Technokultur oder Barbarei
Ein Interview mit dem Schriftsteller Klaus Theweleit
Klaus Theweleit, Jahrgang 1942, hat in den siebziger Jahren mit den zwei Bänden über "Männerfantasien" (Bd.1: Frauen, Fluten, Körper, Geschichte 1977 ; Bd.2: Zur Psychoanalyse des Weißen Terrors 1978) Furore gemacht und einen wichtigen Beitrag zur bundesdeutschen Militarismus- und Faschismusforschung geleistet. Thema ist die psychische "Körperpanzerung" des soldatischen Mannes der beiden Weltkriege. Ungewöhnlich ist auch ihre Produktionsweise: Materialien wie Literatur, Gemälde und Comics werden - teils unkommentiert - miteinander konfrontiert. Eine Neuauflage ist vor zwei Jahren erschienen. Die Bände wurden auch ins Amerikanische übersetzt. Das Interview fand am 8.9. 2001 in Berlin statt.
Künstlichkeit als erarbeitete Verhaltensweise
Herr Theweleit, Sie haben vor Jahren in einem Interview (in der ersten Ausgabe der Kulturzeitschrift "heaven Sent" 1991) geäußert, dass Sie keine Heimatgefühle, keine Natürlichkeit kennen und eigentlich nur "Fremdheiten" sehen, "die in Künstlichkeiten überführt werden können". Können Sie diese Aussage ein wenig erläutern?
Klaus Theweleit: Kultur ist etwas Künstliches, etwas Hergestelltes. Dieser ganze Gedankenzusammenhang hat zu tun mit der immer mal wieder in Wellen auftauchenden oder unausrottbaren Idee, dass es so etwas wie "Natürlichkeit" gäbe, natürliches Leben, eine natürliche Art und Weise sich zu ernähren, natürliches Denken etc., während das für mich alles eher unter Barbarismen fällt. Die sogenannte Natur produziert, wenn man sie laufen lässt, Urwälder, Wüsten, Dickichte, Undurchdringliches, nicht etwa ausgewogene Stände von Fischen in Ozeanen, vielleicht große Massen, die sich dann in Massen gegenseitig fressen. Das sieht vielleicht gut aus unter bestimmten Umständen, meistens aber nicht.
Außerdem haben fast alle Leute, die ihr Leben in einer bestimmten Weise auf Gewalttätigkeit gründen, das immer mehr oder weniger mit Naturzusammenhängen, Natürlichkeit oder Naturnotwendigkeiten begründet, von den Nazis bis sonstwo: natürliche Überlegenheit irgendeiner Rasse, der natürliche Ausleseprozess. Kultur oder menschliches Zusammenleben hat eigentlich die Aufgabe, alle diese Barbarismen in etwas Bearbeitetes zu überführen. Je höher der Grad dieser Künstlichkeiten ist, je elaborierter die Techniken sind, die dazu entwickelt werden - Techniken im Umgang, aber auch Entwicklung von Technologien auf allen Ebenen -, desto höher kann allerdings auch ihr zerstörerisches Potenzial sein.
Wenn man Sachen entwickelt, die einen hohen Grad von künstlicher Verdichtung haben, hat der Produktionsprozess auch einen Teil Gewalt. Man greift wo ein, man transformiert etwas, man formt etwas um, und es kriegt einen höheren energetischen Status, und diese Energien können zerstörerisch, aber auch lebensentwickelnd sein. Das hängt fast immer von den Zusammenhängen ab, in die sie eingebaut werden, und von der Art Bewusstsein, die sie anwenden will. Wenn dieses Bewusstsein der Gewalt distanziert gegenübersteht, hat jede Technologie auch eine hochgradig friedfertige Seite zur Entwicklung von höheren Friedfertigkeits-, gleich Künstlichkeitsgraden im Verhalten. Für mich ist Künstlichkeit und Kultur kein Widerspruch.
Aber es wird nach wie vor allgemein eine große Opposition zwischen Natur und Kultur aufgemacht. Ein "künstliches Verhalten" gilt eher als gekünstelt, vorgetäuscht. Wenn man den aktuellen Siegeszug der Technologien beobachtet, merkt man doch, dass es für viele Schwierigkeiten gibt, sich auf diese Technologien einzulassen. Technologien werden als etwas Fremdartiges, Äußeres vorgestellt. Welche Chancen sehen Sie denn, dass durch neue höhere Kulturtechniken in eine positive Richtung gewirkt werden kann? Anders: Was müssen die Leute lernen, um diese Künstlichkeit annehmen und verstehen zu können?
