TTIP-Wachstumsstudien: neoliberale Holographie
Seite 2: Die abenteuerlichen Modelle der Führungs- und Funktionseliten
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Was ist nun von diesen Zahlen zu halten? Wie kommen sie zustande? Hier wird es schnell kurios, wirft man erst einmal einen genaueren Blick auf das Vorgehen. Grob lautet die Antwort natürlich: Modelle, Modelle, Modelle! Kern der Studien ist die Verwendung von sog. allgemeinen Gleichgewichtsmodellen ("CGE-Modelle"), die die Ökonomie des gesamten Erdballs von der Mikroebene aufwärts nachbilden sollen. Hauptpunkt der Studien ist, dass es durch einen Abbau von Zöllen und nicht-tarifären Handelshemmnissen zu mehr Konkurrenz und einer Umlenkung von Handelsströmen käme, was dank Modellannahmen den allgemeinen Wohlstand befördern soll.
In der CEPR-Studie werden dazu zunächst die nicht-tarifären Handelshemmnisse "ermittelt", die es ja per Freihandelsabkommen zu senken gilt. Da das CGE-Modell diese nur in Form gesenkter Kosten als Modelleingabe akzeptiert, müssen erst entsprechende Umwandlungen vorgenommen werden. Woher aber bekommt man überhaupt irgendeine Zahl für die nicht-tarifären Handelshemmnisse und was soll sie bedeuten? Bei diesen handelt es sich schließlich um abstrakte Konstrukte, die in irgendeiner Weise das "Ausmaß" widerspiegeln, in dem unterschiedliche Standards und sonstige "Hindernisse" im Handel zwischen Staaten bestehen. Hier verweisen die Autoren wiederum auf eine fremde Studie im Auftrag der EU-Kommission aus dem Jahr 2009.8 In dieser wurde eine umfangreiche Befragung von Unternehmen durchgeführt. Diese hatten auf einer schlichten Skala von 0 bis 100 abzuschätzen, in welchem Ausmaß es Handelshemmnisse in ihrem Wirtschaftssektor zwischen den Handelsräumen gibt.9
Welche Gültigkeit haben derartige Befragungen und die durch die Befragung erhaltenen Zahlenwerte? Egal, solange man sie nur nachfolgend als Datengrundlage für komplexe Modelle verwenden kann. Und dies war dann der nächste Schritt in jener Studie. Die ermittelten Umfragewerte als Maß für die nicht-tarifären Handelshemmnisse wurden anschließend nämlich in sog. "Gravitationsmodelle" eingespeist, über die man sie in Handelskosten (als eine Art Äquivalent zu den Zöllen) umzuwandeln können glaubte.
Die "Gravitationsmodelle"10 sollen dem leichtgläubigen Leser natürlich gehörig Respekt einflößen, indem ihr Name die Assoziation zur exakten Physik auslöst. Die vorherrschende Ökonomie versteht sich eben als Sozialphysik, auch wenn sie sich hier lächerlich macht, weil sie durch eine hohl nachgeahmte Mathematisierung am eigentlichen Ziel von Naturwissenschaft weit vorbeizielt, nämlich tragfähige Kausalaussagen über die beobachtbare Welt zu machen.11 Im Vordergrund der vorherrschenden Ökonomie scheint eher zu stehen, intransparente, komplexe Modelle zu entwerfen, mit denen man sich den nötigen Respekt einwerben kann, um Unheil verkündende politische Absichten zu rechtfertigen.
Die Weltökonomie als Gleichungssystem
Nun kommt der Hauptschritt in der CEPR-Studie: Die auf mysteriöse Weise und frei von Gültigkeitsangaben erfolgte Aus-dem-Hut-Zauberei von Größen, die die nicht-tarifären Handelshemmnisse in Form von Kosten widerspiegeln sollen, werden in das CGE-Modell eingegeben, um schließlich die Veränderungen der Weltökonomie durch das Handelsabkommen zu modellieren.
