Terror und das Recht auf Selbstverteidigung
Zur Logik der Gewalteskalation im israelisch-palästinensischen Konflikt
Die Reaktion ließ nicht lange auf sich warten (Neue Welle der Gewalt). Scharons Rechnung geht auf. Nur einen Tag nachdem israelische Soldaten in Uniform und Zivil in mehreren Ortschaften teilweise willkürlich neun Palästinenser erschossen, leben die Bewohner West-Jerusalems wieder mit Terroralarm. Die Armee hat nach eigenen Angaben mehrere Hinweise erhalten. Im Zentrum der Stadt explodierte bereits in der Nacht zum Samstag ein Auto. Bei dem Anschlag wurde nur der Attentäter, ein Palästinenser aus Ost-Jerusalem, verletzt.
Das Auto mit zwei Gasflaschen war in einer populären Straße mit vielen Bars und Cafés abgestellt. Ob und welche palästinensische Organisation hinter dem unprofessionellen Anschlag steckt, ist noch nicht bekannt. Er bezeichnet jedoch eine neue Qualität der Gewalt. Anschläge gegen israelische Zivilisten fanden seit etwa einem Monat nicht mehr statt. Palästinensische Gruppen nahmen davon Abstand, um den Wahlkampf von Amram Mitzna (Arbeitspartei) nicht zu gefährden. Der als moderat angesehene Herausforderer von Ariel Scharon (Likud) gilt als verhandlungsbereit.
Die islamistische Hamas hat sich faktisch an dieser einseitigen Waffenruhe beteiligt. Sie lehnt zwar Verhandlungen mit Israel ab und tat in der Vergangenheit alles, um Gespräche zwischen Israel und der Palästinensischen Autonomiebehörde mit Gewalt zu verhindern. Vertreter der Fatah-Partei Jassir Arafats sagten in der letzten Zeit aber, "mit aller Härte gegen Gruppen, die sich nicht an unsere Anordnungen halten", vorgehen zu wollen. Im Moment ist eine Polizeiarbeit zumindest im Westjordanland aber illusorisch, da Israel das Gebiet wieder insgesamt militärisch kontrolliert und die Bewegungsfreiheit der Palästinenser drastisch einschränkt. Die Infrastruktur der Polizei ist zerstört. Hamas nimmt diese Drohungen aber offensichtlich trotzdem ernst und beugt sich dem Druck. Palästinenser analysierten die israelischen "Terroraktionen" vom Donnerstag als Versuch zur Zerstörung dieser Waffenruhe. Israelische zivile Spezialeinheiten, die sogenannten Duvdevan, feuerten dabei in Ramallah willkürlich in eine Menschenmenge.
Am Freitagabend drang ein Palästinenser in die jüdische Siedlung Otni'el, südlich von Hebron im Westjordanland, ein. Er schoss um sich und warf Handgranaten. Dabei wurden zwei Soldaten und zwei Siedler getötet, neun verletzt. Der Angreifer, ein Mitglied des Islamischen Dschihad, wurde erschossen. Ein Helfer nach einer Verfolgungsjagd ebenfalls. Die israelische Armee zerstörte in der Folge zwei Häuser des Attentäters. Die Kollektivstrafe ist mittlerweile eine Standardprozedur. Die Bewohner sind nun obdachlos. Abdullah Salah, der Kopf des Islamischen Dschihad, sagte gegenüber dem Fernsehsender al-Dschasira, dass der Anschlag als Vergeltung für die neun getöteten Palästinenser vom Vortag verübt wurde.
Anschlag auf Siedlung - Selbstverteidigung oder Terror?
Die derzeitige israelische Regierung macht keinen Unterschied zwischen Anschlägen auf israelische Zivilisten innerhalb Israels und Angriffen auf Soldaten und Siedler in den seit 1967 besetzten Gebieten. Das internationale Recht unterscheidet aber zwischen Terror und dem Recht auf Selbstverteidigung. Mit Bezug auf Palästina und andere heißt es in der Genfer Terrorismus-Deklaration:
"Peoples who are fighting against colonial domination and alien occupation and against racist regimes in the exercise of their right of self-determination have the right to use force to accomplish their objectives within the framework of international humanitarian law. Such lawful uses of force must not be confused with acts of international terrorism."
Nicht nur diese Bestimmung wird von Israel auf eine den Staatsinteressen genehme Weise ausgelegt. Die Bewohner der exklusiv jüdischen Siedlungen in den besetzten Gebieten gelten dabei als Zivilisten. Die Genfer Konvention von 1949, nach der die Ansiedlung der eigenen Bevölkerung auf besetztem Gebiet illegal ist, wird so außer Kraft gesetzt.
Auswirkungen der Siedlungspolitik sind für jeden Palästinenser spürbar. Otni'el, das Ziel des letzten Anschlags, ist beispielsweise für die Isolierung der palästinensischen Kleinstadt Yatta verantwortlich. Die Verbindungsstraßen zur Siedlung dürfen von Palästinensern nicht benutzt werden und sind militärisch kontrolliert. Sie sperren dadurch den Ort weiträumig ab (siehe Land Grab: Israel's Settlement Policy in the West Bank).
Wer sich einmal die Mühe macht, eine Woche lang in der Altstadt Hebrons zu verbringen, wird mit großer Wahrscheinlichkeit Zeuge des unzivilen Charakters der dortigen Siedler. Regelmäßig überfallen sie mit Maschinenpistolen bewaffnet palästinensische Geschäfte und Wohnungen. Viele Bewohner halten den dauernden Übergriffen nicht stand und fliehen. Allein im Laufe des Jahres 2002 eroberte sich die Siedlergemeinschaft auf diese Weise den alten Markt der Stadt. Palästinenser, die Gegenmaßnahmen ergreifen, werden von der Armee festgenommen. Zur Dokumentation der Verfehlungen beider Seiten sind seit mehreren Jahren internationale Beobachter in Hebron stationiert. Sie werden selbst von Zeit zu Zeit Opfer der Siedler.
Es liegt an der Regierung Israels, den Siedlern finanzielle Anreize zum Abzug zu liefern. Noch werden sie allerdings in hohem Maße subventioniert. Landenteignungen bei Bedarf, Zuschüsse und Steuererleichterungen lassen die illegalen Ortschaften immer weiter wachsen. Seit dem Abschluss der Friedensverträge mit den Palästinensern 1993 hat sich die Zahl ihrer Bewohner auf 400.000 verdoppelt.
Peter Schäfer, Ramallah