Klaus Theweleit: Wenn Leute daran festhalten wollen, dass sie sagen, wenn zwei oder drei Leute am Tisch sitzen und sich unterhalten, ohne sich den Schädel einzuschlagen, das sei etwas "Natürliches", dann können sie das natürlich tun. Obwohl es viele faktische Hinweise gibt, die das Gegenteil unterstreichen: dass es eher unnatürlich ist und ein erarbeitetes Produkt von Zusammenleben ist, sich nicht den Schädel einzuschlagen. Es ist sehr schwer zu beschreiben, weil die Sprache und unsere Denkschemata voll von solchen falschen Oppositionen sind: Natur / Künstlichkeit, tot / lebendig.
Ich würde das, was als menschliche Verhaltensweise gilt und was die Leute in komischer Begrifflichkeit "Natur" nennen, nicht wegschieben oder sagen, das gibt es nicht mehr. Für mich ist es nach wie vor entscheidend für die ersten Lebensjahre eines Kleinkindes, wie die Eltern mit ihm umgehen, wie sie es anfassen, berühren, wickeln, mit ihm reden, mit was für Bewegungen, in welchen Tönen, was gefüttert wird usw. Das ist damit nicht alles hinfällig. Das ist sozusagen die Grundlage, die für viele Teile der Welt erst einmal erreicht werden müsste. An vielen Stellen in dieser Gesellschaft und anderswo ist nichts anderes als Grobheit, keine Rücksichtnahme, die Eingriffsgewalt in die Körper mit Stimmen und Prügel. Das Interessante ist, dass diese ganzen neuen technologischen Geschichten zu diesem Bereich hinzukommen und ihn verändern können. Nicht, dass der damit ersetzt wäre. Wenn die Eltern den Gedanken haben, dass die Zugriffe der Hand, die Berührungen ein Teil dieses Künstlichkeitsprozesses sind, dann haben sie eine ganz andere Idee als wenn sie denken, das ist die natürlichste Art, sein Baby zu berühren. Das sind total andere Gedanken, aber die Handlungen sehen fast gleich aus.
Welche Phänomene haben Sie noch vor Augen, die Ihre These der Künstlichkeit bestätigen?
Klaus Theweleit: Ich sehe im Verhalten von Jugendlichen ab dem Alter, wo sie beginnen, sexuell stärker aktiv zu werden, dass der ganze damit verbundene Bewegungsablauf sich ändert, der Redeaufwand, die Redestärke, der muskuläre Einsatz, der sich noch in meiner Generation darin äußerte, dass man sich in jeder Pause in der Klasse kloppte oder mit Tischen und Stühlen warf, um das alles, was da an unkanalisierter Erotik in den Körpern steckte, irgendwo unterzubringen: in solchen körperlichen Aktionen, auch im Streit, in der Unterhaltung, im Übertrumpfen, im Besserwissen, im Lautwerden, im "Auslöschen" des anderen - das sehe ich alles auf dem Rückzug. Abgesehen von Leuten, die jetzt nicht anders können und unter ständigem Gewalt-Druck diese Verhaltensform entwickeln. Auf der generellen Linie ist alles viel moderater, die Bewegungen sind moderater. Der Eingriff in die andere Person ist vorsichtiger. Der Stimmpegel ist leiser. Ich habe schon nach Veranstaltungen mit Studenten am Tisch gesessen, drei Stunden geredet und die haben sich nicht gestritten (lacht). Das hätte es in meiner Generation nie gegeben, dass man sich unterhält, dass man den was sagen lässt und den, dass - ohne dass die Idee da ist, das zu machen - sich so etwas wie ein "Netz" tatsächlich ausbildet, dass jeder was sagen, drücken, klicken kann, und so die Kommunikation funktioniert. Das wird sich auch im Sexualverhalten äußern, als ungeheurer Unterschied im Sozialverhalten. Das ist ein Wechsel in der Kultur.
Ich kenne die Statistiken nicht, aber das Klagelied über Gewalt in der Schule ist doch momentan recht laut. Ist das ein Wahrnehmungsproblem der Lehrergeneration?
Klaus Theweleit: Das ist ein Wahrnehmungsproblem und ein Stadtteilproblem. Es gibt sicher Orte und Stadtteile, wo sehr starke Gewalt an bestimmten Schulen herrscht. Aber das generelle Level von Schulverhalten ist viel pazifizierter als es vor dreißig Jahren war.
