Tagebuch der Inneren Sicherheit

Cover des CILIP-Hefts über die Coronavirus-Pandemie

Die Zeitschrift Cilip hat eine Chronologie von drei Monaten Corona-Lockdown veröffentlicht. Sie sollte auch im Verlauf der neuen Normalität und dem Kampf um Deutungshoheit fortgeschrieben werden

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"Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) empfiehlt, Events mit mehr als 1000 Menschen abzusagen. Einige Bundesländer beginnen daraufhin mit der Umsetzung". Mit dieser auf den 8. März datierten Meldung beginnt das von der Redaktion der bürgerrechtlichen Zeitschrift Cilip herausgegebene "Tagebuch der Inneren Sicherheit".

In chronologischer Auflistung können wir noch einmal nachlesen, wie eine Gesellschaft innerhalb von wenigen Tagen stillgelegt wurde. Denn bald ging es nicht mehr um Veranstaltungen mit 1000 Menschen. In manchen Regionen war sogar das Lesen eines Buches auf einer Parkbank verboten.

Am 5. April nimmt die Polizei drei Männer fest, nachdem sie drei Mal in verschiedenen Wohnungen eines Mehrfamilienhauses angetroffen worden waren. Nachbarn hatten die Polizei gerufen, weil sich hier Bewohner eines Hauses, die nicht in einer Wohnung lebten, trafen. In Bayern wurde am 29. April ein 16-Jähriger für mehrere Tage im Gefängnis inhaftiert, weil er mehrmals die Corona-Ausgangsbeschränkungen missachtet haben soll. Insgesamt haben sich laut Bildzeitung Ende April sieben Menschen für ein bis zwei Wochen im Gefängnis befunden, weil sie sich nicht an die Corona-Regeln gehalten haben soll.

In sachlicher Sprache vermittelt der Cilip-Band noch einmal, wie in wenigen Tagen eine hochkomplexe Gesellschaft praktisch in den Ruhezustand gebracht wurde. Die Stärke der chronologischen Darstellung ist, dass völlig unterschiedliche Nachrichten nebeneinander stehen. Da wird von Mitte März von immer neuen Schließungen von Einrichtungen des öffentlichen Lebens berichtet. Bald kommen erste juristische Versuche, sich dagegen zu wehren, die zunächst unisono abgelehnt wurden.

Nicht die Justiz, sondern der öffentliche Druck führten zu Lockerungen

Auch im April blieben in der Regel öffentliche Proteste, bei denen alle Hygienemaßnahmen eingehalten werden sollten, verboten, die Gerichte bestätigten diese Maßnahme mit Verweis auf die Sondersituation der Pandemie. "Der öffentliche Druck hat eher zur Lockerungen der Versammlungsverbote geführt, als die Gerichte, einschließlich des Bundesverfassungsgerichts", erklärte Tom Jenissen von Cilip-Redaktion im Gespräch über den Corona-Shutdown.

Im Tagebuch sind auch die ersten Straßenproteste vermerkt. Für den 28.März haben zwei Termine angestanden. Am Mittag gab es von einen Mietenbündnis eine Kundgebung in Berlin-Kreuzberg, an der sich 150 Menschen beteiligten. Am Nachmittag versammelte sich einige Dutzend Personen vor der Volksbühne am Berliner Rosa-Luxemburg-Platz. Die angemeldete Kundgebung wurde von der Polizei aufgelöst, einige Teilnehmer und auch Pressevertreter erkennungsdienstlich behandelt (Wenn Demonstranten zu Gefährdern erklärt werden).

Wenige Wochen später sollten die Proteste rund um den Rosa -Luxemburg-Platz die Medien und Politiker aufregen. Denn sie fanden bald Zuspruch auch in anderen Städten der Republik, waren aber nie eine Massenbewegung. Ab Mitte April zeigte sich, dass sie eine teilweise rechtsoffene Bewegung mit irrationalen Elementen wurde.

In der Cilip-Chronologie kann man diese Entwicklung noch mal gut nachverfolgen. Doch dort wurde auch gezeigt, dass immer wieder antirassistische Initiativen kreativ gegen das Versammlungsverbot auf die Straße gegangen sind. Auch die Schlange vor einer Potsdamer Bäckerei, mit der am 11. April Menschen in Zeiten der Demonstrationsverbote für die Rechte von Geflüchteten Gesicht zeigten und die bald Vorbild für ähnliche Aktionen in anderen Städten werden sollte, fand Eingang in die Cilip-Chronik.

Es ist ein besonderes Verdienst, nicht nur die Gesetzesverordnungen, sondern auch den kreativen Widerstand dagegen dokumentiert zu haben. In der nachträglichen Gesamtschau zeigt sich auch noch einmal ein Grundfehler, der schon am 28. März deutlich wurde. Die Proteste am Rosa-Luxemburg-Platz waren nicht nur räumlich von den Mietenprotesten getrennt. Es wurde auch kein Bezug darauf genommen. Hier ist auch ein wichtiger Erklärungsansatz dafür, dass sich auf den Hygienedemonstrationen bald rechte und irrationale Kräfte sehr wohl fühlten und Linke berechtigt auf Distanz gingen.