Das verwendete Modell ist dabei von der Verrücktheit seiner Annahmen wiederum so aufgestellt, dass es einem die Sprache verschlägt. Auf Produktionsseite wird noch halbwegs plausibel versucht, die Unternehmen aller Sektoren sowie ihre Verbindungen durch Vorleistungen zu modellieren. Sie erhalten wiederum ihre Produktionsfaktoren durch die Privathaushalte (z.B. Arbeit, Kapital). Nun jedoch kommt es: Die Seite der Privathaushalte ist durch einen einzigen!!! "repräsentativen" Privathaushalt im Modell vertreten. Hier wird also nicht nur Kommunismus unterstellt12, sondern Ungleichheit auf der Haushaltsseite wird von vornherein aus dem Modell komplett ausgeschlossen!
Nun weiß man auch, weshalb in der Ergebnisdarstellung der Studie wie o.g. gerade vom Vierpersonenhaushalt die Rede ist, welcher ja mehr Einkommen erhalten soll, wenn erst einmal ein Freihandelsabkommen eingeführt wurde. Gemäß Modell gibt es eben gar nichts anderes als den Vierpersonenhaushalt. Dass dabei die reale Ökonomie von struktureller Ungleichheit auf allen Ebenen gekennzeichnet ist, davon will das Modell nichts wissen. Die Benennung des Vorgehens als Irreführung der Bevölkerung wäre hierbei noch eine liebevolle Untertreibung.
In der CEPR-Studie ist die Weltwirtschaft dank des verwendeten Modells nicht mehr als ein System von 31 Gleichungen, die 11 Mal für die unterschiedlichen Regionen mit entsprechend anderen Parametern wiederholt werden13, wobei die üblichen weltfremden neoklassischen Annahmen14 verwendet wurden, um zu den Gleichungen zu kommen.
Zeit ist irrelevant
Das Highlight kommt jedoch noch: Bei den verwendeten CGE-Modellen in der CEPR- und auch in der ifo-Studie handelt es sich nämlich um statische Modelle, d.h., dass Zeit in ihnen überhaupt nicht vorkommt. Hups?! Wann treten die Wirkungen eines Freihandelsabkommens dann also ein? In einem, in zehn, in tausend oder vielleicht in einer Milliarde Jahren?
Hier behilft man sich in der CEPR-Studie mit einer eleganten Formulierung: "The results are reported with respect to an economic benchmark projected out to the year 2027, which implies that they capture the impact of the agreement a full ten years after the implementation of the agreement…"
Es wird also eine "Projektion" der Ergebnisse auf das Jahr 2027 vorgenommen, was "impliziert", dass die Auswirkungen innerhalb von zehn Jahren nach geplantem Inkrafttreten des Abkommens (2017) eintreten. Die Autoren stellen dies also ohne jeden weiteren Kommentar in den Raum. Das muss man sich vor Augen halten: Da wird ein aufgeblasenes Prozedere aufgebaut, unter Verwendung enormer mathematischer Modelle, die eine Hyperexaktheit vorgaukeln, nur um am Ende an einem wirklich interessanten Punkt, wann nämlich die Parallelwelt des neuen "Gleichgewichts"15 denn nun eintritt, einfach ins Blaue hinein zu raten. Aber nein, es wird ja gar nicht geraten, sondern nur eine Antwort gegeben, die etwas "impliziert". Die Autoren müssten eigentlich selber wissen, dass ihre Aussage für das Jahr 2027 komplett bedeutungslos ist, nicht nur, da die ökonomische "Wissenschaft" ja nicht einmal belastbare BIP-Prognosen für das nächste Jahr abgeben kann, sondern auch, weil Zeit vom Modell überhaupt erst nicht erfasst wird.
Die Misere ist jedoch weit tiefgehender, schließlich ist dieses neue "Gleichgewicht" nicht mehr als ein Phantasiewesen, eine bloße mathematische Spielerei, allerdings eine hoch gefährliche, dient sie doch zur Pseudolegitimation von Entscheidungen, die viele Millionen Menschen betreffen.