Die Gewalt in rückständigen Gesellschaften
Sie haben in den beiden Bänden der "Männerfantasien" ja den Blutrausch beschrieben. Blut als "heißes herausspritzendes Innen" sei für den soldatischen Mann "ein Synonym für das richtige Fühlen" - diesen Rausch kann man doch heute noch auf dem Balkan beobachten. Ein extremes Spannungsverhältnis zwischen roher ausbrechender Gewalt und kulturellen Ansprüchen der Verteidigung der Familie, des Wohnortes usw.
Klaus Theweleit: Dieses Verhältnis wird dauernd neu erzeugt und kann überall neu erzeugt werden. Viele Gebiete auf der Welt sind von bäuerlich-patriarchaler Familienstruktur bestimmt. Teile der globalen menschlichen Gesellschaft entfernen sich davon, aber die Mehrheit der menschlichen Gesellschaften sind noch da drin. Die stehen natürlich in dem besonderen Widerspruch, dass sie die neuen Technologien haben, die ihnen dazu verhelfen könnten, mehrere Jahrhunderte kultureller Entwicklung zu überspringen: die Auflösung von Familien mit langsamem Städtebau, neuer Sozialstruktur in Städten, Verlassen der Kernfamilie, Selbständigmachen der einzelnen Teile und damit Entwickeln eigener Ideen. Was über dreihundert Jahre gegangen ist in Europa, passiert da zum Teil in einer oder zwei Generationen. Dass die Kinder mit völlig neuen Technologien, Sicht-, Lebens- und Verhaltensweisen verbunden sind, während die Alten in den Prinzipien des patriarchalischen Gehorsams verhaftet bleiben.
Dazu werden viele der laufenden Kriege gemacht, um Gesellschaften auf diesem Stand zu halten oder sich dahin zurückschießen zu lassen, weil das eine sehr einfache Politik ist, sie funktioniert. Man weiß genau, dass man dem einen Bevölkerungsteil nur ein paar Hetzgeschichten gegen den anderen zu erzählen und den Leuten Waffen in die Hand zu geben braucht, und dann wird geschossen. Es ist ein wunderbares Geschäft. Es funktioniert wahrscheinlich neben den Drogen als das Hauptgeschäft im Welthandel. Schon allein deshalb werden wir das so schnell nicht los. Das Aufbrechen der Familie und der Gesellschaftsteile kann sich nur entwickeln, wenn man die Waffen da rauszieht. Das geht nur über eine weltweite Waffenhandelskontrolle.
Das Subjekt in der Kontrollgesellschaft
In dem schon genannten Interview hatten Sie die Kulturtechnik der Selbstbeobachtung angeführt, mit Hilfe derer sich eine fortschrittliche Politik entwickeln könne. Wenn man sich den modernen Cyberkapitalismus anschaut, dann werden die Leute doch heute auch als etwas Veränderbares, als etwas neu "Konfigurierbares" angesprochen. Sie müssen ihr Selbstmanagement betreiben, mit höheren abstrakten Graden der Repräsentation umgehen können. Wenn die Technik der Selbstbeobachtung doch so stark in die Zusammenhänge eingebunden ist, wo sehen Sie dann die Ansatzpunkte für andere Künstlichkeiten?
Klaus Theweleit: Die Selbstbeobachtung selber unterliegt einer Verwandlung. Der Begriff kommt ja aus einem Zusammenhang, wo man einen Erkenntnispunkt, einen Fixpunkt hat mit bestimmten Kategorien, mit bestimmer Perspektive. Man sieht mit bestimmten Augen und einem Wertesystem und Vorstellungen auf etwas, das mit einem passiert, und ordnet das dann ein in ein hierarchisches Schema. Sachen, die wichtiger sind für mich, unwichtiger sind, die Ich-fremder oder -näher sind. Dieser Standpunkt der Selbstbeobachtung löst sich auf in Zusammenarbeit mit Technologien, weil das, was in dem alten Begriffssystem eine feste Identität hieß, nicht existiert. Identität ist ja immer eine Übereinstimmung zwischen Denken und Wahrnehmung, mit sich und anderen, und daran bestimmt man seine Position.
