Therapeuten, Terror-Kuratoren und Meta-Denker

Wie soll man mit Anschlägen umgehen? Eine Beobachtung der deutschen Medien in der Terror-Endlosschleife

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"Was? Nur 12 Tote? Deswegen regen die sich so auf?" - Kinder sind manchmal präziser und in jedem Fall unverblümter als Erwachsene. Es war der neunjährige Sohn einer befreundeten Redakteurin, der die Nachrichten von dem Berliner Anschlag am vergangenen Dienstag so ungerührt kommentierte. Nun muss man wissen, dass die Redakteurin mit ihrer Familie in Paris lebt.

2015 erlebte sie dort die beiden schweren Anschläge, zunächst vor fast zwei Jahren gegen die Redaktion von "Charlie Hebdo" und einen koscheren Supermarkt (17 Opfer plus drei tote Attentäter), vor allem dann aber die Anschläge vom 13. November 2015 mit 130 Todesopfern und sieben toten Terroristen und später die von Nizza. In einem der damals in Paris betroffenen Cafés ist die Paris-Korrespondentin selbst häufig zu Gast. Von den Franzosen und ihrem Umgang mit den Anschlägen könnten die Deutschen allemal einiges lernen, meint sie.

Aber wie geht man richtig mit einem solchen Anschlag um? Schon mal nicht so wie die öffentlich-rechtlichen Sender mit ihrer Live-Berichterstattung, die in ihrer Permanenz und Penetranz der Wiederholung des immergleichen Nichts auch fast schon einen Terror eigener Art darstellt,

In der konkreten Gestalt bedeutet dies: Drei Stunden lang Endlosschleife einer Leier von Informationslöchern, die durch Fragen gestopft wurden: War es jetzt ein Anschlag? Oder doch nur besoffener oder depressiver LKW-Fahrer? Das hätte man nicht derart in die Länge ziehen müssen, sondern hätte viel kürzer berichten können.

Irgendwann kommt dann noch der unvermeidliche Mascolo, sogenannter "Terrorexperte", stellt sich neben den Moderator und sagt immerhin ehrlich, er wisse eigentlich noch gar nichts, und das sei auch gut so. Bleibt aber dann auch stehen, um das Symbol des Nichtwissens zu verdoppeln.

Surrogate und Unmittelbarkeit

Da kommen wie bereits am Abend des Münchner Amoks drei der übelsten Phänomene zusammen: Die Konkurrenz der Medien und der Selbstbehauptungszwang der Traditionsmedien in Zeiten ihres Verfalls. Der klassische Journalismus steht derzeit in dem Dilemma, nie schneller zu sein als das Internet, trotzdem aber sich in den Wettbewerb mit diesem treiben zu lassen. Immer früher, immer schneller - was die machen keine Sondersendung, also Anruf beim Funkhaus.

Folge davon ist Nicht- und Halbwissen, das dann wieder dazu führt, dass fortwährend irgendwelche Surrogat-Nachrichten präsentiert werden. Schließlich der Zwang zur "Immediacy", zur Unmittelbarkeit. Es muss sofort berichtet werden, sofort auf Sendung gegangen werden, jede Meldung zur Eilmeldung werden, jede Sendung zur extra-Sendung, zum "Spezial", etc.

Angeblich wollen das "die Leute", und fraglos haben Medien heute als vierte Gewalt nicht nur eine Informationsrolle, sondern auch eine Stabilisierungsfunktion. Je größer die Unsicherheit, um so mehr geben sie Geborgenheit. Zum einen filtern sie die subjektiven oder schlicht falschen Informationen der Leser-Reporter und Selfmade-Journalisten, sie oder bündeln diese zu ersten Wahrheiten, zum zweiten geben sie Sicherheit und Gefühlswärme.

Da es in den westlichen Gegenwartsgesellschaften sowieso schon eine nervöse Terror-Erwartung gibt, wirkt das eintretende Ereignis dann wie eine sich selbsterfüllende Prophezeihung. Gegen den Schock dieses Eintritts wird dann angeredet, gewissermaßen zur Beruhigung. Medien werden zu Therapeuten der Gesellschaft.

Das sind die Rollen. Dazu gehört dann auch, sich selbst zu thematisieren, und zu erklären, wie "wir" "darüber" berichten. Zu den Posen dieser medialen Metareflexion gehört vor allem die "Nachdenklichkeit" und die Selbstkritik", sowie die Geste: "Wir haben wir uns entschieden, dies und jenes nicht zu zeigen." Leichen werden also gepixelt, Bilder von Tätern gern auch (obwohl die längst ungepixelt im Netz zu sehen sind), Fahndungsfotos aber nicht.

