Tarifabschluss bei der Post: Ein Ergebnis mit Fragezeichen

Seite 2: Warnstreiks usw.: ein Tariftheater zur Mitgliedergewinnung?

Ging es hier also wieder einmal um ein Tariftheater? Dies vermuteten schon einige Medien im Vorfeld und der Abschluss scheint ihnen recht zu geben. Offenbar war die ganze Tarifauseinandersetzung nicht auf die Durchsetzung der anfangs formulierten Forderungen gerichtet.

Verdi wollte sich vielmehr unübersehbar als die kämpferische Alternative zu den anderen Gewerkschaften präsentieren und so Mitglieder für sich gewinnen. Verdi-Chef Frank Werneke verkündete stolz, "rund 45.000 Neueintritte bei der Gewerkschaft seien nicht zuletzt auf die Tarifauseinandersetzungen beim ehemals staatlichen Unternehmen zurückzuführen" (Junge Welt, 17.3.23).

Mitglieder und Sympathisanten sollten sich bei den Streikaktionen anscheinend im Gemeinschaftsgefühl ergehen. Man war in der Öffentlichkeit präsent, erntete auch Anerkennung, das war's dann. Damit die aktivierten Mitglieder nicht auf die Idee der Durchsetzung ihrer Forderungen kommen, wurde der Streik abgeblasen und eine schnelle Vereinbarung präsentiert.

Und jetzt der Abschluss im Öffentlichen Dienst?

Zu erwarten ist, dass Verdi hier seine Mitglieder genauso verschaukelt wie beim Postabschluss und eine Vereinbarung akzeptiert, die statt Reallohnsicherung einen Strauß von Sonderzahlungen bietet – ebenfalls in Übereinstimmung mit der Regierungslinie.

Vor der Tarifrunde im Öffentlichen Dienst wurde anscheinend auch kein Abschluss angestrebt, der bei den Mitgliedern zu große Erwartungen weckt. Schließlich wird bei Verdi-Mitgliedern der Spruch des ehemaligen Vorsitzenden Bsirske kolportiert, der gewarnt haben soll: Wer die Mitglieder auf die Bäume treibt, müsse sie auch wieder herunterholen können.

Solchen Warnungen kann man entnehmen, dass die Verdi-Funktionäre ihre Mitglieder offenbar als Tarifstatisten behandeln, die sich auf Kommando als Streikkomparsen aufführen, bei Bedarf aber auch wieder brav arbeiten gehen. Das Problem scheint die Tarifkommission zurzeit wieder bei ihren Mitgliedern zu sehen.

Denn die prekäre Lage ist auch aus Verdi-Sicht klar:

Die zentrale Herausforderung für die Tarifpolitik besteht in diesen Zeiten darin, trotz der starken Preissteigerungen die Realeinkommen der Beschäftigten und ihrer Familien zu sichern. Im Jahr 2022 ist dieses Ziel deutlich verfehlt worden, die preisbereinigten Reallöhne sanken um über drei Prozent, nach der "alten" Berechnung der Inflationsrate um über vier Prozent. Dies kann der Tarifpolitik allerdings nicht angelastet werden, da ganz überwiegend noch Tarifverträge galten, die in Zeiten der Pandemie bei viel geringeren Inflationsraten abgeschlossen worden waren.

WiPo, 1/23

Und die Verdi-Mitglieder?

Das muss die Gewerkschaft natürlich herausstellen: Die Misserfolge kann man ihr nicht anlasten. Und die Mitglieder müssen es glauben. Aber werden sie sich dieses Ergebnis jetzt bieten lassen? Es liegt an ihnen, in der Urabstimmung zum Tarifabschluss, die noch bis zum 30. März läuft, diese Vermutung entweder zu bestätigen, indem sie Ruhe geben, oder zu dementieren, indem sie dagegen stimmen. Unmut gibt es an der Verdi-Basis.

"Viele Kollegen wissen", so äußerte sich ein Postzusteller, "und zwar weil Verdi das kommuniziert hat, dass diese Sonderzahlung langfristig weniger Geld in der Tasche bedeutet. Außerdem wird anteilig auf die Arbeitszeit ausgezahlt", was gerade bei den Teilzeit- und Abrufkräften weitere Einbußen bedeutet.

Kritische Gewerkschafter fürchten auch, dass der jetzige Abschluss von der Arbeitgeberseite propagandistisch genutzt wird und die Behauptung untermauert, dass mehr einfach nicht drin ist. Darauf sollte man nicht hereinfallen!

Wer natürlich schon beim Aufstellen der Forderung davon ausging, dass wie gewöhnlich bloß die Hälfte und damit ein Reallohnverlust rauskommen wird, der liegt mit diesem Abschluss richtig. Wer sich gegen den Reallohnverlust stemmen will, muss sich mit der Gewerkschaftsführung anlegen.

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