TV-Traum von einer klassenlosen Medizin

Bild im Hintergrund: "In aller Freundschaft", ARD

Sachsenklinik und Bergdoktor: Wie ARD und ZDF soziale Utopien kultivieren – und die Zuschauer sich einer weniger idyllischen Realität gegenübersehen

Zugegeben: Von dem, was ich hier schreibe, sollte ich in Kreisen, in denen ich verkehre, nicht mal reden. Denn so was gilt den meisten dort als absolutes No-Go: Im Ersten oder Zweiten Serien schauen – und dann noch In aller Freundschaft oder Der Bergdoktor. Geht überhaupt nicht. Allein die Vorstellung erzeugt, wenn man es dann doch mal ins Gespräch bringt, mentale Panik, wird assoziiert mit Übelkeit, Knoten im Kopf, totaler Hirngrütze.

Genauso wie die, die mir heute einen Vogel zeigen würden, habe ich bis vor dem Start in den Serienherbst 2021 selbst noch gedacht und tatsächlich bin ich so ziemlich gegen meinen Willen in die Sache hineingezogen worden, aber das Wie und Wo ist Privatsache und gehört nicht hierher.

Nur so viel: Alle Versuche, mich da wieder herauszureden, sind verpufft, und zwar nicht, weil ich etwa aufgegeben hätte und dem Schicksal ergeben. Nein, mir sind schlicht die Gegenargumente ausgegangen auf die Frage, was denn blöd daran sein sollte, wenn ein Fernsehfilm unermüdlich und stets mit unverbrauchter Empathie für Patientenrechte Werbung macht sowie Woche für Woche Gegenentwürfe kreiert gegen die schnöde Wirklichkeit, der wir gesetzlich Versicherten uns fügen müssen.

Termin beim Facharzt? – Kassenpatienten, bitte hinten anstellen!

Mal ehrlich, die meisten von uns kennen das doch, wenn der Besuch beim Arzt schon in Stress ausartet, bevor es überhaupt dazu kommt – bei der Terminfrage. Schon dieser, einer Behandlung vorgeschaltete Akt, kann zu einer schweren Geduldsprobe werden, vor allem wenn es um einen Facharztbesuch geht.

Wenn man sich als perfekt konditionierter Bittsteller etwa telefonisch in die Warteschleife stellt. Oder, noch einen Tick angepasster, der Gängelung des digitalen Fortschritts folgt (man will ja nicht von gestern sein) und eine Online-Direktbuchung vornimmt. Mit ein paar Klicks direkt in die Sprechstunde. Ja, so wäre das wohl beim Bergdoktor (ZDF), wenn der nicht – ganz oldschool – so analog ticken würde.

Aber bleiben wir bei der Realität. Die z.B. bei einer nach dem Zufallsprinzip gewählten orthopädischen Gemeinschaftspraxis – es hätte auch beim Dermatologen sein können – digital so aussieht: Online-Termin vereinbaren – klick – Arzt auswählen – klick – Sprechstunde: gesetzlich versichert oder privat? – klick und fertig: Termin in sechs Wochen. Versuchen wir's nur spaßeshalber einen Klick zurück auf privat: in zwei Tagen!

Eindeutiger kann ein Dienstleistungsunternehmen nicht ins Netz stellen, worum es in einem auf Wirtschaftlichkeit geeichten System nun mal geht.

Dr. Grubers Model der offenen Praxis

Demgegenüber verhält es sich bei Dr. Gruber geradezu sozialistisch. Oft muss man gar nicht selbst aktiv werden, um in die Praxis zu gelangen, sondern wird quasi eingeladen, wenn man ihm dort oben im österreichischen Ellmau über den Weg läuft:

Am besten kommen Sie morgen in der Praxis vorbei, oder geht's heute noch?