Das Ergebnis in der sich rapide umformatierenden Öffentlichkeit ist aber ein Verrat an diesen Rollen. Es ist eine ungegliederte Über-Information. Medien kuratieren und verdauen nicht mehr die Information, sie verstärken sie nur.

Damit geben die Traditionsmedien ihren Markenkern preis. Dieser Markenkern lautet nämlich nicht schneller, schneller, früher, früher, sondern er lautet: Besser. Bessere Vermittlung, mehr Fakten, vertiefende und zusätzliche Informationen, weiterer Horizont und Überblick durch Fachwissen, klügere und tiefsinnigere Einordnung.

Auf dieser Ebene können Traditionsmedien immer gewinnen, auf der anderen nie.

Lernprozesse in Anschlagszeiten

Das also waren die Medien. Und "die Leute"? Die ersten Nachrichten kamen von türkischen Freunden: Nur etwa zwei Minuten nach den allerersten Meldungen, zu einer Zeit als in deutschen Medien noch einfach davon die Rede war, ein Laster sei in einen Weihnachtsmarkt gefahren, vermutlich ein Toter, kamen schon die besorgten Textzeilen aufs Handy: "Just heard about Berlin. Are you ok?" und ähnliches. Wie bereits beim Münchner Amoklauf, den viele auch zunächst für einen Anschlag gehalten hatten.

Von den Türken lernt man, derartiges nicht übertrieben zu finden, sondern ernst zu nehmen als Anteilnahme. Man lernt, die Möglichkeit zu erwägen, man könne selber betroffen sein. Man lernt auch, ebenso in die andere Richtung zu denken und sich umgekehrt nachfragend zu melden: Bei den Anschlägen von Istanbul vor zehn Tagen, beim Militärputsch im Juli. Nur eine kurze sms, ohne Umschweife, sinngemäß: "Alles gut? Lebst du noch?" Womit man indirekt einräumt: Es könnte ja auch anders sein.

Das ist der entscheidende Kulturbruch: In den anderen, kühl-realistischen Zeiten der neuen Unsicherheit, in denen wir neuerdings leben, gehört es zumindest zur vagen Möglichkeit, Opfer eines Anschlags zu werden.

Nicht statistisch gesehen natürlich. Statistisch gesehen, ist es fast 4.000 Mal wahrscheinlicher, durch eine Grippe zu sterben oder durch einen Schlaganfall, und immer noch 2.000 Mal wahrscheinlicher, Opfer eines Haushaltsunfalls zu werden. Durch Rauchen oder Autofahren sterben sowieso unzählig mehr Menschen - und trotzdem machen das alle jeden Tag.

Aber das ist alles nicht postfaktisch genug.

Es gibt schließlich auch gefühlte Wahrheiten. Darauf werden wir noch kommen. Grundsätzlich gilt: Je weiter man weg lebt von Anschlägen, um so unsicherer fühlt man sich. Terrorangst ist so wie Fremdenangst. Terror scheint nicht berechenbar. Darum fürchten 73 Prozent der Deutschen einen Terroranschlag.

"Nutzt ja nüscht zu jammern!"

Die Gespräche in Berlin waren kühler. Die ganze Stadt traumatisiert, wie ich irgendwo las? Quatsch! Am Abend der Anschläge noch sprach man unter Freunden nach der kurzen Vergewisserung - "Ok, Du warst auch nicht in der Nähe." Oder dem Zusatz: "Ich war erst vorgestern am Breitscheidplatz" - über die ärgerlichen Umleitungen oder die blöden Busausfälle als spürbarste konkrete Folge der Anschläge fürs eigene Leben und dann schon wieder darüber, wann man über Weihnachten wegfährt und wohin, und wie man es findet, dass ausgerechnet der 76-jährige Jürgen Todenhöfer jetzt bei Jakob Augsteins Freitag Herausgeber werden soll. Ein Grund, das Abo abzubestellen? Oder eher dazu, jetzt endlich zu abonnieren. Hauptstadttalk halt.

Dass es da auch einen Anschlag gab, ja, das ist natürlich schlimm, und die armen Leute, also die Toten und Verletzten, nicht Reinickendorfer Omas, die jetzt im Boulevard darüber jammern, dass ihnen die Terroristen auch noch die Weihnachtsmärkte nehmen wollen und sich auch als Opfer fühlen. Aber sonst? Was soll man tun? Weitermachen. Leben. Morgen wieder arbeiten, statt den ganzen Sondersendungsmüll zu sehen, besser noch im "Haliflor" ein, zwei Bier trinken. "Nutzt ja nüscht, zu jammern!"