Wenn sich das in ein Feld einer Menge differenzierter Beziehungen und Linien auflöst, dann ist dieser Fixpunkt, von dem aus man sich selbst oder andere beobachtet, gar nicht mehr einnehmbar. Wahrscheinlich entsteht der gar nicht mehr, der ändert sich dauernd. Was bisher eher ein Theorem gewesen ist, dass Leute sich von verschiedenen Identitäten aus verhalten, denken, agieren, wird immer konkreter. Bestimmbar ist heute, dass man sich in einem Netz solcher Beziehungen, mit oder ohne Technologien, so verhält, dass es in dem einen Netz das bedeutet und in einem anderen etwas ganz Anderes. Dass man beginnt, sich zwischen diesen Netzen hin- und herzubewegen. Man beginnt diese Identitäten, die man dann nicht so nennen müsste, so zu leben, dass in jedem einzelnen Ich diese Sorte Vielheit auftaucht. Wenn das mal der Fall ist, dann wird vermutlich auch der Begriff der "Identitäten" fallen gelassen werden.
Identität taucht ja heute nur noch in so idiotischen Zusammenhängen wie dem Balkan-Krieg auf, wo das immer wieder künstlich hergestellt wird, wo den Leuten gesagt wird, ihr seid aber Albaner, ihr lebt in einem soundso Staat, da könnt ihr eure Identität nicht entwickeln, weil ihr da ihr unterdrückt seid und da müsst ihr was gegen tun mit der Waffe in der Hand. Identitätsdefinition passiert heute eigentlich nur gewaltsam von außen und dann noch unter Bewaffnung. Wenn man die Leute, die so agieren, in Dokumentarfilmen befragt, kommt durchweg die Antwort, dass sie nicht wissen warum. Sie wissen weder, warum sie angefangen haben, noch warum sie an einer bestimmten Stelle weitermachen. Weil die Kameraden es tun, weil man sonst aus einer Gruppe rausfällt und geächtet wird, weil der Stadtteil beschlossen hat, sich so und so zu verhalten, aber ein halbes Jahr vorher verhielt der Stadtteil sich völlig anders, und sie fühlten nicht das geringste Bedürfnis, sich von den anderen schießend mit Gewalt abzugrenzen. Das heißt, diese behaupteten Identitäten sind weder dort noch woanders vorhanden. Der Gegensatz Identität / Nicht-Identität ist genauso wie der Natur / Kultur - Gegensatz ein Hirngespinst.
Gibt es aber nicht nach wie vor Subjektanrufungen, die so etwas wie ideologische Schwerkräfte darstellen? Wir leben ja heute in einer sehr modernen Gesellschaft: der molekularen Kontrollgesellschaft. Kann das nicht bedeuten, dass diese Vielheit der Identitäten nicht doch äußerlich, fremdbestimmt bleibt. Man wird als Konsument angesprochen, als Staatsbürger, und dann wieder als Arbeitnehmer. Diese Anrufungen bleiben konstant. Anders verhält es sich mit einer flexibleren kulturellen Identitäten als Familienvater, Freizeitkünstler usw. Braucht die Kontrollgesellschaft keine Identitätspolitik mehr?
Klaus Theweleit: Na gut, man redet sich das ein, dass man auf dieser oder jener Ebene dieses Subjekt ist. Wenn ich jetzt 50.000 BVB- oder Bayern-Fans habe, die jetzt per definitionem das Gleiche sind, dann gibt es zwischen denen eine Art von Subjekt-Betonung, in der sie sich unterscheiden, obwohl sie dieser Definition nach das Gleiche sind und das Gleiche machen. Wahrscheinlich ist ein Überrest des Versuchs, sich als Person zu definieren, aber nicht die Möglichkeiten dazu in der Hand zu haben. Was man bei Jugendlichen ja sehr stark sieht, wenn sie sich über Klamotten, Waren, Haarschnitte usw. definieren und in hundert Punkten gleich sind, betonen sie den einen Punkt, wo sie Subjekt sind oder anders sind. Das hat natürlich sehr stark ideologischen Charakter. Aber man kann von der anderen Seite her die Leute von den gesellschaftlichen Normen aus definieren, denen sie sich anpassen: Arbeiten, Kaufverhalten, Geld verdienen, was sie tun müssen, was sie denken müssen, wie sie wohnen, alles von außen gesteuert, von außen an sie herankommend. Dem würde ich auch nicht widersprechen. Es ist der Versuch, sich in diesem Netz so zu bewegen, dass man diesen Norm-Kontrollen weitgehend entkommt, aber wenn sie da sind, unterstreichen sie auch nur die Künstlichkeit, aber eine, die nicht von der Person entwickelt und belebt worden ist, in der sie sich erfinderisch verhält, sondern eine Künstlichkeit, die ihr aufgezwungen worden ist.
