Tetsuos Rückkehr nach Genua

Günter Hack guckt Akira - digitally remastered!

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Ein harter Tag für einen Otaku. Das Wetter ist widerwärtig schön und mein Lieblingssender RTL2 bringt ein Reality Movie über das "schlimmste Zugunglück aller Zeiten... in der Geschichte Südaustraliens!" Doch frische Luft ist Gift für professionelle Geeks und zur Entspannung kommt nur der massive Einsatz modernster Unterhaltungselektronik unter Verwendung aus anderen Ländercode-Regionen importierter DVDs in Frage.

Meines Wissens kriegt man ihn noch nicht im europäischen Teil der Zone 2, den erst kürzlich von Pioneer USA rundrumerneuerten Akira auf DVD. Für reiche Freaks gibt es ihn auch als Special Edition mit einer ganz, ganz tollen Extraverpackung und Extra-Making-of-DVD und ganz bestimmt einem Zettelchen drin, auf dem wichtig was von wegen "Limited Edition" steht, aber solche Dinge sind was für GTI-Fahrer und Leute, die im Frottee-Schlafanzug auf Star-Trek-Conventions den klingonischen Schmuseteddy geben.

Aber auch denen dürfte diese DVD gefallen, denn sie ist wahrhaftig fein geworden. Schon die Menüs sind liebevoll gestaltet, es gibt auch in der normalen Fassung eine Einführung in Story und Hauptfiguren, selbstverständlich alle Dolby-Surround-Tricks, Tonspuren in Anglopidgin und Cityspeak, Untertitel und Schokostreusel in Form einer witzigen Funktion, die jedesmal beim Auftauchen japanischer Graffitti und Schilder ein Symbol einblendet, woraufhin man die Kiste auf Knopfdruck zu Übersetzungsdiensten anregen kann. Dieses Feature ist zwar meistens für das tiefere Verständnis der erzählten Geschichte vollkommen nutzlos, aber ich wollte schon immer mal ein Satellitenfoto von Neo-Tokio bis ins kleinste Detail erklärt kriegen.

Die Bildqualität ist... göttlich, anders kann man das nicht sagen. Wer den Film noch nie im Kino und nur auf fratzeligen VHS-Tapes gesehen hat, musste den Einfluss dieses Meisterwerks von Katsuhiro Otomo auf andere Anime und vor allem das Grafik-Design der Gegenwart unterschätzen.

Schon die Verfolgungsjagd der Motorradgangs zu Beginn des Films, in der bereits die Charakterzüge der beiden Hauptfiguren, Kaneda und Tetsuo, fein an den Rändern skizziert werden, ist stilbildend. Man weiß sofort, was die cleveren Brüder bei Designers Republic geguckt haben, bevor sie sich an die Gestaltung der ihrerseits zu Recht berühmten Spieleserie Wipeout machten... Irrsinnige Vehikel jagen sich zu dumpfem Beat durch kreischend leere Tunnel, verwehende Neonspuren hinter sich lassend... Dahinter die kristallen aufgetürmten bernsteinfarben leuchtenden Wolkenkratzer von Neo-Tokio.

Wenn ich Tokio wäre, dann würde ich allmählich Kopfweh kriegen, vom dauernden Vernichtetwerden. Ständig kriegt diese Stadt atomares auf die Dächer, kommt Godzilla unter die verschorften Hufe oder muss sich von Angels und Evangelion-Kampfrobotern plattmachen lassen. Die Welt der Anime ist ein guter Ort für Architekten - vorausgesetzt, sie haben sich auf die Errichtung gigantomanischer Techno-Superstrukturen spezialisiert und haben nichts dagegen, dass ihre Werke schon am Tag nach Fertigstellung von der nächsten schlecht gelaunten Naturgewalt zerballert werden.

Es ist schon millionenfach vertieft worden, dass diese rituelle Tokio-Vernichtung dazu dient, das japanische Trauma der amerikanischen Atom-Bombardements im Zweiten Weltkrieg aufzuarbeiten. Auch in Akira muss Tokio dran glauben - und zwar gleich zweimal, aber es gibt keine direkte Verbindung zum Zweiten Weltkrieg. Die Geschichte von Akira, die sich vordergründig um die Ausbeutung von Kindern mit PSI-Fähigkeiten dreht, ist nicht nur vor dem heutigen Hintergrund biotechnischer Zugriffsneurosen aktuell. Akira ist eine einzige Orgie der Verkommenheit, der Korruption und der Gewalt. Alle sind gewalttätige Irre, denen ein entscheidendes Puzzleteil zum tieferen Verständnis der Situation fehlen muss, weil sie in ihrer kranken Umgebung gerade nur deshalb existieren können, weil sie ihre blinden Flecken hingebungsvoll pflegen.

Wie in allen guten SF-Stories geht es auch in Akira nicht wirklich um Kampfroboter, Mutanten und ähnlichen Klimbim aus den heftig verlinkten Standard-Bibliotheken des Genres, sondern um die Beschreibung und Extrapolation aktueller gesellschaftlicher Trends. Wie Neon Genesis Evangelion eigentlich eine Geschichte vom Erwachsenwerden in einer feindseligen Welt ist, so kreist in Akira alles um pubertäre Hassgefühle, befeuert durch eine selbstverständliche Brutalität in der eigenen Bezugsgruppe sowie der streng hierarchisch gegliederten Gesellschaft und ihrer Machtapparate, die sich nur noch durch blanke Gewalt stabilisieren können.

