System-Logik: Der Fall Professor Birbaumers

Seite 4: Das deutsche Doktoranden(un)wesen

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Zum Schluss noch ein paar Gedanken zu einer Spezialität des deutschen Wissenschaftsbetriebs, nämlich der Doktorandenausbildung. Da kommt es nämlich regelmäßig vor, dass der Doktorvater auch der Gutachter der Dissertation ist. Hier in den Niederlanden und, nach allem was ich weiß, in Großbritannien ist das dagegen ausgeschlossen.

Der Doktorvater schlägt hier zwar jemanden zur Promotion vor - das Urteil muss aber eine davon unabhängige Kommission fällen. Wobei "unabhängig" wieder so eine Sache ist. Formal stellt der Dekan, der Chef einer Fakultät, die Promotionskommission zusammen.

Der wird sich aber wahrscheinlich für Vorschläge bedanken, die ihm Zeit und Mühe sparen. Und der Dekan beziehungsweise die Fakultät hat wiederum auch ein Interesse daran, dass eine Doktorarbeit erfolgreich abgeschlossen wird. Bei uns gibt es dafür sogar einen dicken finanziellen Bonus.

Das ist aber unabhängiger als das deutsche Modell, in dem der Betreuer gleichzeitig auch der Chef (im Falle einer Anstellung als wissenschaftlicher Mitarbeiter) und der Gutachter ist. Ein Schelm, wer denkt, dass so eine mehrfache Abhängigkeit zu Ausbeutung der in Deutschland in der Regel ohnehin unterbezahlten Doktoranden führen kann.

So ist es natürlich auch mir niemals passiert, dass mir unbezahlte Lehre erst schmackhaft gemacht wurde ("gut für deinen Lebenslauf") oder später Druck ausgeübt wurde ("die anderen stellen sich auch nicht so an"). Und der Geldgeber, eine große Stiftung in Deutschland, hat natürlich Jahre später, als ich dieses Problem nicht ansprach, die Verantwortung nicht auf die Forschungsinstitution abgewälzt: "Wir vertrauen darauf, dass dort die Richtlinien des Arbeitsvertrags eingehalten werden."

Die Forschungsinstitution hat aber doch ein Interesse daran, Mittel für das Lehrpersonal zu kürzen und lieber in die Anschaffung teurer Apparate oder einen dicken Bonus zum Einwerben einer Koryphäe zu investieren, die dem Prestige nutzen. Das ist wieder System-Logik und hilft vielleicht sogar beim Exzellenzwettbewerb.

Wer wäre für die Ausbeutung geeigneter als die Knechte der Wissenschaft, eben die Doktoranden in ihrer mehrfachen Abhängigkeit? Medizindoktoranden (in Deutschland) machen das für ihren "Titel" mitunter sogar völlig gratis. Dementsprechend ist ihr akademischer Grad dann auch nicht so viel wert.

Das Schwert des Strafrechts

Man könnte einmal erwägen, ob in den notorischen Fällen solchen Missbrauchs nicht der Tatbestand der Untreue (§266 StGB) erfüllt sein könnte. Immerhin werden dann dezidierte Forschungsmittel zur Füllung von Löchern in der Lehre zweckentfremdet. Auf Untreue stehen neben Geldstrafe übrigens bis zu fünf Jahre Freiheitsstrafe.

Vielleicht liegt in dem einen oder anderen Fall auch eine Nötigung (§240 StGB) vor. Einem widerspenstigen Doktoranden könnte man doch Schwierigkeiten bei der Begutachtung der Dissertation in Aussicht stellen, etwa indem man ein Gutachten so lange verschiebt, bis der Termin der Verteidigung platzt. (Nicht, dass dem Autor dieses Texts so etwas passiert wäre.)

Da könnte doch das ein oder andere Rückgrat brechen, zumal eine nicht abgeschlossene Promotion Schwierigkeiten bei Folgebewerbungen oder gar das Ende der wissenschaftlichen Laufbahn bedeuten kann. Natürlich bleibt man auch auf Empfehlungsschreiben der Professoren angewiesen.

Auf Nötigungen stehen neben Geldstrafe übrigens bis zu drei Jahre Freiheitsstrafe. Mit Ausnahme von schweren Fällen (§240 StGB, Absatz 4), etwa bei Amtsträgern, dann sind es fünf Jahre. Und was war noch einmal ein Professor? Vielleicht ein Landesbeamter?