In den Enklaven des Systems
Slavoj Zizek hat in einem ZEIT-Essay geschrieben, dass man heute die Systemfrage nicht stellen dürfe. In dem älteren Interview haben Sie ja auch darüber nachgedacht, wie eine andere Politik aussehen könnte. Wir haben eine effiziente Kontrollgesellschaft, die die Leute immer raffinierter einbindet. Welche Möglichkeiten sehen sie für eine gesellschaftsverändernde Politik?
Klaus Theweleit: Global sehe ich gar keine andere. Innerhalb der verschiedene Kapitalismen gibt es verschiedene Systeme, je nachdem, wie ausdifferenziert eine Gesellschaft ist. Es kann ja den Punkt geben, wo diese ganze Kontrollgeschichte durch Waren oder so umschlägt in eine Sorte von tatsächlich nachlassender Kontrolle, weil sie so ungeheuer groß oder beliebig ist. Dass man jetzt dieses kaufen solle und das nicht, wird ja auch in den differenzierten Gesellschaften nicht so durchgeführt. Das Angebot und die "Nachfrage" wechselt ja dauernd. Nur aufoktroyiert sind sie auch nicht.
Ich weiß nicht unbedingt, warum man die Frage auf der System-Ebene stellen muss, weil dieser Gedanke, dass man ein System mit einer gesellschaftlichen Revolution ändert, mit einem Umsturz, mit einem Aufstand, hat sich für die sehr differenzierten Gesellschaften überholt. Einer der Gründe ist, dass die Möglichkeiten des Sozialverhaltens viel sozialer und auch sozialistischer sind in einer bestimmter Weise, als ein sozialistisches System sie hat anbieten können oder auch nur fantasieren lassen. Das sieht man ja auch bei der jetzigen jugendlichen Generation, auch bei den kritischen Leuten, die ihre Kritik fast alle nicht in Form des Aufstands, der Systemänderung denken, sondern eher in Richtung Enklave. Ich mache hier etwas anders, mit denen und denen in diesem Bereich, und in diesem Bereich kann ich das. Diese Enklaven färben alle irgendwo hin ab. Prozentual könnte ich die nicht angeben in der Gesellschaft. Man kann das natürlich auch von der anderen Seite her beschreiben: das ist wunderbar, ein System der Kontrolle! Wenn jeder in seiner Enklave denkt, er ist frei und an keine Wände mehr haut, gibt es eine Art von Ruhe.
Siehe die Mikrophysik der Macht bei Michel Foucault, in der er die "produktive" Seite der Macht beschreibt.
Klaus Theweleit: Ja, gut, aber mit dem Widerspruch muss man leben, aus dem kommt man nicht raus. Ich sehe keinen anderen Weg einer Befreiungspolitik als die Enklaven zu erweitern, wobei man mehr machen könnte als das, was gemacht wird. Die Enklaven kriegen ja auch immer sehr schnell ihre Regeln, ihre Gesetze, ihre innere Hierarchisierung, und dann sind sie nicht nur heimlich, sondern tatsächlich Teil des Kontrollsystems. Die Enklave muss sich sozusagen immer wieder revolutionieren. Das ist aber möglich; anders ist es beim Gesamtsystem - das hat eine eigene Geschwindigkeit, eine eigene Kraft. Grade diese machtvollen Systeme sind alle nicht starr, die verändern sich andauernd mit einem rasenden Tempo und haben das zum Teil nicht im Griff, wohin sie sich entwickeln, weil Kräfte am Werk sind, die niemand als Kontrollfigur auch nur in den Machtenklaven in der Hand hat oder auch nur steuern kann. Politiker heute, seien sie noch so fähig, haben die ökonomischen oder politischen Entwicklungen ihrer Gesellschaft nicht in ihrer Hand, wenn sie sie überhaupt beeinflussen. Auf der Ebene denke ich gar nicht mehr. Mich interessiert nur das, was in den Bereichen passiert, die einem tatsächlich zugänglich sind und wo man was probieren, anders schalten kann.
In Ihrer theoretischen Literatur haben Sie sich beeinflusst gezeigt von Gilles Deleuze und Félix Guattari und ihrer Vorstellung der "Wunschproduktion", die einer anderen Logik folge als die Ökonomie und die Politik. Diese Produktion sehen sie in den Enklaven?
