Taurus-Leak: Der Irrsinn der 38 Minuten
Deutsche Offiziere diskutieren Lieferung von Marschflugkörpern an Kiew – und die Verschleierung. Fall belegt zunehmenden Konfliktwillen. Größter Widerspruch bei Blick auf Putin.
Was sich gerade in Deutschland abspielt, wenn es um Russland und die Ukraine geht, ist eine von der Realität weit entfernte Debatte, die in den luftigen Höhen anschwellender Kriegsbegeisterung ihr Unwesen treibt, ohne Rücksicht auf reale Folgen.
Die Realität und die Debatte
Fakt ist: Militärisch kann die Ukraine nicht siegen, egal, welche Waffen sie noch bekommt.
Die Fähigkeit der Nato, zu ersetzen, was im Krieg zerstört wird, ist "suboptimal". Das größte Manko der Ukraine jedoch sind ausgebildete Soldaten mit Fronterfahrung, geschult im Umgang mit westlicher Technik. Es sind zu viele Kombattanten gefallen, und das Reservoir ist zu klein.
Taurus-Lieferungen und Deutschland
Die deutschen Militärs, die am 19. Februar 2024 über den Taurus und dessen Verwendung fachsimpelten, schätzten das ebenfalls so ein: Auch Taurus-Lieferungen werden den Kriegsverlauf nicht ändern.
In Deutschland ist nun das Geschrei groß über den Abhör-Gau im Verteidigungsministerium. Wie peinlich, dass alles in russische Hände gelangte. Der Feind hörte mit.
So wird der eigentliche Super-GAU verdeckt: Zur Vorbereitung einer Unterrichtung des Ministers sinnieren deutsche Generäle über Möglichkeiten der Zerstörung der russischen Kertsch-Brücke. "Wir alle wissen, dass sie die Brücke rausnehmen wollen."
Militärstrategie der Ukraine
An diesem Punkt machten sich alle Gesprächsteilnehmer ein militärisches Ziel der Ukraine zu eigen.
Sie sind sich sicher, dass es das "Alleinstellungsmerkmal" des Taurus wäre, das hinzubekommen. Er kann in niedriger Höhe das Ziel anfliegen. Ihre größte technische Sorge ist, dass am Ende nur ein Pfeiler getroffen wird. Dann wäre die Blamage groß.
Politischer Auftrag und Diskussion
Im Gespräch geht fast alles darum, wie und in welchem Zeitrahmen man es hinbekommt, der Ukraine Taurus zu liefern, ohne dass das, was die Ukraine damit anstellt, direkt auf Deutschland zurückfällt. So lautete offenbar ihr politischer Auftrag. Der ist nun öffentlich geworden.
Die vier diskutierten, wie man Krieg gegen Russland führt, aber dabei nicht erwischt wird, im Glauben, ein bisschen schwanger wäre nicht so schlimm.
Denn die bisherige politische Festlegung innerhalb der Nato war: Wir wollen nicht zur direkten Kriegspartei gegen Russland werden. Das hieße, den Dritten Weltkrieg zu starten.
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Im nunmehr öffentlich gewordenen Gespräch wird erwogen, dass etwa die Briten, die in der Ukraine vor Ort sind, die Dreckarbeit erledigen könnten, oder, was Satellitendaten angeht, vielleicht auch die vielen, die in Zivilklamotten mit amerikanischem Akzent in der Ukraine herumlaufen. Diese Daten benötigt man, um drei Meter Zielgenauigkeit zu erreichen.
Oder macht man es vielleicht über die Industrie und setzt dort ganz unschuldig die Bundeswehr mit dazu. Wie bekommt man das hin, die Taurus-Marschflugkörper an Flugzeugen zu befestigen, und wie viele haben die Ukrainer noch davon?
Konfliktvermeidung und Kriegsgefahr
Diejenigen, die jetzt öffentlich sagen, dass das geleakte Gespräch beweise, dass man den Taurus auch ohne direkte deutsche Beteiligung der Ukraine geben könnte, haben erstens schlecht zugehört.
Und zweitens haben sie kein Problem damit, dass mit Taurus-Marschflugkörpern die russische Kertsch-Brücke angegriffen werden soll. Das haben die Generäle auch nicht. Ihnen macht immerhin der Gedanke Sorge, dass ein deutscher Marschflugkörper am Ende einen Kindergarten auslöscht.
Stellvertreterkrieg und Bereitschaft
Die Debatte beweist, dass wir an einer gefährlichen Wendung stehen: der Stellvertreterkrieg in der Ukraine droht in eine direkte Kriegsbeteiligung der Nato umzukippen. Mental existiert dafür längst Bereitschaft. Nichts im Gespräch von hohen Offizieren der Bundeswehr weist darauf hin, dass sie ein Problem darin sehen, ein russisches Ziel anzugreifen.
Wir haben es nicht nur mit einer politischen Panik im Nato-Verbund zu tun, die sich aus der realen Kriegslage in der Ukraine speist. Die Strategie "Siegfrieden", wonach die Ukraine nicht verlieren darf, treibt ins Äußerste.
Eskalation und internationale Reaktion
Den Anfang machte Macron, der nun nichts mehr ausschließen will, auch nicht "boots on the ground" (die längst, aber zahlenmäßig begrenzt und verdeckt, in der Ukraine agieren). Die Kanadier sprangen umgehend auf diesen neuen Zug auf, die Briten ebenfalls.
Drohungen und Eskalation
In Washington wurde der US-Verteidigungsminister deutlich: Erleidet die Ukraine eine Niederlage, ziehen die USA in den direkten Krieg gegen Russland. Hatte nicht Austin im Februar 2023 unter Eid im Kongress ausgesagt, dass Russland den Krieg schon verloren hätte, operationell, taktisch und strategisch?
