Traumatisierung durch Medienbilder?
Psychologen gehen davon aus, dass die Anschläge vom 11.9. ein posttraumatisches Stresssyndrom bei Hunderttausenden von Amerikanern ausgelöst haben - vornehmlich bei Fernsehzuschauern
Die Anschläge auf das WTC haben nicht nur wegen der vielen Toten, sondern vor allem auch wegen ihrer Dramaturgie und Ästhetik die Menschen auf der ganzen Welt vor den Bildschirmen gebannt, auf denen tagelang immer wieder dieselben Bilder zu sehen waren. Vermutlich war besonders unheimlich und zugleich faszinierend, dass es vom zweiten Flugzeug. das in den Turm raste, sofort Live-Bilder gab, da durch den ersten Anschlag die Medien bereits "alarmiert" waren und Zeit genug hatten, sich in New York zu positionieren, um die Weltöffentlichkeit mit Bildern zu beliefern. Wenn reales Spektakel und Medienpräsenz zusammenfallen, kommen die Live-Medien zu sich und zeigen, wie eng Terror oder Katastrophe mit den Massenmedien als Nachricht verbunden sind. Angeblich haben, wie US-Psychologen nach der Auswertung einer landesweiten Befragung berichten, Millionen von Amerikanern durch die Bilder von der Katastrophe ein posttraumatischen Stresssyndrom (PTSD) entwickelt - und dies auch nur als Fernsehzuschauer.
Tatsächlich war für die USA der 11.9. ein traumatisches Erlebnis, was das eigene Sicherheitsgefühl angeht. Pearl Harbor fand noch an der Peripherie statt, doch mit New York und Washington wurde das Land mitten im Herz getroffen - und noch dazu nicht irgend etwas, sondern herausragend symbolische Gebäude. Der aus der Ferne zumindest in Gang gesetzte Angriff auf das wirtschaftliche und militärische Zentrum der Supermacht versetzte viele Menschen in den USA vermutlich deshalb in Angst, weil das Land, für das die Kriege bislang weit entfernt stattfanden, plötzlich nackt und verwundbar zu sein schien. Nur die Fantasie konnte ausmalen, was noch alles möglich sein könnte, die um sich greifende Panik, als dann die Anthrax-Briefe auftauchten, schien die schlimmsten Befürchtungen zu bestätigen.
Während die staatstragenden Kräfte möglichst schnell zurückschlugen und weitere militärische Aktionen ankündigten, um Handlungsfähigkeit zu beweisen und die Gunst der Stunde auszunutzen, die eigene Macht im altbekannten Muster der nationalen Einheit durch Krieg auszubauen, blieb offensichtlich hinter allem aufkeimenden Patriotismus und neben Wut und Rache für manche das schreckliche Ereignis eine traumatische Wunde, die die normalen Verarbeitungsstrategien nicht bewältigen konnten und folglich zu Symptomen der PTSD führten, wie eine Umfrage ergeben hat.
Durchbruch der Zuschauerdistanz
Ein posttraumatisches Stresssyndrom, das erstmals 1980 in das diagnostische und statistische Handbuch psychischer Störungen (DSM-IV) aufgenommen wurde, ist eine Angststörung, die auch von Depressionen begleitet werden kann. Sie tritt innerhalb weniger Monate nach einem Ereignis von außergewöhnlicher Bedrohung oder einer Katastrophe auf und äußert sich unter anderem in wiederkehrenden Erinnerungen oder Inszenierungen des Ereignisses. Die Menschen sind emotional distanziert, wie betäubt, gleichgültig gegenüber Mitmenschen und der Umgebung, vermeiden Situationen und Aktivitäten, die das traumatische Ereignis wiederkehren lassen könnten. Verstärkt wird PTSD durch Ereignisse, die bewusst von Menschen herbeigeführt wurden.
Normalerweise entsteht ein PTSD nur bei denjenigen, die ein Ereignis auch direkt erlebt haben. Das aber könnte sich im Zeitalter der Medien und vor allem der Echtzeitberichterstattung ändern. Immer öfter können die Menschen direkt am Geschehen teilhaben, auch wenn dies meist nicht live, also in Echtzeit parallel zum Ablauf des Ereignisses geschieht, aber doch durch das zeitversetzte Sehen von Bildern, die live aufgenommen wurden. Auch dann werden wir zum Zeugen, der möglicherweise nicht immer seine Distanz als Beobachter wahren kann, der zwar vom Anblick des Gezeigten wie bei einem fiktiven Film erregt, aber nicht betroffen ist.
Das Wissen, dass das Gesehene real ist, verändert schlagartig die Wahrnehmung und durchschlägt das normale Schutzschild des Fern-Zuschauers, das er aufgebaut hat, um der andrängenden Bilder stand halten zu können. Möglicherweise ist schon der heftige Konsum von Medienbildern, mit denen gemäß einer Montage der Katastrophen beeindruckende und erschreckende Szenen aneinander gereiht werden, eine Art Stresssyndrom, das zum Verlangen nach einer Wiederholung der traumatischen Bilder führt.