Klaus Theweleit: Ja, wo sonst. Obwohl das Kapital auch seine Wunschproduktion hat, die es zum Teil nicht kennt. In ihrem Buch "Anti-Ödipus" (dt. 1974) haben sie einen Gedanken formuliert, den fast niemand mitdenken wollte, als sie ihn geschrieben haben: man muss die Bewegung des Kapitals beschleunigen, weil das eine entgrenzende Qualität hat, die es selbst nicht mehr kontrollieren kann. Wenn man es stoppt und bremst und alles kontrolliert, dann hat man genau den Stillstand der sozialistischen Systeme, wo man in jedes Ding reingucken konnte, meinetwegen auch mit guter Absicht, aber keine ökonomische Bewegung da war. Die ist ungeheuerlich. Das Bild mit dem "Aufschlag" ist da ein gutes Bild. Ein Freund von mir sagt, es gäbe keinen Return mehr, weil der Aufschlag so schnell ist, dass man ihn nicht sieht. Vielleicht ist es ein Vabanque-Spiel. Das kann an bestimmten Stellen in wahnsinnigen Destruktionen landen: Selbstdestruktionen von Gesellschaft, Angriffe auf andere. Die Öl-Frage kann immer wieder so gestellt werden, dass sie zu einer ganz bestimmten Sorte Krieg führt, oder auch ethnische Fragen. Das entzieht sich dem eigenen Einfluss, auch dem eigenen Denken; das hat mit Denken fast nichts mehr zu tun. Wenn eine bestimmte Gewalt freigesetzt wird, dann vollzieht die sich auf eine Weise, die jedes Denken auslöscht.
Auf der Ebene, die einem zugänglich ist, heißt das "Spiel", was Wunschproduktion bei Deleuze heißt. Was ich mit meinen Büchern mache, sind bestimmte Spiele mit Materialien. Die können dann so oder so zusammengehen und sich zu was verbinden, was in der Weise so noch nicht da war. Dann sind sie wie eine Spielkugel, die durch die Köpfe rollt oder durch bestimmte Enklaven. Das ist der Spaß an der Geschichte (lacht).
Die erotische Energetik der Technologien
Ein Schlagwort in diesem Sinne wäre die "Wunschökonomie" des Internet. Ich finde, dass das Internet eine "flüssige" Technologie ist, die sich verästelt in alle möglichen gesellschaftlichen Bereiche und Praktiken, wobei es noch am Anfang steht. Das vielbeschworene Surfen hat ja auch einen fließenden Charakter, man muss sich von einem Punkt zum nächsten bewegen. Auch wenn es vielleicht nur ein Abklicken ist, ist es schon eine gewisse Bewegung. Was mich aber verblüfft, ist, wie ernst ein Phänomen wie Cybersex in den Chat-Rooms genommen wird, wie solche Internet-Erlebnisse psychisch integriert werden als vollständige Lusterfahrung.
Klaus Theweleit: Sex und Erotik ist für mich mit der Haut verbunden. Ich würde es jetzt nicht kritisieren von der Ebene, das sind Leute, die keine Hauterfahrung haben oder kriegen können. Warum soll es aber nicht Formen von Sexualität geben, die man sich noch gar nicht richtig vorstellen kann? Das von der Energetik dieser Geräte her und der Vorgänge da was Sexuelles drinsteckt, finde ich vollkommen klar, so wie in der Lokomotive was Sexuelles steckte. Als sie auftauchte, hat sie die Pferde bei der Darstellung von sexuellen Vorgängen abgelöst als bestimmte Sexualität dieser Technologie: der eingesperrte Dampf, der da was in Bewegung setzt, was für manche Leute sofort sexuell war, für andere weniger, aber das ist verbunden.
Wenn es stimmt, dass diese Technologien Körpererweiterungen sind, dann erweitern sie auch die Sexualität. Können sie jedenfalls für die, die sich darauf einlassen. Neulich sah ich den Film "Girl 6" von Spike Lee über Telefonsex, wo man die Mädchengruppe mit ihrer Chefin in dem Telefonbordell sieht, und die Leute, die anrufen. Sie sehen sich nicht, und da entsteht was über den Telefonhörer. Wenn man sich auf diese Technik einlässt und das Ohr erotisiert, und einen bestimmten Vorstellungsapparat in Gang setzt, dann können ganz massive Sachen passieren. Prinzipiell sind alle Körperteile erotisierbar und erotisch und mit Technologien verbindbar. Ich habe keine Erfahrung damit, aber es scheint mir alles möglich.