In der Modellwelt der Freihandelsverfechter sind ökonomische Umbrüche nicht mehr als der Umstand, dass Variablen in Gleichungen neue Werte annehmen. Verglichen werden dann unterschiedliche Lösungen für diese Gleichungen (je nach Szenario zur Reduktion der ominös ermittelten nicht-tarifären Handelshemmnisse), um die Menschen mit falschen Versprechungen zu locken. Man bekommt den Eindruck, dass die tatsächlichen ökonomischen Prozesse gar nicht interessieren.
Ökonomische Prozesse als ein Vorgang in der Zeit sind schließlich gar nicht Bestandteil der Modelle. So muss es dann auch nicht verwundern, wenn man wiederum in der ifo-Studie für die Parallelwelt eines neuen "Gleichgewichts" (unter dem Freihandelsabkommen) das Realeinkommen dadurch erhöht sieht, dass die Preise für Deutschland 16,19% unterhalb des (beobachteten) parallelen Basisszenarios von 2007 liegen sollen.16 Hierbei unterstellen die Autoren einen vollen Durchbruch der Freihandelseffekte in "10-20 Jahren"17. 16% niedrigere Preise gegenüber einer Situation ohne Freihandelsabkommen verteilt auf 10-20 Jahre? Dass hier in einem ohnehin deflationären Umfeld dem Freihandelsabkommen ein Deflationsschub unterstellt wird, scheint die Autoren wohl nicht zu irritieren. Warum auch, die Welt ist schließlich solange in Ordnung, wie es gelingt, die Modellgleichungen zu lösen.
NAFTA als Mahnmal
Was ist also von Prognosen basierend auf völlig weltfremden Annahmen zu halten? Der neoliberale Hohepriester Milton Friedman soll auf Kritik hin gesagt haben, dass Annahmen beliebig verrückt sein dürfen. Ja, das stimmt, so ist es z.B. in der Physik. Doch überprüft diese dafür fortwährend die Angemessenheit ihrer Annahmen, indem sie aus ihnen Vorhersagen ableitet, die sie schließlich mit der beobachtbaren Welt vergleicht. Wie verhält es sich hier mit der Ökonomie und speziell mit der Gültigkeit ihrer Annahmen im Bereich von Freihandelsabkommen?
Hier sei abschließend noch auf eine Studie18 der Universität von Minnesota verwiesen. Diese verglich die damaligen CGE-Modellvorhersagen für das nordamerikanische Freihandelsabkommen (NAFTA, eingeführt 1994) mit den später dann tatsächlich eingetretenen Verhältnissen. Bezogen etwa auf die Veränderungen von Export und Import für die USA, Kanada und Mexiko lagen die Modelle nicht nur um teilweise mehrere Größenordnungen daneben, sie lieferten bezogen auf die einzelnen Wirtschaftssektoren sogar systematisch falsche Ergebnisse.19
Auch für Mexiko wurde damals aufgrund des Freihandelsabkommens ein Wachstumsschub vorhergesagt. Wer nun in die Zahlen schaut, sieht, dass seit der Einführung von NAFTA das Wachstum zurückging, während die Arbeitslosigkeit stieg. Besonders der Agrarsektor hat seitdem unter US-Billigimporten zu leiden und viele Bauern verloren ihre Existenzgrundlage.
Sollte TTIP tatsächlich durchkommen, wird man sich später wohl nicht mehr an die damaligen Versprechungen rund um Wachstum und Beschäftigung erinnern. Groß ist die Amnesie in Bezug auf Politisches und weit offen sind die Fluchttüren für die Glaskugelprognostiker. Weisen wir Beschäftigungsversprechen aufgrund hanebüchener Modelle also einfach als das zurück, was sie sind: Neoliberale Holographie im Dienste des Big Business.
Der Text von Jascha Jaworski ist zuerst auf dem Blog Maskenfall erschienen.