Das Wissen um die Realität kann jedenfalls die Schaulust am einzigartigen Schauspiel anstacheln, aber auch Angst und Panik auslösen, weil uns dann die Ereignisse, normalerweise in die Entfernung verbannt, näher rücken. Medien sind freilich auch die kollektiven Aufmerksamkeitssysteme, die ähnlich wie die biologischen der Individuen als Warnsystem vor Neuem und Bedrohlichem dienen und entsprechende Reaktionen zum Schutz auslösen. Durch das Objektiv der Kamera, das unser Tele-Auge ist, werden wir tatsächlich zum Zeugen oder auch zum potenziell Betroffenen - und dementsprechend involviert. Wer dann nicht mehr die zusätzlich nötigen Distanzierungsleistungen erbringen kann, wird als Beteiligter ergriffen. Video- und Überwachungskameras sind mittlerweile allgegenwärtig geworden, pausenlos scheinen wir uns zu beobachten, vielleicht auch nur darauf zu warten, dass irgendetwas geschieht: der Absturz einer Concorde, der Kampfjet bei einem Flugtag, der in die Zuschauer rast, ein Verbrechen, das vor unseren Augen begangen wird, oder eben ein Anschlag.
Für die Analyse (Jama, Vol. 288 No. 5, August 7, 2002) befragten der Psychologe William Schlenger und seine Kollegen über 2.000 Menschen in den USA im Oktober und November des letzten Jahres. Überrepräsentiert waren Menschen aus New York und Washington. Die Befragten mussten über das Internet einen für die Diagnose des PTSD entwickelten Fragebogen ausfüllen. Überdies wurden sie gefragt, ob sie den Anschlägen vom 11.9. direkt oder nur über das Fernsehen ausgesetzt waren. Die Wissenschaftler sind sich selbst nicht sicher, wie repräsentativ die Befragung ist. Überdies ist der Fragebogen auf Menschen angelegt, die direkt einem Ereignis ausgesetzt waren. Doch im Vergleich mit anderen Befragungen liegen die Ergebnisse offenbar durchaus im Rahmen.
Warum zeigten sich die Menschen in Washington weniger betroffen als die restlichen Amerikaner?
Sieht man ab von New York und Washington, so haben nach der Auswertung 4 Prozent aller Amerikaner, die nur indirekt Zeugen sein können, Symptome von psychischen Stress berichtet. Allerdings muss das nichts mit dem 11.9. zu tun haben, sondern könnte einfach auch der normalen, erwartbaren Verteilung entsprechen. Mit hoher Wahrscheinlichkeit hatten jedoch über 11 Prozent der New Yorker (mehr als 500.000 Menschen) PTSD-Symptome, die vergleichbar waren mit Überlebenden von Verkehrsunfällen oder Opfern von sexuellen Gewalttaten. Sie fühlten sich also allein durch die Nähe besonders gefährdet, auch wenn sie wie die Anderen das Ereignis nur im Fernsehen beobachten konnten. Dabei spielte das Geschlecht, die Zahl der Stunden vor dem Fernseher und die mit den Anschlägen verbundenen Inhalte eine verstärkende Rolle.
Erstaunlich ist allerdings, dass nur 2,7 Prozent der Menschen aus Washington Hinweise auf PTSD-Symptome gaben. Das liegt unter dem landesweiten Durchschnitt, wobei auch die Menschen in den größeren Städten mit 3,6 Prozent etwas weniger beeindruckt zu sein scheinen. Eine wirkliche Erklärung für die Diskrepanz zwischen New York und Washington, beiden Ziele der Anschläge, haben die Psychologen nicht. Sie führen an, dass das Pentagon von der Stadt geografisch isolierter sei als das WTC in New York, weswegen die Einwohner sich weniger gefährdet fühlten oder sich mit den Opfern identifizierten. Der Einschlag des Flugzeugs in das Pentagon sei auch weniger schlimm als der der beiden Flugzeuge in die WTC-Türme gewesen. Vermutlich liegt der Unterschied aber weniger in der Zahl der Opfer als in den Bildern, die im Fall des Pentagon weniger "spektakulär" waren. Leider aber führen die Psychologen diesen Punkt nicht weiter aus.
Wie immer bei solchen Analysen lässt sich aus dem festgestellten Zusammenhang zwischen der Zeit, die Menschen vor dem Bildschirm verbrachten und dabei über die Berichte und Bilder von den Anschlägen zu indirekt Beteiligten wurden, und der Entwicklung von PTSD-Symptomen keine Kausalität ableiten. Ob also die Fernsehzeit und die rezipierten Inhalte posttraumatischen Stress bewirken oder Menschen, die bereits solche Symptome zeigen, stärker von der Berichterstattung über den 11.9. angezogen waren und deswegen auch länger vor dem Fernseher saßen, bleibt eine offene Frage. Aber gleich ob der "Fern-Seher" eine bereits vorliegende psychische Verfassung durch den TV-Konsum traumatischer Bilder abzuarbeiten sucht oder tatsächlich durch die Fernsehbilder Angstsymptome entwickelt, so dürfte dies doch wieder dafür sprechen, dass Medienkonsum Spuren hinterlässt.