Therapievorschlag: Tempolimit 120 auf deutschen Autobahnen

Seite 2: Eine Frage des Patriotismus?

Der VW-Chef Diess ("Ebit macht frei") argumentiert doch ernsthaft gegen das Tempolimit mit "individueller Freiheit". Die Frage ist, Freiheit für wen? Freiheit also ganz offenkundig für die (zu) Schnellfahrer, auf Kosten der Langsamer-Fahrenden.

Einige argumentieren etwas schräg, US-Amerikaner und andere würden "die Deutschen" für ein fehlendes Tempolimit und die vermeintlich "unbegrenzten Möglichkeiten" des Rasens bewundern. Dazu passt das folgende Zitat des Hollywood-Stars Tom Hanks:

If you go passed the sign that says 120 with a line through it, the gloves are off, baby. You can drive - you can drive, the government is off your back in Germany. […] And the only time I got scared was, no matter how fast you are driving in Germany, someone is driving faster then you.

Ja, das Herz des deutschen Patrioten wird ganz groß bei so viel Lob und falscher Glorifizierung des deutschen Rasens. Es handelt sich hier offenbar um unbedachte Aussagen eines Prominenten, der sich mit den Auswirkungen dieser Politik nicht einmal an der Oberfläche beschäftigt hat, und der aus einer rein touristisch-hedonistischen Perspektive spricht (zudem mit einer gewissen Ironie in der Stimme).

Leistungswahn, Statussymbole, Konsumgeilheit

Man könnte sich natürlich die Frage stellen, weshalb gerade in Deutschland die "Kultur" des Rasens und Drängelns so verbreitet und politisch gedeckt ist. Die anderen selbsternannten Auto-Nationen und andere toxisch-männlich dominierte Kulturen haben alle ein Tempolimit.

Der Druck, ständig Leistung erbringen zu müssen, der auf die Menschen im Arbeits- und Privatleben sowie im Bildungssystem ausgeübt wird, dürfte hier eine Rolle spielen. Auch erzwungene Konformität und der Zwang, stets Geld verdienen zu müssen, fördert offenbar Frustration und Aggressivität.

Und da bedarf es der Ventile, um den Druck abzubauen. Es gibt natürlich verschiedene Möglichkeiten, um damit umzugehen. Auch in den Ländern, in denen ein Tempolimit in Kraft ist, also in fast allen Ländern. Jedes Spielen ultra-gewalttätiger Ballerspiele ("Killerspiele") ist ein folgenloses und harmloses Ventil gegenüber dem pathologischen "Hobby", Menschen mit einem Auto zu gefährden und zu unterdrücken.

Besser wäre es natürlich, nicht Symptom-, sondern Ursachenbekämpfung zu betreiben, den Druck aus der Gesellschaft zu nehmen und den Wettbewerb zwischen Menschen zu verhindern. Stattdessen wird alles und jeder zu einem Player im großen Marktwettbewerb - entsprechend ökonomisch-kapitalistischer Prinzipien im Zeitalter des Neoliberalismus.

Zum Beispiel soll Bildung im Sinne aktueller polit-elitärer Dogmen zunehmend der optimierten (Selbst-) Ausbeutung des "Humankapitals" dienen. Und immer weitere Möglichkeiten der vermeintlichen Optimierung werden von den Menschen selber auf ihren Körper übertragen (Fitness-Armbänder usw.) - um hier nur zwei Beispiele zu nennen.1

Apropos Entschleunigung - wer einmal in Ländern mit Tempolimit wie Frankreich oder den USA auf einer Autobahn gefahren ist, weiß, wie entspannt und vergleichsweise friedlich eine solche Fahrt abläuft. Die meisten Menschen dürften dieses Lebensgefühl gerne gegen das etwas schnellere Vorankommen eintauschen.

