Träume von der Rotfront
Romantiker sein, aber nicht doof: Die Neue Koalition und ihre Feinde. Kommentar
Mit RGR gegen die Herren der Welt - in den letzten Wochen führen die Funktionärsebenen vor allem von Union und der Linkspartei, aber auch in der AfD, wieder den bei ihnen so beliebten "Lagerwahlkampf". Der entspricht nicht nur der eigenen Denkfaulheit, weil die dazu benötigte Phrasenrethorik - "Rote Socken", "Rechtsruck", "Finanzkapital", "Verbotsparteien" - seit Jahrzehnten bereitliegt.
Der Lagerwahlkampf antwortet auch auf die Angst davor, "Farbe bekennen", also das jahrelang rhetorisch entworfene Wolkenkuckucksheim tatsächlich in Regierungs-Wirklichkeit und "Macht" verwandeln zu müssen.
Das angsterfüllte Milieu
Hinzu kommt, dass das angsterfüllte Milieu der schlechterverdienenden Mitte zwar vor einer Ampelkoalition oder vor Rotgrün keine Furcht mehr hat, mit der Aussicht auf Rot-Grün-Rot aber sehr wohl in Angst und Schrecken zu versetzen ist. Wie berechtigt eine solche Angst wäre, ist eher eine akademische Frage.
Davon abgesehen nämlich, dass die im Berliner Senat regierende rot-rot-grüne Koalition in den vergangenen fünf Jahren keineswegs auch nur die geringste politische Attraktivität entfalten konnte, ist es eine komplett absurde Vorstellung, dass die drei Parteien (SPD, Grüne, Linke) sich im Bund auf irgendwas einigen und eine Art deutschlandweite Rotfront oder Volksfrontregierung bilden könnten. Umso besser taugt RGR als "kryptokommunistisches Schreckgespenst".
Und so mehren sich kaum überraschend in den letzten Tagen die Meldungen, dass Rot-Grün-Rot doch möglich sei, dass die Führung der Linken in irgendeiner Talkshow irgendwelche Signale ausgesendet habe - zusammen mit weiteren Nachrichten, die dazu geeignet sind, noch zweifelnde Wechselwähler in die Arme von Union und FDP zu treiben, als den beiden demokratischen Parteien, die die "rote Flut" allenfalls noch aufhalten können.
Die Häufung der Erwähnung der rot-grün-roten Möglichkeiten in den deutschen Mainstreammedien ist jedenfalls nicht zu übersehen.
Worum geht es ab Montag?
Wenn es schlecht läuft für die linksliberale, aber parteipolitisch zersplitterte Mehrheit der deutschen Gesellschaft, dann wird genau dieser beidseitig konzertierte Lagerwahlkampf am Sonntag in letzter Minute noch die Laschet-CDU an der Scholz-SPD vorbei spülen und damit die Karten im politischen Berlin komplett neu mischen.
Sollte es aber nicht so kommen, stellt sich die Frage: Worum geht es ab Montag? Es geht nicht um Konsens auf Teufel komm raus. Aber genauso wenig geht es darum, alte Frontlinien der Vergangenheit der 1990er und der Nullerjahre oder sogar noch viel früherer Zeiten aus den Jahren der Volksfront der Weimarer Republik zu reproduzieren.
Worum es ab Montag gehen muss, ist es, neue gesellschaftliche Mehrheiten zu formen und eine gesellschaftliche Basis zu bilden, auf der eine verändernde Politik möglich ist.
Schon um genug Bürgerunterstützung dauerhaft zu gewährleisten, muss dies eine Basis sein, die die Freiheit sichert in Zeiten, wo sie durch legitime Sicherheitsbedürfnisse wie illegitime Kontrollgier des Staates gefährdet ist, in Zeiten, in denen mehr Regulierung nötig sein wird, weil die Wirtschaft so umgebaut werden muss, dass sie den nicht zuletzt sozialen und ökologischen Herausforderungen der Zukunft ebenso gewachsen ist wie den Marktzwängen in der globalisierten Weltwirtschaft der Gegenwart.
Gegen den Aufstand des neuen Kleinbürgertums
Es wird ab Montag darum gehen, den Aufstand des neuen Kleinbürgertums von Rechts- wie Linksaußen und sein Bündnis mit dem alten Kleinbürgertum, dem Juste-Milieu der Union und der SPD abzuwehren. Und es geht darum, das Jahrzehnte gespaltene liberale Bürgertum, das heute Grün, FDP, Volt, Piraten und SPD wählt, unter Merkel vor allem bei der 2017er-Wahl auch CDU, zusammenzuführen gegen das auf "Sicherheit über alles" bedachte grassierende Kleinbürgertum.