Beim Telefonsex gibt es aber einen Kontakt über die Stimme, die körperlich ist. Beim Chatten ist es nur eine Abstraktion. Die Leute können eine falsche Identität angeben: 20, schlank, attraktiv, weiblich, und sind in Wirklichkeit: 40, dick, häßlich, männlich - als Klischee-Beispiel.
Klaus Theweleit: Ein Teil der fetten Person ist ja auch jung und schlank. Man besteht ja nicht nur aus dem, was die Fotografie zeigt. Man schleppt mehrere Körper mit sich rum. Man schleppt Körpervorstellungen mit sich rum. Und ein Wort ist auch eine Materie wie die Stimme. Wenn man das belebt und sich zusammenklinkt ... - gut, es ist immer leicht zu sagen, es ist illusionär und stimmt nicht den Tatsachen überein - aber was für Affekte entstehen, ist damit nicht gesagt. Es ist weder steuerbar noch verbietbar. Wenn bestimmte Affekte entstehen, dann können das auch sexuelle sein.
Wenn man über technologische Visionen redet, wird man ja oft mit der Ansicht konfrontiert, es handele sich nur um männliche Omnipotenzfantasien.
Klaus Theweleit: Das hat ja zum großen Teil gestimmt. Ein großer Teil der Technologieentwicklung ist ja mit männlichen Potenzfantasien beschreibbar, als Weltbemächtigung - man bemächtigt sich bestimmter Prozesse mit Hilfe von Maschinen, man bemächtigt sich anderer Körper, und erlebt das als sexuell.
Als der Frankfurter Analytiker Reimut Reiche in seiner "revolutionären Kampfzeit" bei Opel gearbeitet hat, fiel ihm irgendwann auf, dass die Arbeiter, wenn sie in ihren Kabinengesprächen Fickbewegungen machten, die Bewegungen nachvollzogen, die sie tagsüber an ihren Maschinen machen mussten, dass das gekoppelt war. Das hat mit Potenz noch gar nicht soviel zu tun. Das kann auch unterdrückt sein; das Ohnmachtsgefühl, der Maschine unterlegen zu sein, kann auch eine sexuelle Seite haben. Der Körper kann sie aufnehmen oder adaptieren, ohne es zu wissen, und anfangen, die Sexualität, die die Maschine ihm am Tag aufzwingt, zu "beleben" und sie tatsächlich zu agieren, wenn er mit einem anderen Körper sexuell wird. Das ist auch für Frauen möglich. Je mehr Frauen mit diesen Technologien in Berührung kommen - und das ist mit den elektronischen ja erheblich angewachsen in einem bisher nicht bekannten Ausmaß -, wird es genauso weibliche Bemächtigungs- wie Ohnmachtsfantasien geben. Wie auf anderen Gebieten auch, holen sie da diesen männlichen Vorsprung auf.
Ein weiterer Schauplatz für technologische Fantasien ist die zeitgenössische Popkultur. In Science Fiction-Filmen und -Comics taucht ja das Bild des muskelbepackten Cyborgs auf. Da habe ich - vielleicht ein Kurzschluss - sofort an Ihre Beschreibung der soldatischen Körper-Panzers gedacht.
Klaus Theweleit: Das stört mich auch am meisten an diesen Filmen. Die "Terminator"-Ebene: der Körper, der sich durch die Wand bewegt oder in einer Pfütze zerläuft und wieder aufstehen kann, gibt es immer nur im Zusammenhang mit Kampffiguren und -vorgängen. Der Film ist die alte Verfolgungsjagd, endlos ausgedehnt. Die Tötung ist wie im Comic im Prinzip ausgeschaltet. Das sind im Grunde uralte Prinzipien, und die neuen Technologien, die darin zur Anwendung kommen - also nicht nur inhaltlich, sondern mit computergenerierten Bildern als Verfahrensweise - liegen damit im vollkommenen Widerstreit. Ich weiß nicht, ob sich das lösen wird. Ungeheure moderne Technologien und lauter veraltete Genres, veraltete Dramaturgien, in denen sich das alles abspielt. Das Denken ist zu traditionell und hat die Technologien noch nicht eingeholt.
Der Terminator 2000 ist insofern ungewöhnlich, weil er eine Figur ist, die zerfließen kann und dem alten Terminator kampftechnisch überlegen ist.
