Terrortruppe Antifa?
Während der Aufstand in den USA weitere Todesopfer fordert, will Trump die "Antifa" als eine terroristische Vereinigung verfolgt sehen
Inzwischen wird bei der Niederschlagung des Aufstandes in den Vereinigten Staaten immer öfter scharf geschossen. Allein in der Nacht auf Montag sind drei Demonstranten bei den in vielen US-Städten weiterhin mit voller Härte tobenden Auseinandersetzungen erschossen worden. 40 US-Städte haben nächtliche Ausgangssperren verhängt. Viele Menschen wurden mit Schussverletzungen in Krankenhäuser eingeliefert, mehr als 4400 Demonstranten wurden im Verlauf der Protestwelle verhaftet.
US-Medien veröffentlichten verstörende, an Bürgerkriegsgebiete erinnernde Aufnahmen von Protesten gegen Polizeigewalt aus Los Angeles, bei denen Polizisten plötzlich das Feuer eröffneten und die Demonstranten panikartig Deckung suchen mussten. In Louisville (Kentucky), wo schon in den vergangenen Tagen mehrere Protestteilnehmer angeschossen worden sind, haben Polizei und Nationalgarde einen Demonstranten erschossen. Die Polizei behauptete nachher, sie habe nur das Feuer erwidert.
In Davenport (Iowa) soll es im Verlauf der nächtlichen Auseinandersetzungen zu Schusswechseln gekommen sein, bei denen zwei Menschen von der Polizei erschossen, und zwei weitere verletzt worden sind. Eine Polizeistreife soll dabei nach Angeben der Polizei beschossen worden sein. Ein Polizist erlitt Schussverletzungen.
Immer öfter greifen die äußerst rabiat vorgehenden Sicherheitskräfte gezielt Medienvertreter an. Laut ersten Angaben sind rund 90 Journalisten bei Ausübung ihrer Arbeit verhaftet oder angegriffen worden - überwiegend von Polizisten. Zuletzt erwischte es ein Team der Nachrichtenagentur Reuters, auf das Polizisten mit Gummigeschossen zielten. Laut Reuters sind bereits 15 Pressevertreter bei Angriffen verletzt worden. Eine Fotojournalistin hat ihr linkes Auge durch Polizeigeschosse verloren.
Strategie der Spannung?
Taktiken, die an Polizeiterror erinnern, scheinen auch bei dem medial gut dokumentierten Vorgängen gegen betont friedliche Protestformen zur Anwendung zu gelangen. Reporter, die live von einer Gedenkveranstaltung in Chicago berichtete, mussten plötzlich die Flucht antreten, um nicht von ein von einem "Hagel von Gummigeschossen" getroffen zu werden, wie es hieß. In Seattle wiederum haben Polizeibeamte bei friedlichen Protesten gezielt Kinder mit Tränengas besprüht.
Eine klare Eskalationslinie verfolgt auch die Polizei in New York, wo Beweismaterial für exzessive Gewaltanwendung seitens der Polizisten auftauchte - wie Bilder von Streifenwagen, die in Menschenmassen rasen. Ein Polizeivertreter erklärte, er sei "extrem stolz" auf die Arbeit seiner Kollegen. Im Epizentrum des Aufstandes, in Minneapolis, wo die Proteste unvermindert andauern, ist ein Lastwagen in eine Demonstration gerast. Wie durch ein Wunder gab es keine Toten.
Diese regelrechte Strategie der Spannung, die vom US-Staatsapparat verfolgt zu werden scheint, gipfelt in der konfrontativen Rhetorik des US-Präsidenten, der mit verbalen Attacken immer weiter Öl ins Feuer gießt. Zuletzt erklärte Trump, er wolle die "Antifa" als eine Terrororganisation einstufen einstufen. Dass es sich beim Antifaschismus um einen demokratischen Grundkonsens handelt, dass die vielfältigen antifaschistischen Gruppen und Zusammenhänge keinerlei organisatorischen Gesamtzusammenhang bilden und auch kaum über ein einheitliches Programm in Theorie und Praxis verfügen, scheint dem Präsidenten keiner seiner Berater vor dem Absetzen des entsprechenden Tweets erklärt zu haben.
Die New York Times bemerkte, dass ein solches Vorgehen kaum durch die jetzige Rechtslage gedeckt wäre, da es kein Gesetz gegen inländischen Terrorismus in den Vereinigten Staaten gebe, die bisherige, drakonische Terror-Gesetzgebung richte sich gegen ausländische Terroristen. Selbst wenn es sich bei der "Antifa" um eine einheitliche Organisation handelte, mache es die derzeitige Gesetzeslage folglich unmöglich, US-Antifaschisten zu Terroristen zu erklären. Laut Verfassungsexperten wäre ein solches Vorgehen schlicht verfassungswidrig. Es habe eher den Anschein, als wolle Trump mit solchen Bemerkungen seine Anhängerschaft bedienen, hoffte die Times.