Es geht darum, jene Menschen zu verbinden, die in der Zukunft Chancen sehen, nicht nur Gefahren, die nicht den Gegenwartszustand nach für die nächsten 20 bis 30 Jahre mühevoll und unter zunehmenden Opfern erhalten wollen, sondern die bereit sind, Neues zu wagen, um einer besseren Zukunft willen.
In der Mitte werden nicht nur Wahlen gewonnen, sondern auch Gesellschaften verändert. Warum hat Joe Biden gegen Trump gewonnen? Warum wird Olaf Scholz aus dieser Bundestagswahl als Sieger hervorgehen? Weil er Wandel verspricht, aber keinen radikalen. Weil in einer Zeit, in der alle Menschen sich nach Sicherheit sehnen, Vertrauen und eine ruhige Hand, "la force tranquille" wie einst das erfolgreiche Wahlkampfmotto Francois Mitterands lautete, das wichtigste Kapital der Politik ist.
Heraus aus den ideologischen Schützengräben
"Ist das nicht Demokratie?" kann man jetzt bei den Anwälten von Dissens und Lagerbildung lesen. "Es wird immer eine Opposition geben..." Ja, tatsächlich sind auch die zehn Prozent, mit denen die AfD bislang im Bundestag sitzt, Demokratie, genauso wie die selbstgerechten Hasardeure in der Linken, die zusätzlich zu ihrer Blockadehaltung auch noch das gute Gewissen gepachtet haben, welches das Eingeständnis verhindert, dass es die Linke ist, die mit ihren fundamentalistischen Positionen seit den 1990-er Jahren die Union an der Macht hält, die Einsicht, dass nur wegen der Existenz der Linken 16 Jahre Merkel überhaupt möglich waren.
Genau aus diesen ideologischen Schützengräben muss die deutsche Gesellschaft herauskommen. Das Ende der de facto Erbmonarchie der Angela-Merkel und die vergleichsweise offene Wahlentscheidung am kommenden Sonntag bietet dazu eine seltene Chance.
Die FDP in der Schlüsselrolle
Es ist daher keineswegs schlichtweg egal, ob es in der Bundesrepublik der nächsten vier Jahre eine Rot-Grün-Rote-Regierung mit einer auf Dauer gestellten Rote-Socken-Kampagne und entsprechender Blockade-Haltung der übrigen Parteien zu tun hat, oder ob sich die entsprechende Opposition mit ihren ideologischen Fundamentaleinwänden bei den eigenen Anhängern schnell lächerlich macht.
Tatsächlich käme in einer Ampelkoalition der FDP eine ähnliche Schlüsselrolle zu, wie den Grünen im Fall von Schwarz-Grün oder Jamaika.
Und man sollte sich nichts vormachen: Unter den Anhängern der FDP und für die FDP-wählenden Milieus rechts von Rot-Grün gilt eine Ampel als nicht weniger schwer verdaulich, wie in SPD und Grünen. Aber genau darum, um das Überwinden bequemer, eingefahrener Denk- und Handlungsmuster muss es jetzt gehen.
Politik ist das Opfern von Prinzipien
Es gibt aber nicht nur Corona-Leugner und Klima-Leugner, es gibt auch Politik-Leugner. Und die sitzen außer in den Funktionärsebenen von Union und AfD auch in denen der Linken. Diesen Funktionärsebenen ist die gepflegte Opposition viel lieber als eine pragmatische Koalition, die sie zu Kompromissen und zum verachteten Konsens zwingt.
Aber die Behauptung, dass Dissens Politik in ihrer derzeitigen Verfasstheit ausmache, ist nur bequem. Weniger bequem wäre es, zu sagen, wofür man steht, und welche Prinzipen man zu opfern bereit ist. Denn Politik ist eben dieses Opfern von Prinzipien, nicht um jeden Preis, aber doch Kompromisshandeln und Pragmatismus, den nur die Idealisten der "Antipolitik" (Györgi Konrad) als Opportunismus verächtlich machen.
Tradition bedeute, hat der französische Sozialist Jean Jaurès in einem berühmt gewordenen Ausspruch mal gesagt, "eine Flamme am Leben halten, nicht Asche verwahren". Genau daran müssen sich die Parteien links von der CDU und insbesondere die sogenannte Linke in den nächsten Wochen erinnern.
Also Tradition leben, nicht Asche verwalten, Romantiker sein, aber nicht doof.