System-Logik: Der Fall Professor Birbaumers

Seite 3: Kein Raum für Zweifel und Kritik

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Aus System-Logik ist es so, dass man sich mit Kritik vor allem Feinde schafft. Belohnt wird das keinesfalls. Warum sollte man also diesen Preis bezahlen, wenn man in der Wissenschaft Karriere machen will? Ähnlich wurde auch Karl Poppers Falsifikationismus in die Schranken verwiesen: Wissenschaftler würden ihre Hypothesen oder Theorien in der Praxis gar nicht widerlegen, sondern vor allem bestätigen wollen.

Laut Popper kommt die Wissenschaft als ganze aber gerade durch die Falsifikation starker Theorien voran. Für einen Wissenschaftler kann die Einsicht, dass der jahrelang verfolgte Ansatz nicht funktioniert, mitunter ein ganzes Lebenswerk in Frage stellen. Da bedarf es schon besonderer Charakterstärke, sich dem zu stellen.

Dazu ein denkwürdiges Zitat aus der Denkschrift zur Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG):

Forschung als Tätigkeit ist Suche nach neuen Erkenntnissen. Diese entstehen aus einer stets durch Irrtum und Selbsttäuschung gefährdeten Verbindung von Systematik und Eingebung. Ehrlichkeit gegenüber sich selbst und gegenüber anderen ist eine Grundbedingung dafür, dass neue Erkenntnisse - als vorläufig gesicherte Ausgangsbasis für weitere Fragen - überhaupt zustande kommen können. "Ein Naturwissenschaftler wird durch seine Arbeit dazu erzogen, an allem, was er tut und herausbringt, zu zweifeln, … besonders an dem, was seinem Herzen nahe liegt.

DFG Denkschrift, 2013, S. 40

Die fast schon rührende Sache mit dem Herzen ist ein Zitat des Physikers Heinz Maier-Leibnitz (1911-2000), der früher selbst Präsident der DFG war. Der Satz steht in seinem Aufsatz "Über das Forschen" aus dem Jahre 1981. Er wirkt auf mich aber wie ein Anachronismus.

Nach meiner Erfahrung haben Forscher heute gar keine Zeit zum Zweifeln. Jedes Experiment, das man nicht veröffentlicht, ist ein möglicher Wettbewerbsnachteil im Konkurrenzkampf. Nach Thomas Kuhns Paradigmenmodell kann allenfalls in der vorwissenschaftlichen Phase gezweifelt und gestritten werden. Kommt ein Paradigma aber erst einmal ins Rollen, dann geht es schlicht um Produktivität. "Stillstand ist der Tod", könnte man mit Herbert Grönemeyer singen.

Von mutigen jungen Leuten

Bleiben wir noch einen Moment bei der Tatsache, dass der beharrliche Kritiker, der für Birbaumer und seinen Mitarbeiter zum Problem wurde, ein junger Informatiker ist, namentlich Martin Spüler.

Beim Aufdecken des umfangreichen Forschungsbetrugs des Sozialpsychologen Diderik Stapel von der Universität Tilburg in den Niederlanden vor ein paar Jahren war es auch ein junger Wissenschaftler, der sich gegen den Widerstand des Establishments durchsetzen musste. Und dem Harvard-Primatologen Marc Hauser wurden die eigenen studentischen Hilfskräfte zum Verhängnis, die unmoralische Praktiken des Moralforschers ans Tageslicht brachten (Unmoralischer Moralforscher?).

Wie gesagt, es gibt überhaupt keinen Anreiz, im Gegenteil sogar viele Gründe dagegen, einem Forscher öffentlich Fehlverhalten nachzuweisen. Das gilt umso mehr für Koryphäen wie Birbaumer, Hauser oder Stapel. Die Mehrheit übt sich dann lieber in Schweigen und es sind nur ein paar unverbesserliche und unangepasste Idealisten, die sich die Unbequemlichkeit des Zweifels zumuten und dafür sogar ihren Kopf hinhalten.

