Tödlicher Staub
Wurden im letzten Afghanistankrieg neuartige Urangeschosse eingesetzt?
Medizinische Risikofolgenabschätzung ist ein heikles wissenschaftliches Fachgebiet, vor allem, wenn es um die Langzeitauswirkungen freigesetzter radioaktiver Stoffe geht. Trotzdem mehren sich die Anzeichen, wie schon im Irak nach dem Krieg von 1991 und auf dem Balkan nach den Kriegen der Neunzigerjahre, dass der Einsatz von uranbestückter, konventioneller Munition in Afghanistan deutliche Auswirkungen auf die Gesundheit der Zivilbevölkerung nach sich ziehen wird.
Zumindest legen das neue Untersuchungen des Uranium MedicalResearch Center Inc. (UMRC) nahe, die sowohl in Afghanistan selbst als auch an Proben aus Afghanistan durchgeführt wurden. Das UMRC beschreibt sich selbst als regierungsunabhängig und neutral und ist auf den Nachweis und die Untersuchung von Kontaminationen durch abgereichertes Uran (depleted uranium oder DU) spezialisiert.
In Afghanistan, so zeigen die neuesten Untersuchungsergebnisse des Instituts, die sich vor allem auf Dschalalabad und die Umgebung von Kabul beziehen, ist es zu massiven Kontaminationen mit militärisch bedingten Uranrückstanden gekommen, die, und das ist neu, sich nicht allein durch die Verwendung von abgereichertem Uran erklären lassen. Wie das UMRC in seinem neuesten Bericht darlegt, müssen im letzten Krieg auch Munitionsarten verwendet worden sein, die nicht allein mit abgereichertem Uran, sondern auch mit anderen Aufbereitungsarten des strahlenden Schwermetalls bestückt waren [Übersetzung MH]:
Die Konzentrationen von nicht-abgereichertem Uran bei der Bevölkerung in Dchalalabad liegen um 400 - 2000% über der Norm. Diese Konzentration von strahlenden Isotopen war bisher bei der Zivilbevölkerung unbekannt. Aufgrund unserer Analyse kann ausgeschlossen werden, dass die gefundenen Messergebnisse auf eine Kontamination mit abgereichertem, angereichertem [i.e. atomwaffenfähigem, MH] oder wieder gewonnenem Uran aus dem Abfallkreislauf der Atomwirtschaft zurückgehen. Ebenso wenig sind diese Messergebnisse durch geologische oder andere lokale Faktoren erklärbar.
Das Papier diskutiert die Frage, ob es andere Quellen als den letzten Afghanistankrieg für die Verseuchung in Dschalalabad gegeben haben kann. Dabei kämen Beeinträchtigungen durch kommerzielle Bergbauaktivitäten, Al-Quida-Machenschaften, Überreste des Afghanistankriegs nach dem Einmarsch sowjetischer Truppen und anderes in Frage. Die Mitarbeiter des UMRC schließen einige davon zwar nicht kategorisch aus, halten aber die Bombardierungen im letzten Krieg für die wahrscheinlichere Ursache. Ihnen ist anhand ihrer Feldstudien plausibel, dass die schon jetzt beobachtbaren Gesundheitsprobleme auf genau diese Bombardierungen und nichts anderes zurückzuführen sind [Übersetzung MH]:
Alle Untersuchten, in der Umgebung aller von Bombardierung betroffenen Lokalitäten, wiesen identische Symptome auf, die zudem in der gleichen chronologischen Reihenfolge auftraten. Die spezifischsten und am häufigsten berichteten waren: Schmerzen in der Halswirbelsäule, im oberen Schulterbereich, an der Schädelbasis, Rücken- und Nierenschmerzen, Schlafstörungen, Kopfschmerzen, Gedächtnisverlust, Verwirrung. Diejenigen, die unmittelbar nach der Bombardierung kontaminiert wurden, berichten von Gesundheitsproblemen, die Minuten bis Stunden nach dem Ereignis [i.e. der Bombardierung, MH] eintraten.
Wenn man den bisherigen Erfahrungen mit Uranmunition trauen darf, werden diese noch vergleichsweise harmlosen Symptome bald durch eine ganze Reihe von Krebsarten (allen voran Lungenkrebs) ergänzt werden. Das Hauptproblem, und das kann nicht oft genug betont werden, sind dabei nicht Blindgänger, Splitter oder ähnliches, sondern die Aerosole (feinverteilten Stäube), die beim Auftreffen von Uranwaffen auf gehärtete Ziele entstehen und später eingeatmet werden können.
