Türkei: High-Noon-Krise mit Botschafter-Ausweisung vertagt
Erdogan "erteilt Lektionen", westliche Länder sehen das anders. Die vom Europäischen Menschenrechtsgerichtshof (EGMR) verfügte Freilassung von Osman Kavala bleibt als Forderung. Wie auch im Fall Demirtas
Erdogan war wütend, aber die Eskalation blieb aus. Die zehn mit der Ausweisung bedrohten Botschafter dürfen auf ihrem Posten der Türkei bleiben (Türkei: Deutscher Botschafter "Persona non grata".
"Erdogan rückt von der Ausweisung westlicher Botschafter ab", heißt es bei der Deutschen Welle. "Westliche Botschafter treten einen Schritt zurück und werden vorsichtiger sein", übermittelt die regierungsnahe türkische Zeitung Daily Sabah die Auslegung des türkischen Präsidenten.
Jede Seite behält ihr Gesicht vor dem eigenen Publikum, wird vielfach kommentiert. Diplomatisch gab es dazu einen Vorlauf, den der türkische Journalist Ragıp Soylu, der schon mehrmals mit guten Verbindungen zu Regierungskreisen in Ankara aufgefallen ist, in der Publikation Middle East Eye schildert. Demnach haben Beamte des türkischen Präsidialamtes mit amerikanischen Diplomaten in den letzten Tagen über einen Ausweg aus der Krise verhandelt, nachdem Erdogan die Ausweisung der Diplomaten eigentlich schon letzte Woche angeordnet hatte.
Dem Außenministerium in Ankara war der wütende Akt offensichtlich zu heiß und in den Folgen zu weitgehend. Es setzte laut Soylus Informationen darauf, die Anordnung hinauszuzögern - in der Hoffnung, "dass der Präsident vom Gegenteil überzeugt werden könnte".
Grundlage für das Einlenken bot der Rekurs der westlichen Botschafter auf Artikel 41 des Wiener Übereinkommens über diplomatische Beziehungen:
Es ist die Pflicht desjenigen, der Immunitäten und Vorrechte erhält, die Gesetze des Empfängerstaates zu respektieren. Es ist auch ihre Pflicht, sich nicht in die inneren Angelegenheiten dieses Staates einzumischen. (…)
Artikel 41
Die US-Botschaft in der Türkei erklärte gestern Nachmittag auf Twitter, dass sie als "Reaktion auf Fragen bezüglich ihrer Äußerung vom 18. Oktober feststellt, dass sie sich an Artikel 41 des Wiener Übereinkommens über diplomatische Beziehungen hält".
Kanada antwortete wortgleich ebenfalls auf Twitter, ebenso die Niederlande und Neuseeland, Frankreich, Deutschland, Norwegen, Schweden, Dänemark und Finnland haben lediglich die Twitter-Meldung der US-Botschaft weitergetweetet.
Die Meldung vom 18. Oktober war der Anlass für den Fast-High-Noon. Die zehn Staaten appellierten daran, dass die Türkei das Urteil des Europäischen Menschenrechtsgerichtshof (EMGR) befolgt, das im Dezember 2019 entschied, dass die Vorwürfe gegen Osman Kavala haltlos seien. Es orderte seine Freilassung an. In der Türkei tat sich aber nichts. Kavala sitzt seit vier Jahren ohne Verurteilung in einem Gefängnis.
Die zehn Staaten haben, wie dies auch in mehreren Veröffentlichungen festgehalten wird, nichts von ihrem Anliegen zurückgenommen:
Nach dem Kompromiss kann der Westen seine Haltung bestätigt sehen, dass die Forderung nach Umsetzung internationaler Gerichtsurteile wie im Fall Kavala keine Einmischung in innere Angelegenheiten darstellt. Mit ihrer Erklärung, die lediglich aus einem einzigen Satz bestand, nehmen die betroffenen Länder ihre Forderung nach Kavalas Haftentlassung formal nicht zurück. Mehrere Regierungen hatten am Wochenende erklärt, sie blieben bei ihrer Position.
Susanne Güsten, Tagesspiegel
Und Erdogan kann, wie es der Artikel von Daily Sabah exemplarisch vorführt, Stärke vor seinem Publikum demonstrieren. Er habe Lektionen erteilt:
"Wir glauben, dass diese Botschafter, die ihrer Verpflichtung aus Artikel 41 des Wiener Übereinkommens nachgekommen sind, nun vorsichtiger in ihren Erklärungen sein werden", sagte Erdogan in einer im Fernsehen übertragenen Stellungnahme nach einer dreistündigen Kabinettssitzung in der Hauptstadt Ankara und erklärte, die Botschafter hätten ihre Lektion gelernt.
Die neue Erklärung zeige, "dass sie von der Verleumdung unseres Landes Abstand genommen haben", so Erdogan. "Diejenigen, die unser Land in der Vergangenheit nach ihren Vorstellungen geformt haben, gerieten in Panik, als die Türkei ihren eigenen Standpunkt vertrat", erklärte er.
Daily Sabah
Hinter diesem Theater liegen die ernsthafteren Fragen. Erstaunlicherweise wird von den hiesigen Medien nicht hinterfragt, warum es nach türkischer Lesart eine Einmischung in innere Angelegenheiten der Türkei sein soll, wenn man an die Einhaltung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EMGR) erinnert, die für die Türkei bindend ist.
Die Türkei hält sich auch im Fall des inhaftierten, ehemaligen HDP-Vorsitzenden Selahattin Demirtas nicht an auch für sie gültige Regelungen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) verurteilte die jahrelange Inhaftierung von Demirtas und forderte wiederholt seine Freilassung.
Es gibt Andeutungen aus dem türkischen Außenministerium, wonach der Kulturmäzen Kavalla in nächster Zeit freigelassen werden könnte. Das wäre dann immerhin ein Teil-Erfolg der Aktion der zehn Staaten. Aber wie werden sie sich beim nächsten Wutanfall von Erdogan verhalten?
Dass er kommen wird, darauf deutet vieles hin, nicht zuletzt die miserable Wirtschaftslage, die die Anhängerschaft verkleinern könnte und außenpolitische "Erfolge" z.B. durch Angriffe auf Nordsyrien, um Land zu besetzen, sind ein Mittel, von dem der türkische Präsident gerne Gebrauch macht.