Da hat der Spiegel die gefasste Stimmung ganz gut getroffen: "Maximal unbeeindruckt".

Andererseits dann diese Wellen in Facebook, von denen mir Freunde erzählen. Da muss dann tatsächlicher auch jeder, von dem man es gar nicht wissen wollte, posten "Ich lebe noch!" Gegenfrage: "Hast Du das je?" Nein, das klänge jetzt zynisch, bisschen Pietät bitte. Aber Narzissmus ist es schon, und diese Gemeinschaften der Nicht-Opfer, die sich dann bilden, sind obszön und gefühlsduselig obendrein.

Jetzt erst recht: Weihnachtsmarkt!

Es gibt ja nicht wenige, da sollte man ehrlich genug sein, die die bloße Existenz von Weihnachtsmärkten auch als eine - natürlich komplett anders geartete - Form von Terror empfinden, und um diese so weit möglich einen großen Bogen machen. Man hat sich gerade in den letzten Jahren und gerade in Berlin, wo die Kolonisierung des öffentlichen Raums durch derartige Vergnügungen noch stärker grassiert als anderenorts, nicht selten gewünscht, es würde irgendein Anlass dafür sorgen, dass es sie mit einem Schlag einfach nicht mehr geben würde. Trotzdem keine klammheimliche Freude jetzt. Denn noch schlimmer als ein Weihnachtsmarkt ist ein geschlossener Weihnachtsmarkt. Eine depressive kackleere Bretterbudenlandschaft aus Hässlichkeit.

Die Entscheidung der Berliner, ihre Weihnachtsmärkte am "Tag darauf" geschlossen zu lassen, war diese Berlin-typische Takt- und Geschmacklosigkeit. Von drei Möglichkeiten wählt man hier mit sicherem Instinkt die schlechteste.

Die Märkte wurden zunächst mal einfach geschlossen. Dann die so genannten "erhöhten Sicherheitsmaßnamen": Einzelne Polizeiwagen irgendwo am Rand, ein paar paarweise patrouillierende Polizisten in martialischer Ausrüstung und mit Maschinenpistolen, von denen wir mal hoffen wollen, dass sie nicht geladen sind. Denn die Wahrscheinlichkeit, dass ihnen ein Haufen Besoffener die MP wegnimmt ist weit größer, als dass sie je auf einen Terroristen zielen.

Wieder nur "gefühlte Sicherheit". Ab und an mal ein Betonpoller

Von den Franzosen lernen

Dass, wenn eines, könnte man von den Franzosen lernen: Geschmack, Gelassenheit, und Verteidigung der eigenen Lebensform. Nach den Pariser Anschlägen lebten uns die Menschen in unserem Nachbarland Frankreich vor, dass die Öffentlichkeit nicht preisgegeben werden darf. Jetzt erst recht gingen sie raus, besuchten sie öffentliche Veranstaltungen.

Das gilt, so bescheuert es klingen mag, auch für die Weihnachtsmärkte. Und auch wer Weihnachtsmärkte eigentlich hasst, muss jetzt hingehen und übersüßten Schädelknackerglühweinfusel in sich hineinschütten, trockene Lebkuchenpampe mümmeln und hinterher noch einen Grünkohl mit Pinkel mit Bier runterspülen und für die Schwieger-Oma überteuerte Plätzchen kaufen. Auch das ein Signal gegen den Terror. Oder?

Denn bevor Angst und Panik den Verstand frisst, die Gesellschaft zur Echokammer des Wahnsinns wird, in die man sich mit anderen zurückzieht und sich gegenseitig permanent bestätigt, dass man doch im Recht ist mit seinen Gefühlen, wie auch mit seinen Annahmen über die Flüchtling, und in der nur noch Lügen und gefühlte Wahrheiten als Fakten genommen werden, sollte man sich daran erinnern, dass Gefühle und Instinkt nicht das Gleiche sind.

Angst ist ein Gefühl, Furcht ein Instinkt. Redezwang und Denkunlust sind Gefühle, Verdrängung hingegen, Verdrängung des Terrors ist ein Überlebensinstinkt. Und das, um einen Regierenden Bürgermeister Berlins aus dem Zusammenhang, aber im Geist dieser Frontstadt der Freiheit, zu zitieren: "Und das ist auch gut so!"