Aus eigener Erfahrung

An dieser Stelle kann ich eine eigene Erfahrung hinzufügen: Ich hatte nicht viel mit Birbaumer zu tun, der übrigens meine am häufigsten zitierte Arbeit begutachtete, jedoch einmal mit einem jungen Wissenschaftler aus seinem Institut.

Wir hatten ein gemeinsames Forschungsprojekt, an dem noch einige andere beteiligt waren. Auf eine gemeinsame Tagung lud dieser Kollege seinen Chef als Sprecher ein, also Birbaumer. Der Rest von uns hatte jeweils externe Fachleute eingeladen, die neue Perspektiven in die Diskussion einbrachten.

Mit diesem Forscher hatte ich ein gemeinsames Experiment geplant: Ein Versuch mit dem Kernspintomographen (fMRT) aus meiner Forschung sollte mit einer Interventionsstudie mit transcranieller Gleichstromstimulation (TDCS) aus seiner Forschung kombiniert werden. Gesagt, getan.

Der Kollege schien mir dann aber recht schnell die Daten bestimmter Versuchspersonen auszuschließen, die nicht zur Hypothese passten, siehe "selektive Datenauswahl" oben. Mein Verdacht, dass hier nicht alles mit rechten Dingen zugeht, interessierte aber niemanden. Stattdessen entstand eine Meinungsverschiedenheit darüber, wer nun Erst- und Letztautor sein würde, die wichtigsten Stellen auf der Autorenliste.

Letztlich lief es darauf hinaus, dass ich, der den Großteil der experimentellen Arbeit und 100% der Schreibarbeit für das erste Manuskript geleistet hatte, die erste Stelle aufgeben sollte. Da ließ ich es bleiben. Mein Dateisystem verrät mir, dass dieses Manuskript seit dem 30. März 2009 unangetastet blieb. Gemäß der System-Logik gab es aber jeden Anreiz, es doch zu veröffentlichen.

Der Forscherkollege, der sich, wie ich später herausfand, auch schon lange Doktor genannt hatte, bevor er promoviert war (siehe übrigens §132a StGB), rief mich noch Jahre später in Groningen an, ob ich die Arbeit nicht doch noch veröffentlichen wolle. Das habe ich jeweils diplomatisch abgelehnt.

Dabei half mir aber auch, dass das Psychologische Institut der Universität Groningen meine Arbeit inhaltlich beurteilte und wertschätzte, und nicht nur auf die Anzahl und die Zeitschriften meiner Publikationen schielte. Das ist eine alternative System-Logik, die meiner Erfahrung nach heute leider eher die Ausnahme als die Regel ist.

Den Ruf wahren

In der Reportage über den Fall Birbaumers im SZ-Magazin wird noch ein anderer interessanter Aspekt genannt, der die Sache weiter verkompliziert: Da äußern sich die - aus besagten Gründen lieber anonym bleibenden - Forscherkollegen dahingehend, dass hier der Ruf eines ganzen Forschungsgebiets auf dem Spiel stehe, eben das der Gehirn-Computer-Schnittstellen. Wenn nun einer Koryphäe aus diesem Gebiet wissenschaftliches Fehlverhalten nachgewiesen wird, dann beschädige das möglicherweise das ganze Feld.

Das ist nun ein hervorragendes Beispiel strategischen Denkens, das einerseits menschlich nachvollziehbar ist, die Sache andererseits aber nur schlimmer macht. Denn für das Forschungsgebiet wäre es natürlich besser gewesen, wenn die Fachkollegen die Probleme selbst aufgedeckt hätten und das nicht einem idealistischen Informatiker überlassen hätten, der dem Anschein nach dafür jetzt auch noch von seinem Arbeitgeber geschasst wurde. So viel zum Mythos, die Wissenschaft korrigiere sich auf lange Sicht selbst.