Verbesserungsvorschläge

Enden wir aber nicht so trist. Und ich will auch keine guten Leute davon abhalten, in die Wissenschaft zu gehen. Wer aber freie, unabhängige und ehrliche Forschung möchte, der sollte die System-Logik auch demnach ausrichten. Förderlich wären dafür meiner Meinung nach:

Offenlegung der Daten zusammen mit der Publikation (Open Data);
Offenlegung der Gutachten mit, nach Möglichkeit, Namen der Gutachter;
Offenlegung der Entscheidung der Redaktion, eine Arbeit zu akzeptieren beziehungsweise abzulehnen;
eine unabhängige Schiedsstelle, an der solche Entscheidungen begründet angefochten werden können;
die vorherigen drei Punkte könnte man auch für die Vergabe von Forschungsmitteln und die Besetzung von Lehrstühlen erwägen, wo es um öffentliche Mittel und öffentliche Einrichtungen geht;
kontinuierliche Kontrolle und Diskussion durch die wissenschaftliche und Internetgemeinschaft, die durch Open Access und Open Data möglich werden;
sinnvolle Beurteilungskriterien in der Wissenschaft auf allen Ebenen, die vor allem inhaltlich ausgerichtet sind und nicht bloß quantitativ;
ehrliche Bezahlung für das Personal auf allen Ebenen;
Vermeidung mehrfacher Abhängigkeiten, insbesondere bei den Doktoranden;
Raum für Zweifel und Kritik in der Wissenschaft, nicht nur für Pragmatiker und Opportunisten; und
Einbeziehung von Personen von außerhalb der Wissenschaft, ähnlich der Laienrichter in bestimmten Gerichtsverfahren.

Diese Vorschläge wären zugegebenermaßen ein radikaler Bruch mit der gewachsenen Tradition. Aber wenn man einmal genauer darüber nachdenkt, handelt es sich in den meisten Fällen um logische Prinzipien eines demokratischen Rechtsstaats. Dass etwa ein Strafgericht eine Entscheidung im Geheimen träfe, ohne jede Möglichkeit eines effektiven Einspruchs, und auf der Basis unbekannter Gutachter, würden wir eher mit einem totalitären Regime in Zusammenhang bringen. Ein offenes und faires Verfahren ist ein Menschenrecht. Warum akzeptieren wir wie selbstverständlich, dass es in der Wissenschaft anders zugeht?

Die Vorgänge haben neben der System-Logik aber auch noch eine individualpsychologische Ebene: Warum geht jemand überhaupt so weit, seine Daten zu manipulieren? Um eine Publikation in einem bestimmten Medium zu erzielen, die wiederum ein Türöffner für Forschungsmittel, Stellen, Macht, Einfluss und Geld ist? Es muss erst ein persönlicher Bewertungs- und Identifikationsprozess stattgefunden haben, der diesem Ziel, der Professur oder der Institutsleitung, so einen hohen Wert beimisst.

Es ist ja nicht so, dass jemand, der keine wissenschaftliche Laufbahn einschlagen kann, darum gleich verhungern müsste. Es geht also nicht ums pure Überleben, sondern um die Ausrichtung des Selbstwerts an einem bestimmten äußeren Maßstab. Und woher kommt der? Dafür kann es in der individuellen Autobiographie Gründe geben. Die starke Ausrichtung auf die "Exzellenz" trägt aber das Ihre dazu bei.

Dann leben wir eben in einer Welt, in der wir so tun, als ob die obersten zehn Prozent alles wären, und wir den ganzen Rest als zweitklassig abstempeln. Auch hierin äußert sich die System-Logik des Konkurrenzprinzips, wie sie nicht zuletzt die Bologna-Erklärung von 1999, die in Kürze ihr zwanzigjähriges Jubiläum haben wird, in die Wissenschaft zementiert hat (Fünfzehn Jahre Bologna-Erklärung - eine Polemik).

Dem möchte ich hier noch einmal die für mich echte Bologna-Erklärung entgegenstellen, nämlich die Magna Charta Universitatum von 1988, die inzwischen von immerhin 388 Rektoren von Universitäten weltweit unterzeichnet wurde, und in der es unter anderem heißt,

dass die Zukunft der Menschheit … in hohem Maße von der kulturellen, wissenschaftlichen und technischen Entwicklung abhängt, die an Universitäten als den wahren Zentren der Kultur, Wissenschaft und Forschung stattfindet; dass die Aufgabe der Universitäten, der jungen Generation Wissen zu vermitteln, die ganze Gesellschaft betrifft, deren kulturelle, soziale und wirtschaftliche Zukunft besondere Bemühungen um ständige Weiterbildung erfordert; dass die Universität eine Bildung und Ausbildung sicherstellen muss, welche es künftigen Generationen ermöglicht, zum Erhalt des umfassenden Gleichgewichts der natürlichen Umgebung und des Lebens beizutragen.

Magna Charta Universitatum

Und um diese Ziele zu erreichen heißt es unter anderem in den Grundsätzen der Charta, dass die Universitäten "gegenüber allen politischen, wirtschaftlichen und ideologischen Mächten unabhängig sein" und an ihnen zur "Wahrung der Freiheit von Forschung und Lehre … allen Mitgliedern der Universitätsgemeinschaft die zu ihrer Verwirklichung erforderlichen Instrumentarien zur Verfügung stehen" müssen.

Stephan Schleim ist studierter Philosoph, Psychologe und promovierter Kognitionswissenschaftler. Seit 2009 ist er an der Universität Groningen in den Niederlanden, zurzeit als Assoziierter Professor für Theorie und Geschichte der Psychologie.

Hinweis: Dieser Artikel erscheint ebenfalls im Blog "Menschen-Bilder" des Autors.