Wahrscheinlichste Ursache für die radiologische Belastung in Dschalalabad, so die Quintessenz des UMRC-Textes, ist der Einsatz neuer, uranbestückter Präzisionsmunition, die im Gegensatz zu früher nicht auf abgereichertes Uran (DU) zurückgreift, sondern auf eine andere Aufbereitungsform - wahrscheinlich Natururan, das mit seiner nichtmanipulierten Isotopenverteilung eine Identifikation als Überbleibsel militärischer Aktivitäten erschweren und im Gegenzug die Strategie einer "plausible deniability" erleichtern würde. Das ist bei all dem Wirbel, den es in der Vergangenheit wegen der Benutzung von Uranmunition immer wieder gegeben hat, durchaus möglich, wenn es auch angesichts der Untersuchungsergebnisse der UMRC längst nicht als bewiesen gelten kann.
Wie glaubwürdig ist die UMRC? Die Behauptung des Instituts, völlig unabhängig zu sein, verdient eine gewisse Skepsis. Immerhin stehen bei ihr kommerzielle Interessen auf dem Spiel, auch wenn sich das Institut als "incorporated non-profit research group" begreift und in den USA und Kanada als registrierte Spendenorganisation auftritt. Man berät und untersucht Veteranen verschiedener Armeen, die Uranmunition eingesetzt haben, so z.B. auch Soldaten, die an dem sogenannten "Golfkriegssyndrom" leiden.
Auch in politischer Hinsicht sollte an die totale Unabhängigkeit nicht einfach unbesehen geglaubt werden. Man darf in Erinnerung behalten, dass der viel beschworene Infowar nicht nur von den Institutionen der USA, sondern auch von ihren Feinden betrieben wird. Green Left Weekly, eine australische, ökolinke Zeitschrift berichtet von Interviews, die der Direktor des Instituts, Asaf Durakovic, dem Fernsehsender al-Dschasira gegeben hat, den man wohl kaum als politisch neutral bezeichnen kann. Ohne Informationen über die genaue Finanzstruktur der UMRC ist es natürlich nicht möglich, die politische und finanzielle Unabhängigkeit des Instituts abschließend zu beurteilen. Was die wissenschaftliche Glaubwürdigkeit angeht, so machen sowohl die Liste der Mitarbeiter als auch die Online-Veröffentlichungen der UMRC einen guten Eindruck.
Beispielhaft seien nur die Generalinformationen über abgereichertes Uran, die Beschreibung der Forschungsziele und die FAQ zu DU genannt.
Die veröffentlichten Auszüge aus dem letzten Afghanistanbericht können per se nicht wissenschaftlich genannt werden, dazu fehlt ihnen die Exaktheit.
Trotz der verbleibenden Zweifel aber wäre es mehr als leichtfertig, die Ergebnisse des UMRC als wissenschaftlich nicht abgesicherte Propaganda abzutun. Schließlich sind die kanadischen Wissenschaftler nicht die Einzigen, die von einem Gebrauch neuartiger Uranmunition in Afghanistan ausgehen. Der Brite Dai Williams hat eine 143 Seiten starke Recherche über öffentlich zugängliches Material zum Thema zusammengetragen. Die Fragen, die dort im Zusammenhang mit dem vermuteten neuen Waffenmaterial gestellt werden, sind in der Tat beunruhigend, von dem Material zu den "herkömmlichen" DU-Waffen ganz zu schweigen.
Dass wieder aufbereitetes Uran aus dem Brennstoffkreislauf der Atomwirtschaft (sogenanntes "Dirty DU" mit Spuren von Uran 236 und Plutonium) in die Waffenproduktion gelangt ist, war schon Untersuchungsergebnis der UN-Einheit, die sich nach dem Kosovokrieg mit der Risikoabschätzung zu den Uranüberresten des Konflikts befasste.
Ganz grundsätzlich wäre die Annahme lebensfremd, die Militärs hätten nach dem Einsatz einer so "erfolgreichen" Waffe wie der bekannten DU-Munition beschlossen, sie nicht weiterzuentwickeln. Militärische Forschung, zumal in den technologisch fortgeschrittensten Ländern, funktioniert so nicht.
Den Betroffenen - ob es sich dabei um die Zivilbevölkerung in Ex-Jugoslawien, in Afghanistan und im Irak handelt, oder um die Soldaten, die mit den Waffen hantieren - kann es allerdings letztlich egal sein, ob sie von "traditionellen" DU-Geschossen verkrüppelt und getötet werden oder vom Modernsten, was die Waffenschmieden zu bieten haben. Dass der Einsatz uranbestückter Munition in Zukunft einen Ehrenplatz in der Galerie der menschlichen Dummheiten einnehmen wird, steht schon heute außer Frage.