Klaus Theweleit: Das mag ja auch interessant sein. Der soldatische Körper war ja eine technische Utopie. Die Soldaten haben in dem Widerspruch zwischen Technik und Natur gedacht. Die fanden ihre Natur eklig, schwach, menschlich, klein, mickrig, und die wollten sich mit der Technik überziehen, um sich gewaltig, groß, siegreich zu machen. Davon sind ja sehr viele der jetzigen Technologien weit weg. Die setzen nicht mehr an diesem Körper-Panzer an. Wie Elektronik, wie ein Computer funktioniert, kann man schlecht verwenden für die Verstärkung dieses Panzers. Der Computer ist leicht zerstörbar, hat nicht den Metallkörper. Die neuen Fantasien von der Verbindung des menschlichen Fleisches mit diesen Geräten sind noch nicht vorhanden. Die entstehen in den nächsten Jahrzehnten.
"Denkende" Technologien
Sie hatten damals gesagt, man müsse diese Künstlichkeit "mit allen zur Verfügung stehenden Technologien entwickeln außer der der Kernenergie". Wie stellen Sie sich diese Weiterentwicklung vor?
Klaus Theweleit: Ich brauche mir da gar nichts vorzustellen, es entwickeln sich ja andauernd neue. Hat man eine definiert, ist schon die nächste da, nicht nur auf der Ebene der neuen Computergeneration, sondern was sich insgesamt da tut. Wenn man sich ein bisschen mit dem Charakter der Materie befasst, wie es Biologen, Genforscher, Technologen tun, erkannt man, dass der Punkt, dass die Materie unbelebt sei, langsam einbricht. Was passiert mit Silizium - Bio - Verbindungen, an denen gearbeitet wird? Da wird Materie hergestellt, die sowohl organisch wie anorganisch ist, die "denken" können wird.
An diesem Punkt sind Natur, Technik, Künstlichkeit nicht mehr richtig zu unterscheiden und fallen zusammen. Und das wird sich verstärken. Ich habe auch den Eindruck, dass ein Teil der Technikaversion, die sehr eingefleischt war - gegen das Maschinelle, für das Menschliche etc. -, und die sehr stark an das mechanische Denken gebunden war: das ganze Denken in Motoren, Transformationen, Zahnradgeschichten, im Verschwinden begriffen ist. Ein Denken wie in dem Film "Modern Times" von Chaplin, der sich als durch die Maschine gedrehtes Opfer darstellt. Das wird sichtbar bei der neuen Form von "denkenden" Technologien: der Elektronik, der Computertechnik oder der Art und Weise, wie das Internet angenommen wird von jungen Leuten, die, ohne groß darüber nachzudenken, es ganz selbstverständlich benutzen als Teil des Lebensprozesses.
Manche Medientheoretiker greifen ja den Punkt an, den Marshall McLuhan immer betont hat, dass die Technologien Erweiterungen des Körpers seien, und sagen eher, dass die Technologie den Menschen so überlegen ist, dass diese nur noch ein Anhängsel sind. Das stimmt vielleicht. Andererseits greift es immer mehr in den Alltag, dass Technologien als selbstverständliche Körper- und Gehirn-Extensionen verwendet werden. Und der Gedanke, dass das etwas mir Fremdes, etwas Gegenüberstehendes, etwas prinzipiell Anderes, eine andere Form von Leben sei, befindet sich auf dem Rückzug, einfach aufgrund der neuen Art von Praxis, mit diesen Sachen umzugehen.
Was ist denn eine "denkende" Materie?
Klaus Theweleit: Ich lese immer nur, dass da herumexperimentiert wird mit Zellen und Silizium. Zellen "denken" ja, Zellen haben Programme und führen die dann im Körper aus. Und eine Art Denken wäre es, wenn diese durch eine Verbindung von elektronischen und biologischen Teilen gesteuert werden könnten. Wenn der Körper die aufnimmt und mit denen wächst, dann gibt es auch Verbindungen, die können dann gar nichts anderes denken als so ein Körper bis dahin "gedacht" hat. Das muss nicht ins Gehirn eingepflanzt werden, das kann an den verschiedensten Körperteilen passieren, aber irgendwann wird man damit anfangen. Wo will man den Punkt ansetzen, wo man Denken definiert und wo nicht? Es wird immer bestimmte Dinge geben, die ein Computer vielleicht nicht kann, das heißt aber noch längst nicht, dass sie nicht denken. Die können dann gar nichts anderes, als weiterentwickeln, was so ein Körper bis dahin "gedacht" hat.
Wird das menschliche Bewusstsein es überhaupt "ertragen" können, dass es diese posthumane Existenzform geben wird?
Klaus Theweleit: Das menschliche Bewusstsein kann alles ertragen, das hat es bewiesen. Daran wird es nicht scheitern.