Dieser Arbeitgeber könnte selbst einen Interessenkonflikt in der Sache haben. So wird in der SZ-Reportage darauf verwiesen, dass die Universität Tübingen ihren Ruf als Exzellenzuniversität zu verlieren hat. Es könnte durchaus sein, dass Birbaumers Name in der milliardenschweren Bewerbungsrunde großes Gewicht hatte.

So verrät mir das Web of Science, dass er 811 Veröffentlichungen hat, von denen neun mehr als 500-mal zitiert wurden. Die Nature-Journals tauchen dabei zehnmal auf, Science einmal, PNAS viermal. Mitveröffentlichte Daten gebe es übrigens nur für sieben, also nicht einmal ein Prozent.

So hat auch die Exzellenzuniversität Tübingen durch eine Aufklärung nichts zu gewinnen und möglicherweise viel zu verlieren. Das folgt aus der System-Logik. Was jetzt geschieht, wo sich die Probleme nicht länger leugnen lassen, dürfte vor allem Schadensbegrenzung sein.

Im Falle Hausers hatte sich die Harvard-Universität übrigens sehr bedeckt gehalten und auch die Frage des Vorsatzes offengelassen. In dieser Hinsicht war die Universität Tübingen bisher immerhin transparenter.

Die Göttinger Sieben

An dieser Stelle will ich einen kurzen historischen Exkurs einschieben: Bewegen wir uns 450km nördlich von der Eberhard-Karls-Universität Tübingen (laut Selbstdarstellung "ein Ort der Spitzenforschung und der exzellenten Lehre"), dann gelangen wir zur Georg-August-Universität Göttingen ("zum Wohle aller"). Dort ereignete sich 1837 eine Revolte sieben widerspenstiger Professoren, eben der Göttinger Sieben, die sich gegen den Staatsstreich des neuen Königs Ernst August I. stellten.

Dieser erklärte das unter der Herrschaft seines Bruders Wilhelm IV. verabschiedete liberale Staatsgrundgesetz des Königtums Hannover, auf das die Professoren vereidigt worden waren, für nichtig. Denn es war ja ohne seine Mitwirkung zustande gekommen. Zu den dagegen protestierenden Sieben zählten auch die Germanisten und Rechtswissenschaftler Jacob und Wilhelm, besser bekannt als Gebrüder Grimm.

Amts- und Würdenträger der Universität fielen den Göttinger Sieben schnell in den Rücken und dienten sich lieber beim neuen König an. Gut für die Karriere wird es wohl gewesen sein. Schlecht jedoch für das Ansehen der Uni, an die in den Folgejahren weniger Studierende und hochkarätige Professoren kamen.

Von den sieben Widerspenstigen, die ihrer Ämter enthoben wurden, verbannte der König sogar drei des Landes, darunter Jacob Grimm. Dieser Workaholic begann schon im Folgejahr zusammen mit seinem eher müßiggängerischen Bruder Wilhelm die Arbeit am Deutschen Wörterbuch. Dieses wurde, übrigens auch von der DFG gefördert, erst 1961 fertig, also 123 Jahre später, und umfasst 17 Bände, die heute jeder auf den Seiten der Universität Trier ("eine junge Universität in Deutschlands ältester Stadt") gratis im Internet durchstöbern kann.

Die Grimms fanden schon bald ein neues Zuhause, nämlich in Berlin beim preußischen Friedrich Wilhelm IV., der damals für seine liberale Haltung und Wissenschaftsfreundlichkeit bekannt war. In der Zwischenzeit hatten Bürger die Sieben mit Spendenaktionen unterstützt.

Das sei noch dem Informatiker mit auf den Weg gegeben, dessen Vertrag von der Universität Tübingen nicht verlängert wurde. Er findet bestimmt bald etwas Besseres. Und Günter Grass hat auch dargelegt, dass man vom durchschnittlichen Professor nicht zu viel Rückgrat erwarten sollte. (Lesetipp: Grimms Wörter.)