Hier wird man von einer hoch motivierten Fachfrau für Sprechstundenservice empfangen, der mit jedem Wort aus der Seele spricht, den besten Arbeitsplatz der (Berg-)Welt zu haben. Frau Linn Kemper, die sich selbst als eine Person mit einem "Kaleidoskop von Persönlichkeiten" beschreibt, erfasst jede erdenkliche Situation in jeder Hinsicht, agiert ebenso professionell wie psychologisch zugewandt. Eine Frage nach dem Versichertenstatus würde ihr nie über die Lippen kommen.

In dieser Sprechstunde sind alle gleich, nach Herkunft und Status wird nicht geschaut. Und so kann es der guten Linn nicht passieren, dass sie von ihrem Chef zusammengefaltet wird, weil sie DAK mit Debeka verwechselt hat und dadurch nicht Herr Krösus, sondern Frau Hinz bevorzugt vorgelassen wurde.

Langes Warten kennt man am Wilden Kaiser sowieso nicht. Logischerweise ist Linn vollkommen tiefenentspannt und hat den Laden bürotechnisch so im Griff, dass der liebe Herr Doktor sich um das kümmern kann, was Patienten plagt. Dabei nimmt er sich alle Zeit der Alpenwelt.

Dialoge mit Dr. Gruber sind keine simplen Patientenbefragungen, es sind ganzheitliche Gesprächstherapien. Kein Wunder, dass Mehrfachbesuche sich bei ihm häufen. Und für Dr. Gruber selbst sind Hausbesuche keine lästige Pflicht, sondern persönliche Anliegen.

Einräumen muss man, dass sich Dr. Grubers Praxis nicht in Deutschland befindet, sondern in Österreich, aber ob die Behandlung beim Bergdoktor mit der Lebenswirklich unserer Alpennachbarn kompatibel ist, darf bezweifelt werden.

Zurück in der realen Sprechstunde: Zeitkonten und Budget

Mit der Realität in deutschen Praxen hat das lange nichts mehr zu tun. Ein Gespräch mit dem Arzt dauert hierzulande rund siebeneinhalb Minuten. Im internationalen Vergleich ist das Mittelmaß – etwa so wie in Simbabwe und Bahrain.

Es wird deshalb geraten, sich als gesetzlich Versicherter möglichst gut darauf vorzubereiten. Jedes nicht erwähnte Wort kann schmerzliche Folgen haben. Zeit ist in unserem Gesundheitswesen Geld und abgerechnet wird auf Grundlage vom EBM (Einheitlicher Bewertungsmaßstab), überwacht von der Kassenärztlichen Vereinigung. Jede Leistung und jeder Zeitaufwand ist in einem vorgegebenen Punktesystem genaustens quotiert.

Für jede Praxis wird ein von der GKV taxiertes Budget festgelegt, das den gesamten Aufwand für eine Behandlung beschränkt. Handelt ein Arzt über diese Grenzen hinaus, wird dies nicht mehr vergütet.

Das ist bei privat Versicherten anders. Bei ihnen kann jede Leistung individuell über die GOÄ (Gebührenordnung für Ärzte) auf Honorarbasis in Rechnung gestellt werden, und zwar bis zur fünffachen Höhe der gesetzlich festgelegten Grundvergütung.

Das System bevorzugt und unterstützt also solche niedergelassenen Mediziner, die möglichst zahlreich Privatpatienten:innen in ihrer Praxis begrüßen dürfen. Nur allzu verständlich, dass diese finanziell besser gestellten Menschen so privilegiert behandelt werden. Niemand würde jemanden verprellen, der einen Haufen bare Münze ins Haus bringt.

Praxiserprobte Patienten:innen der gesetzlichen Klasse wissen, dass zum letzten Quartalsende des Jahres keine nennenswerte Behandlung mehr zu erwarten ist, weil sowohl die Zeitkonten als auch das Budget für Arzneimittel und Heilverordnungen aufgebraucht sind. Jetzt gibt es allenfalls noch etwas auf grüne Rezepte für Selbstzahler.