zu brandmarken, der sofortige militärische Reaktionen des Westens zur Folge hat und zwar unabhängig von der Verwendung von Giftgas durch das syrische Militär oder den Bruch des Völkerrechts.
Wie am besten mit den Allianzen umgehen?
Wie sollte denn die Regierung in Damaskus denn am besten mit Hay'at Tahrir asch-Scham und der Nationalen Befreiungsfront (al-Jabha al-Wataniya lil Tahreer), die alleine schon mehrere zehntausend Kämpfer stellen, im eigenen Land umgehen? Die erstgenannte Allianz ist, wie mittlerweile wohl genügend bekannt ist, eine Nachfolgeorganisation der al-Qaida-Abspaltung al-Nusra-Front.
Zur anderen genannten großen Allianz, die von der Türkei unterstützt wird, die mit Gebieten in Syrien (al-Jarabulus oder Afrin) umgeht, als wären es Erweiterungszonen des eigenen Landes, gehören islamistische Gruppen wie Ahrar al-Sham, die noch vor nicht allzu langer Zeit mit al-Nusra unter dem gemeinsamen Dach der Jaish al-Fatah operiert haben.
Zu erinnern wäre daran, dass diese dschihadistische Allianz Idlib 2015 aus der Regierungskontrolle erobert hat und dabei wenig Rücksichten auf die Zivilbevölkerung genommen hat.
Eine scholastische Diskussion
Es gehört zu den kuriosen scholastischen Diskussionen unserer Zeit, wie in Expertenkreisen darüber debattiert wird, wer nun tatsächlich wirklich als "Dschihadist" bezeichnet werden kann. Wer sich Beiträge zu einer solchen Diskussion anschaut, erfährt dann, dass eine Miliz zwar über engste Verbindungen zu Dschihadisten verfügt und sich durch Korruption, Folter und Drogenhandel einen Namen gemacht hat, aber irgendwie dann doch nicht alle Definitionskriterien erfüllt und also keine dschihadistische Gruppe ist und also eine rebellische. Dazu dann die Frage, ob es denn hier um exakte Begriffe gehe oder um "gut oder böse" …
Politisch entscheidend ist die Frage, wie man mit solchen gewalttätigen Kriegstreibern im eigenen Land umgeht? Was würden denn die europäischen Länder vorschlagen, wenn es sie beträfe? Wollen wir die Rebellen in unseren Städten aufnehmen?
Oder in den USA unterbringen? Nach Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten evakuieren? Die Türkei will sie ganz sicher nicht auf ihrem Territorium. Wohin sollen die etwa 60.000 Kämpfer für die "sunnitische Revolution", aka den syrischen Dschihad? Von den Europäern kommen dazu ähnlich wenig Vorschläge wie von der US-Regierung ...
Die Schätzung der Stärke der Milizen-Kämpfer, mit denen es die syrische Regierung und ihre Verbündeten in Idlib zu tun haben, stammt vom französischen Syrien-Experten Fabrice Balanche, der sich bemüht seine Angaben gut zu begründen.
In französischen Veröffentlichungen lässt sich, wie an dieser Stelle schon mehrmals hingewiesen, auch detailliert nachvollziehen, dass Idlib, wie es der US-Sonderbeauftragte Brett McGurk einmal formulierte, zum "sicheren Hafen für al-Qaida" geworden ist. Die Verbindungen zur Mutterorganisation unter Leitung des greisen al-Zawahiri mögen nicht immer klar definiert sein und strengen Definitionskriterien einer al-Qaida-Zugehörigkeit nicht genügen, aber unübersehbar ist die Grundausrichtung.
Warum sollte die politische Ordnung der "Rebellen" in Syrien besser funktionieren als in Europa?
Sie hat nichts mit der politischen Ordnung gemein, die wir in Europa hochhalten. Warum sollte sie in Syrien besser funktionieren als das "Regime"? Wie wäre es, wenn man sich das in politischen Kreisen mal durch den Kopf gehen ließe, bevor man laut mit militärischen Aktionen droht, die den Umstürzlern zugute kommen?
Wie kommt es eigentlich, dass al-Nusra unter seinen unterschiedlichsten Namen letztendlich immer auf Schonung aus politischen Gründen hoffen kann? Das war schon zu John Kerrys Zeiten so ...
Es wird Zeit, dass diese Fragen klarer beantwortet werden, um sich endlich einer politischen Auseinandersetzung mit dem repressiven, dynastischen System der Baath-Herrschaft in Syrien und seiner Zukunft zuzuwenden.