Echte Straftaten

Das fehlende Tempolimit auf vielen Abschnitten deutscher Autobahnen kann als ein De-Facto-Freifahrtschein für Ordnungswidrigkeiten und Straftaten gesehen werden, denn meisten Vorfälle von Drängeleien auf Autobahnen werden in Deutschland als Kavaliersdelikte gehandhabt:

Begeht der Drängler bei der Aktion einen Abstandsverstoß, kann er für diese Ordnungswidrigkeit einen Bußgeldbescheid kassieren.

Allianz Autowelt

Und das, obwohl es sich häufig um den Straftatbestand der Nötigung handelt:

Eine Nötigung wird aus der Sache erst, wenn der Vorbeifahrende gleichzeitig dicht auffährt oder sich durch permanentes Aufblenden die Spur freidrängeln will, ganz im Sinne von: "Jetzt mach endlich die Bahn frei, du Schnarchnase!"

Allianz Autowelt

Solche Zwischenfälle kennen alle Autofahrer in Deutschland, die auf Autobahnen unterwegs sind.

Andererseits gilt es aber, dass sich das Opfer einer solchen Aktion nicht provozieren lassen darf. Wenn er oder sie den Überholvorgang beendet hat, muss wieder auf die rechte Spur eingeschwenkt werden. Der berechtigten Versuchung, den Drängler auszubremsen, sollte man nicht nachgeben, denn:

Der Tatbestand der Nötigung im Straßenverkehr kann beispielsweise dann erfüllt sein, wenn ein Fahrer einen anderen absichtlich ausbremst, ihm zu dicht auffährt oder ihn grundlos bei einem Überholvorgang behindert. bussgeldkatalog.org

Es ist deprimierend, dass man sich legal scheinbar nicht einmal so richtig zur Wehr setzen kann gegen Drängler, wenn am Ende doch nur Aussage gegen Aussage steht oder man sogar eine ungerechtfertigte Gegenanzeige kassiert.

Es besteht aber doch eine Möglichkeit der Selbstverteidigung, wie solche Anleitungen zum Überführen krimineller Verkehrsrowdys zeigen.

Falls also das Tempolimit 2021 doch nicht kommen sollte: Mithilfe einer hochwertigen Heckscheiben-Dashcam, einer Rechtsschutzversicherung und etwas Verstand, kann man sein Recht und seine Würde zurückerlangen. Starke Nerven und einen streitbaren Charakter vorausgesetzt kann das eine spannende Angelegenheit und ein wichtiger Beitrag im Kampf gegen Kriminalität und anti-soziale Verhaltensweisen auf deutschen Autobahnen sein. Wenn man auf Nummer sicher gehen will, sollte man die Straße aber nicht ständig filmen, sondern nur anlassbezogen.

Interessant in diesem Zusammenhang ist auch dieser Hinweis:

Gemäß einem Urteil des BGH vom 15. Mai 2018 (VI ZR 233/17) sind trotz DSGVO-Verstoß die Aufnahmen einer Dashcam als Beweismittel vor Gericht zugelassen, insbesondere nach Unfällen, aber auch bei Nötigung.

Advocado.de

Schlussbemerkungen

Das Tempolimit auf deutschen Autobahnen wird kommen. Vermutlich nach der Bundestagswahl 2021, vielleicht etwas später, spätestens aber, wenn die Verbrenner verdrängt werden. Denn bei Elektrofahrzeugen lohnt sich der Geschwindigkeitsrausch nicht, da dieser zu stark zulasten der Reichweite geht.

Es ist aber schon erstaunlich und deprimierend, wie hartnäckig sich gegen eine so offenkundig sinnvolle Regelung Wirtschaftsinteressen so lange durchsetzen konnten. Das ist Hightech unter der Haube und Steinzeit im Kopf. In einem Weltbild, in dem Beschleunigung als Menschenrecht erscheint und die Mitmenschen wie Hindernisse, die mit den Ellenbogen weggekeilt werden müssen.

Und das alles in vollständiger Ignoranz gegenüber den tödlichen Konsequenzen für die Umwelt, die eigene Sicherheit sowie "schwächere" Verkehrsteilnehmer, die sich vernünftig verhalten, indem sie kleine oder schwach motorisierte (am besten Elektro-) Autos fahren.2