Doch das Cilip-Tagebuch zeigte eben auch die vielen anderen emanzipativen Versuche, sich autoritärer Staatlichkeit zu widersetzen. Dabei ging es oft auch um die Artikulierung sozialer Fragen. Auch die ab Ende März häufig verwendete Parole "No one left behind" ist ja ein eminent sozialpolitisches Postulat. Damit sind eben alle Menschen gemeint, die in der kapitalistischen Profitgesellschaft nicht zu den Profiteuren gehören - und das sind alle Menschen, die nur ihre Arbeitskraft zu verkaufen haben und damit oftmals nicht überleben können.

Willkommen in der neuen Normalität - wenn Wahrheit zensiert wird

In der zweiten Aprilhälfte begann dann die politische Debatte um die neue Normalität. Der kapitalistische Alltag sollte wieder funktionieren, während viele anderen Lebensaktivitäten weiterhin gar nicht oder unter Vorbehalt stattfinden sollten. Zudem wurden ab Mitte April die ersten Quarantänemaßnahmen bekannt, die nun zur neuen Normalität gehören werden.

Dass es nicht die alte kapitalistische Normalität ist, sondern dass der Corona-Lockdown auch der Durchsetzung der Akkumulationsweise des digitalen Kapitalismus diente, ist nicht das Thema der Cilip-Chronologie. Was aber im Tagebuch Erwähnung fand, waren die antichinesischen Kampagnen in Teilen der Bevölkerung und die EU-Position gegen China. Der Grund lag auch daran, dass die chinesische Regierung, die gerade die schlimmsten Folgen der Pandemie überwunden hatte, medizinische Hilfe nach Europa auch nach Deutschland lieferte. Dass wurde von den EU-Gremien als Kampfansage aufgefasst. Bald wurde Kampf gegen angebliche chinesische Fakenews und Desinformation zur offiziellen EU-Politik und auch hiesige Medien schlossen sich oft weitgehend kritiklos an. Es geht um den globalen Kampf der kapitalistischen Zentren EU, USA und China. Nicht wenige Medien machen sehr deutlich, dass sie dabei an vorderster Front dabei sein wollen. Zur angeblichen Desinformation gehörte bald auch die Behauptung, dass es in der Coronakrise innerhalb der EU wenig Solidarität untereinander gegeben habe, was aber ein vielfach belegter Fakt war.

News und Fakenews oder Orwell 2020

Da werden unter dem plakativen Motto "Fakten für die Demokratie" beim Faktenchecker Correctiv auch mal Tatsachenbehauptungen zu Fakenews erklärt. Und da wird die Dokumentation Inside Wuhan wenige Stunden vor der geplanten Ausstrahlung aus dem Programm genommen (Fake-News-Paranoia?, nachdem es eine kurzzeitige Kampagne gegen den Film gab, weil er Bilder aus China verwendet hatte. Tatsächlich dürfte kaum einer der Kritiker die Doku gesehen haben, bevor er sich an der Kampagne beteiligte. In ihr wird schließlich an mehreren Stellen die chinesische Politik kritisiert, mehrere Interviewpartner, darunter gleich mehrmals der Virologe Christian Drosten, kommen zu Wort und ordnen die gezeigten Materialien ein. Immerhin hat die taz, die anfangs auch mit einen kritischen Artikel vor chinesischer Propaganda warnte, nach der Zensur ihre Position korrigiert.

Der Film ist keine CICC-Produktion. Vielmehr hat die vom SWR beauftragte deutsche TV-Produktionsfirma Gebrüder Beetz aus den rund 67 Stunden des von CICC gelieferten Rohmaterials einen neuen Film geschnitten. Alle im CICC gemachten Aussagen wurden von SWR und Beetz sensibel gegenrecherchiert und werden im Film von deutschen Experten wie dem Virologen Christan Drosten oder Lothar Wieler, Präsident des Robert-Koch-Instituts, eingeordnet und bewertet. Das eigentliche Problem ist, dass sich die Zuschauer*innen nun kein eigenes Urteil bilden können. Denn zur Ausstrahlung kam es nicht.

Taz

Alle anderen Medien, die die Kampagne gegen den Film, ohne ihn überhaupt gesehen zu haben, korrigierten sich nicht. Dafür kam in dem Artikel in der Süddeutschen Zeitung, der die Kampagne mit auslöste, eine Mareike Ohlberg von der Denkfabrik German Marshall Fund zu Wort, die davor warnte, dass China "an einer neuen Weltordnung der Medien" arbeite, was Kooperationen mit Sendern im Ausland mit einschließe.

Bei dem genannten German Marshall Fund handelt es sich um eine Denkfabrik der Proatlantiker, deren Ziel es ist, überall russische und chinesische Störmanöver aufzuspüren. Natürlich gibt es auch prorussische und prochinesische Denkfabriken. Ziel journalistischer Arbeit müsste es jedoch sein, deren Arbeit insgesamt kritisch zu hinterfragen und nicht, wie bei der Wuhan-Doku geschehen, deren Lautsprecher zu sein.

In der neuen Normalität werden wir häufiger einer selektiven Quarantäne und einer selektiven Zensur begegnen, die sich aber als Kampf gegen Fakenews vornehmlich aus China und Russland ausgibt. Wir werden als Korrektiv daher auch weiterhin Medien wie Cilip brauchen. Die Redaktion sollte ihr Tagebuch der Inneren Sicherheit daher auch in Zeiten der neuen Normalität fortsetzen.

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