Ein rekurrierendes Motiv in Akira sind die City Riots, in bester Tradition von Moebius' John Difool. Linke Aufständische demonstrieren und werden umgehend von roboterhaften Polizeitruppen attackiert, besonders eindringlich ist eine kurze Einstellung, in der ein hustender Mann aus den Tränengasschwaden herausstolpert, daneben steht ein Polizist, der ihn sogleich entdeckt und ihm aus nächster Nähe eine Granate aus seinem Tränengasgewehr in die Magengrube feuert.

Schnitt: Eine Sportarena wurde in ein Gefangenenlager konvertiert, paramilitärische Polizisten prügeln und foltern ihre Gefangenen. Das ist Genua, nur auf Honshu. Weil Otomo ein Künstler ist und kein dummer Propagandist, gibt er seinen Polizisten und Soldaten Gesichter und Zweifel. Sie weigern sich - viel zu selten, allerdings - Befehle auszuführen und auf scheinbar unbewaffnete Kinder zu schießen. Zu dumm nur, dass es sich dann bei diesen wiederum um tödliche Mutanten mit übermenschlichen Kräften handelt. Sanftmut und Zaudern werden in Otomos Universum umgehend mit dem Tod bestraft.

Auch die Gegner der Polizei, die von einem korrupten Politiker gesteuerten Terroristen, sind nicht zimperlich. Sie töten bedenkenlos Polizisten, jagen gut besuchte Einkaufszentren in die Luft, Normalos sind Fleischpuppen, Kanonenfutter für geistesgestörte Extremisten und Machtfreaks. Otomo übersetzt zeichnend seine Umgebung, schreibt finstere Geschichten über zwischenmenschliche Grausamkeit wie Domu (1981) oder witzige Satiren wie Der Hauch alter Zeiten (1979), wo haarige Neo-Hippies in einem ultrasauberen Neo-Tokio herumturnen und als ultimativen Terrorakt den längst ausgerotteten Schnupfen wieder in die Stadt zurückbringen. In Akira enthält Otomo sich solcher Niedlichkeiten. Am Ende stehen Militärdiktatur und totale Vernichtung.

Vor allem die Rivalität zwischen dem Bikerpunk-Anführer Kaneda und seinem Unterling Tetsuo, der durch Kontakt mit einem Mutanten zu monströs-unkontrollierbaren Superkräften kommt, ist geschliffen real, weil wirklich jeder Mensch ein Alpha-Männchen wie Kaneda und einen verdrucksten Tetsuo kennt. Einen, der von den Launen der Evolution mit mehr Hirn und mehr Muskeln beglückt wurde und einen anderen, der etwas weniger von beidem hat, aber gerade noch genügend davon, um es mitzukriegen und seinen Boss ausgiebig hassen und beneiden zu können und jede Chance nutzen wird, es ihm endlich mal richtig zeigen zu können.

Doch Otomo gestaltet auch diese Beziehung komplexer und legt behutsam Schicht um Schicht der beiden Persönlichkeiten frei. Inmitten der dunkelsten Hass- und Vernichtungsszenen blitzen Freundschaft und Liebe der beiden Protagonisten zueinander auf. Kaneda, der Tetsuo schon seit den ersten gemeinsamen Tagen im Kinderheim beschützt hat, fühlt sich auch noch für seinen Freund verantwortlich, nachdem ihn dieser in einen Kampf auf Leben und Tod verwickelt und nebenbei mal wieder Neo-Tokio in Schutt und Asche gelegt hat. Auch Tetsuo fällt sofort in die alten Verhaltensmuster zurück, wenn es ihm schlecht geht und seine Superkräfte außer Kontrolle geraten.

Akira ist eine Geschichte von menschlicher Beschränktheit, die Evolution lässt sich nicht zwingen. Es ist soweit, wenn es soweit ist; und dann kommt natürlich alles anders, als von der technokratischen Machtelite geplant. Genauso wie Tetsuo auf seine Hormone hereinfällt und seine Stärke nicht kontrollieren kann, weil seine Persönlichkeit einfach die Macht nicht gewohnt ist, so lässt sich Kaneda von seinem gewissermaßen militärischen Verantwortungsgefühl für seinen früheren Untergebenen Tetsuo ins Chaos locken. Simple psychologische Mechanismen, die einen Vortex erzeugen - der sprichwörtliche Flügelschlag des Schmetterlings im Amazonas.

Akira kam 1988 in die Kinos. Seither ist dieser Film kaum gealtert und auch von prominenten Nachfolgern im eigenen Genre wie dem von mir ebenfalls innig geliebten Ghost in the Shell nicht wirklich übertrumpft worden. In Anime wie Akira triumphieren das menschliche Hirn und die von ihm gelenkte Hand. Spielberg und Lucas können noch so viele auf saftigen Serverfarmen grasende Dinosaurier aufbieten und werden doch nur selten eine kühle Dynamik wie jene in Akira erreichen können. Oft wird auch über die Einförmigkeit der japanischen Zeichentrick-Kultur gelästert. Dabei sollten wir nicht vergessen, dass in Deutschland überhaupt keine Filme mehr produziert werden, die wirklich wichtig sind, bei denen man die DVD-Einheit langsam Frame für Frame weiterschalten lässt, um das Gehirn in Details zu baden und nochmal ganz genau hinzusehen, wie es diese Genies aus Neo-Tokio wieder einmal geschafft haben, uns zu verblüffen.

Akira