Nichtsdestotrotz hat US-Generalstaatsanwalt William P. Barr kurz nach der Veröffentlichung des Trump-Tweets zur "Antifa" erklärt, das FBI würde gemeinsam mit lokalen Polizeikräften dazu übergehen, "gewalttätige Protestteilnehmer" zu identifizieren, die er ebenfalls als "einheimische Terroristen" bezeichnete. Es seien "von außen kommende Radikale", die die Gewalt anfachen würden, so Barr. Somit scheint ein US-Präsident, der von schwarzen Bürgerrechtlern inzwischen als ein "neofaschistischer Gangster" tituliert wird, eine Politik zu fördern, die Antifaschismus de facto kriminalisiert und mit Terrorismus gleichsetzt.
Anarchy, rioting, and looting needs to end tonight. If local law enforcement is overwhelmed and needs backup, let's see how tough these Antifa terrorists are when they're facing off with the 101st Airborne Division. We need to have zero tolerance for this destruction.
Tom Cotton, der für den Senatssitz in Arizone kandidiert, retweetet von Trump
Trump im Bunker
Die auf weitere Eskalation setzende Strategie Trumps ließ in der Nacht auf Montag Washington und das Weiße Haus zu einem Schwerpunkt der Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Polizeikräften werden. Zeitweise flüchtete der Rechtspopulist in den Bunkerkomplex unter dem Weißen Haus, während der Secret Service samt Nationalgarde die Protestteilnehmer vom Weißen Haus abdrängen mussten.
Die gegen die "Antifa" gerichteten Anschuldigungen Trumps verstärkten die Debatte über etwaige Provokateure in den Reihen der Demonstrationsteilnehmer, die aus politischem oder taktischem Kalkül Gewalt und Plünderungen schüren würden. Die New York Times bemerkte in einem Hintergrundartikel, dass es zwar Hinweise auf lokale Zusammenhänge und Individuen gebe, die bei etlichen Protesten eskalieren würden, es aber nicht den Anschein habe, als ob es sich um eine gezielte und landesweit koordinierte Großkampagne handelte.
Überdies können bei den lokal durchaus gegebenen Verdachtsfällen auch faschistische Gruppierungen aus dem Umfeld der gewaltbereiten Anhängerschaft Trumps für die Entfachung der Krawalle verantwortlich sein. Der Präsident hat sich wiederholt schützend vor die rechtsextremen und faschistischen Gruppen gestellt und ihre bis zu Mordanschlägen gehende Gewalt immer wieder verharmlost.
Laut der Times gebe es vielfältige Online-Aktivitäten der militanten Rechten während der letzten Tage, die in den Protesten ihre Chance auf den ersehnten zweiten Bürgerkrieg sieht, der die Errichtung eines rassereinen "Weißen Staates" in Nordamerika zur Folge haben solle (im Szenejargon als "boogaloo" bezeichnet). Doch Berichte von faschistischen Provokateuren auf Demonstrationen lägen bislang nur vereinzelt vor. Zu einer ähnlichen Schlussfolgerung kamen weitere Recherchen, die von möglichen sporadischen Provokationen von Neo-Nazi-Gruppen berichteten, ohne dass eine eindeutige, landesweite Strategie der ohnehin weitgehend fragmentierten Szene konstatiert werden könne.
Nach Behördenangaben sollen sich zumindest bei den Auseinandersetzungen in Minnesota tatsächlich "Weiße Nationalisten" und Nazis als Agitatoren und Provokateure versucht haben, vor allem in Minneapolis und St. Paul. Es kursieren in sozialen Netzwerken Videoaufnahmen von der Übergabe eines solchen Provokateurs an Polizeikräfte. Der Gouverneur von Minnesota, Tim Walz, sprach in diesem Zusammenhang von einem "Muster" an Provokationen und Gewaltakten, das klar erkennbar sei.
Letztendlich aber soll die fixe Idee des "äußeren Störenfrieds", der die Proteste instrumentalisieren würde, von den gegebenen, hausgemachten Widersprüchen und Problemen ablenken, die diese Protestwelle eben auslösten: von der zunehmenden Verarmung, der ausartenden Polizeiwillkür, dem krisenbedingt ansteigenden Druck.
Die Eskalationsstrategie, die Donald Trump offensichtlich verfolgt, dürfte hingegen ihre Ursache in dem Umstand haben, dass es die letzte Option ist, seine Präsidentschaft in eine zweite Amtszeit zu retten. Selbst ein Joe Biden, der kürzlich noch Schwarze beschimpfte, sie seien nicht schwarz, wenn sie ihn nicht wählten, kann einen zehnprozentigen Vorsprung auf Trump verbuchen.
Derzeit würde somit wirklich jeder Herausforderer Donald Trump bei einer Wahl schlagen. Nur bei einer klaren, krassen ideologischen Frontstellung im kommenden Wahlkampf, bei einer Forcierung von Polizeistaatspolitik gegenüber einer sozial wie ethnisch gespaltenen und kriselnden Gesellschaft hätte Trump noch eine Chance. Trumps einziger Weg in eine zweite Amtszeit führt zugleich in den Autoritarismus, in die Postdemokratie.
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