Der CIA-Chef war auch davon überzeugt. Im Sommer 2023 verkündete Biden, Russland habe diesen Krieg schon verloren. Das ist ins Nirwana entschwunden. Weil die Ankündigungen sich nicht erfüllten, wird nachgelegt.
Putins Rede und Drohung
Wen wundert es da, dass Putin seine alljährliche Rede benutzte, um dem Westen die Leviten zu lesen: Krieg ist kein Zeichentrickfilm, sagte der Kreml-Chef. Aber er sagte nicht nur das.
Die Erinnerung, dass auch Russland über Atomwaffen verfüge, war nicht die eigentliche Drohung. Sie lag darin, dass die Zeit für Verhandlungen abgelaufen ist. Zieht die Nato offen gegen Russland in den Krieg, wird Russland den Handschuh aufheben. Dann wird Krieg geführt, notfalls bis zum letzten Menschen.
In all den vergangenen Jahren, noch lange vor dem Kriegsausbruch, wollten viele nicht darüber nachdenken, wenn der Kreml sprach. Gesprächseinladungen wurden ausgeschlagen, Warnungen abgetan, rote Linien bewusst überschritten.
Die Russen haben in unseren Angelegenheiten nichts zu melden, so lautete die Devise. Nun steht der Bär hoch aufgerichtet. Er zeigt keine Angst: Versucht nur, mich zu erschlagen, sagt er uns. Ihr werdet sehen, was ihr davon habt. Es ist eine kalte, kalkulierte Wut, die er ausstrahlt, eine, die wir sehr ernst nehmen sollten.
Bärenjagd und Fehlverhalten
Das Entsetzliche jedoch ist, dass jede Menge Schreibtischstrategen und angebliche Experten allenfalls ihren Instinkten nachgeben. "Auf ihn mit Gebrüll", lautet deren Parole. Sie sind im Jagdfieber und merken es bisher nicht einmal.
So erledigt man keinen Bären. So läuft man ins eigene Verderben. So gleicht man allenfalls dem, was Generationen vor uns waren.
Die zogen in den Ersten Weltkrieg "mit klingendem Spiel", wie mein Großvater zu sagen pflegte. Zurück kam er als gebrochener Mann.
In den Zweiten Weltkrieg marschierten sie mit Hitlergruß und in der Annahme, morgen gehörte ihnen die ganze Welt. Wie das ausging, wissen wir ebenfalls.
Dass Putin daran erinnerte, macht es nicht falsch. Dass er es für notwendig hielt, zu erinnern, steht auf einem anderen Blatt. Denn normalerweise sollten wir dieser Erinnerung aus Moskau nicht bedürfen.
Jedoch ist es unbestreitbar, dass hierzulande geschichtliche Erinnerung schon so verschroben ist, dass es einem graust. Es ist falsch verstandene Solidarität mit der Ukraine, "Слава Україні" nachbeten, denn es ist deren historisches "Heil Hitler."
Es ist vollkommen geschichtsblind, wenn etwa bei t-online nachzulesen war, dass der Hitlerfaschismus auf "ukrainischem Boden gegen die Sowjetunion kämpfte".
In der heutigen ukrainischen Version geht es dann so weiter: Erst hat Hitler die Ukraine überfallen und danach überfiel die Sowjetunion die Ukraine.
In der englischen Version erging es Polen ähnlich: Erst griff Hitlerdeutschland Polen an, und dann wurde Polen von der Sowjetunion "überrannt".
In der Version des Europäischen Parlaments sind Hitlerdeutschland und die Stalin'sche Sowjetunion gleichermaßen für den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs verantwortlich.
In der aktuellen neokonservativen Version wird darauf bestanden, dass es niemals wieder eine Beschwichtigungspolitik geben darf, so wie in München 1938.
Der hemmungslose Griff zur militärischen Intervention nach 1990 hat großes Unheil angerichtet, mit Millionen Toten und zig Millionen Vertriebenen. Alle sollen sich heute wie Churchill verhalten.
Diesem fiel allerdings im Mai 1945 nichts Besseres ein, als über einen Krieg gegen die Sowjetunion nachzudenken, den er im Sommer 1945 führen wollte, gemeinsam mit Deutschen und Polen. Glücklicherweise hielten das damals die britischen Militärs für eine äußerst schlechte Idee.
Da fragt man sich schon, was mit den deutschen Militärs heute los ist. Es ist erschreckend, wie sie über Kriegshandlungen gegen Russland fachsimpeln, ohne auch nur zu erwägen, dass es ihre Pflicht wäre, den Minister zu warnen, dass damit eine Grenze überschritten würde, die nicht überschritten werden sollte.
Atomare Eskalation und Gefahr
Wann werden sie der Politik sagen, dass es keinen Kapitulationsfall einer Atommacht gibt? Im Angesicht eigenen Scheiterns ist jede Atommacht in der Lage, die ganze Welt mitzunehmen. Diese Macht, die nur wenige auf der Welt haben, aber niemand haben sollte, kann ihnen kein konventioneller Krieg entreißen.
Paradoxes Putin-Bild
Das ist im Übrigen das eigentlich Paradoxe angesichts des auch in Deutschland vorherrschenden Putin-Bilds. Er gilt als leibhaftiger Teufel, der vor nichts zurückschreckt, dem alles zuzutrauen ist.
Gleichzeitig sollen wir uns nicht davor fürchten, dass er sich nicht auch wie einer verhält.
Das ist gänzlich irre.