"Tiefes Bedauern" im Europarat, Wut auf den Straßen der Türkei
Proteste gegen Erdogans "Männerallianz" und deren Abkehr von Istanbul-Konvention zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen
Der Europarat hat in einer wachsweichen Erklärung "zutiefst bedauert", dass der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan die Istanbul-Konvention zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt per Dekret aufgekündigt hat.
Die türkisch-kurdische Oppositionspartei HDP sprach dagegen von einem "Putsch der männlichen Herrschenden": Die "Männerallianz" der Regierungsparteien AKP und MHP habe damit erneut ihre Frauenfeindlichkeit amtlich bestätigt, erklärte der HDP-Frauenrat, nachdem das Dekret in der Nacht zum Samstag veröffentlicht worden war.
In der gesamten Türkei gingen am Wochenende Menschen gegen die Entscheidung auf die Straße. Unter anderem die Plattform "Wir werden Frauenmorde stoppen" hatte zu den Protesten aufgerufen. Auch die Feierlichkeiten zum kurdischen Neujahrsfest Newroz im Südosten des Landes standen im Zeichen der Verteidigung der Konvention. Neben den kurdischen Nationalfarben waren reihenweise lila Fahnen von Frauenrechtsorganisationen zu sehen.
Die präsidiale Entscheidung ebne den Weg für Gewalt an Frauen, legitimiere Femizide, verdränge Frauen aus dem öffentlichen Raum und signalisiere Zustimmung für jede Form von Gewalt und Ungleichbehandlung, so der HDP-Frauenrat. Gewalttäter würden durch das Dekret geschützt und vor allem geflüchtete Frauen und Migrantinnen gefährdet.
Auch die kemalistische Oppositionspartei CHP verurteilte den Beschluss: "Frauen werden den herrschenden Tyrannen Lektion ereilen. Die Istenbul-Konvention kommt wieder", twitterte CHP-Chef Kemal Kilicdaroglu. "Sie können 42 Millionen Frauen nicht über Nacht per Dekret ihre Rechte entziehen", erklärte er.
Rollback im Namen des "Schutzes von Frauen und Familien"
Erdogan blieb damit zwar seinem Kurs der letzten Jahre treu - 2011 als Ministerpräsident hatte er die Konvention allerdings noch selbst unterschrieben. Kurz darauf hatte die Türkei das Übereinkommen des Europarats sogar als erstes Land ratifiziert. Alle Fraktionen der türkischen Nationalversammlung hatten damals zugestimmt.
Später hatte islamisch-reaktionäre Plattform die Debatte darüber losgetreten, ob das Regelwerk nicht die "Einheit der Familie" gefährde, da es auch scheidungswillige Frauen vor Gewalt schützen soll. Bereits im August 2020 hatte Erdogan diesen Kreisen in Aussicht gestellt, die Übereinkunft zu verlassen und durch eine eigene Konvention "zum Schutz von Frauen und Familien" zu ersetzen.
"Der Austritt aus der Konvention wird der Türkei und den türkischen Frauen ein wichtiges Instrument im Kampf gegen Gewalt entziehen", heißt es im Statement des Europarats vom Sonntagnachmittag, unterschrieben wurde es von Generalsekretärin Marija Pejcinovic Buric, dem Präsidenten der Parlamentarischen Versammlung des Europarats, Rik Daems, und dem amtierenden Vorsitzenden des Ministerkomitees, Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD). "Wir rufen die türkischen Behörden auf, das internationale System zum Schutz von Frauen vor Gewalt, das durch das Übereinkommen von Istanbul geschaffen wurde, nicht zu schwächen", erklärten sie diplomatisch.
Bundesregierung: HDP soll sich erst mal distanzieren
Zuvor hatte Maas getwittert die Entscheidung sei "ein Schritt rückwärts und ein falsches Signal an Europa". Keine Tradition rechtfertige es, den Schutz von Frauen vor Gewalt in Frage zu stellen.
Selbstentlarvend ist derweil die Haltung der Bundesregierung zum Verbotsverfahren gegen die HDP, das in der Türkei vor wenigen Tagen eingeleitet wurde. Die Demokratische Partei der Völker (Halkların Demokratik Partisi - HDP) tritt in der Türkei mit am konsequentesten für Geschlechtergerechtigkeit ein und arbeitet seit mehreren Jahren mit paritätischen Doppelspitzen. Auch deshalb ist sie Erdogans islamisch-konservativer AKP ein permanenter Dorn im Auge, aber vor allem wegen ihrer linken und prokurdischen Ausrichtung.
Letzteres stößt bei der deutschen Bundesregierung sogar auf Verständnis: Das Verbotsverfahren sieht sie zwar "mit großer Besorgnis" und hat Zweifel an der Verhältnismäßigkeit, weshalb sie es "sehr aufmerksam beobachten" will - von der HDP erwartet sie aber erst einmal eine Distanzierung von der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK).
Die Föderation der Demokratischen Arbeitervereine (DIDF), der vor allem Werktätige türkischer und kurdischer Herkunft in Deutschland angehören, stellte am Sonntag klar: "Der Austritt aus der Istanbuler Konvention fügt sich in das Gesamtbild eines Landes ein, das demokratische Rechte mit Füßen tritt, die Verfolgung von Regierungskritikern und Oppositionellen per Verbotsersuchen zuspitzt, mit aller Härte gegen Gewerkschafts- und Arbeiterrechte vorgeht und außenpolitisch mit den Nachbarländern militärische Konflikte befeuert."
Von deutscher Seite verlangte DIDF eine klare Positionierung: "Wenige Tage vor dem EU-Gipfel erwarten wir von der deutschen Bundesregierung statt leerer Empörungsbekundungen konsequente Schritte! Dazu gehört die Einstellung wirtschaftlicher und politischer Unterstützung sowie ein sofortiger Waffen- und Rüstungsstopp!"
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