Türkei: Im Niemandsland
Die Umwidmung der Hagia Sophia zur Moschee und die neo-osmanische Folklore des Nationalisten Erdogan. Kommentar
Die Türkei befindet sich in einem Niemandsland zwischen den Reform-Errungenschaften der Nullerjahre und dem Schicksalsjahr 2023, dem hundertsten Republik-Jubiläum. Recep Tayyip Erdogan, der das Land mit seiner Partei AKP einst aus den wechselhaften Wirren des 20. Jahrhunderts führen und es der EU annähern wollte, der den türkischen Bürgern größere Sicherheit und mehr Wohlstand versprach, hat seine Kehrtwende um 180 Grad längst vollendet.
Die Umwidmung der Hagia Sophia vom Museum zur Moschee ist für ihn ein weiterer Triumph von großer Symbolkraft und eine weitere radikale Absage an den Reformprozess, ein weiterer Versuch, sich bei den sunnitischen Fundamentalisten, bei Radikalen und Antisemiten, bei Feinden von Demokratie und Pluralismus anzubiedern.
"Vollendung der Eroberung"
"Erdogans eigenen Äußerungen nach zu urteilen soll nicht bloß den Kemalisten und dem Kemalismus eine Lektion erteilt werden. Indem er die Umwandlung als 'Vollendung der Eroberung' bestimmt, erklärt er sich zum stolzen Nachfolger von Mehmet dem Eroberer und anderen Osmanischen Herrschern", schreibt Asli Erdogan in einem Kommentar, der dieser Tage in Le Monde, La Repubblica und der taz erscheint:
"Das Erdogan-Regime erklärt damit das Osmanische Reich zum neuen Vorbild der heutigen Türkei."
Tatsächlich greifen hier viele symbolträchtige Elemente ineinander. Da ist zum einen die Hagia Sophia selbst, mit deren Museumsstatus sich die Fundamentalisten nie wirklich abgefunden hatten. Dass in einem Anbau Gebete möglich waren, haben sie nie als Zugeständnis, sondern stets als Schmach aufgefasst. Die Hagia Sophia war für sie das Symbol der Eroberung schlechthin - nicht irgendeine Kirche, sondern eines der bedeutendsten Baudenkmäler der Welt. Eben das schwingt in der nun vollzogenen Umwidmung mit.
Für die Mehrheit der türkischen Bürger ebenso wie für viele Europäer, allen voran die Griechen, stand die Hagia Sophia hingegen für die symbolische Vereinigung von Ost und West (um mal vorsichtig dieses Klischee zu bemühen), für die Handreichung und den Dialog: Ein Sakralbau, der als Museum zur Symbiose von Christentum, Islam und dem laizistischen Respekt vor der Religionsfreiheit wurde. Vom Zankapfel zur Versöhnung, vom Objekt des Glaubenskrieges zum Anschauungsobjekt gelebter Geschichte.
All das wischt Erdogan nun bewusst und mit großer Geste vom Tisch, und indem er in seiner ersten Rede die Parallele zur "Eroberung" der al-Aqsa-Moschee zieht, stellt er sich abermals offen an die Seite der Radikalislamisten, die er gemeinsam mit der türkischen Armee in Syrien kämpfen lässt und über die er schon seit Jahren seine schützende Hand hält, während er jene, die das offen thematisieren, verfolgen lässt.
Der Druck auf Minderheiten im Land war selten so immens wie heute - und genau hier ist Erdogans Rückgriff auf das Osmanische Reich so schief, wie es nur geht.
Die zentrale Linie ist weder islamisch noch osmanisch, sondern radikal nationalistisch
Denn tatsächlich ist dieser Rückgriff - auch in Form des Urteils des Obersten Verwaltungsgerichts zur Hagia Sophia, das sich dabei nicht auf geltendes, sondern auf Osmanisches Recht beruft - bloß das Bedienen einer naiven neo-osmanischen Folklore, die in erster Linie bei Erdogans wenig gebildeter Stammwählerschaft gut ankommt. Die zentrale Linie seiner Politik ist weder islamisch noch osmanisch - sonst gäbe es sicher nicht die im ganzen Land verfallenden und vergammelten Kulturdenkmäler aus osmanischer Zeit.
Nein, die Linie, die Erdogan verfolgt, ist radikal nationalistisch. Und die damit einhergehende Verfolgung von Minderheiten sowie der Krieg gegen die Kurden sind kein Erbe der Sultane, sondern das Erbe der Kemalisten - ein Erbe, das die größte Oppositionspartei CHP bis heute nicht überwunden hat, weshalb sie sich in dieser Angelegenheit als zahnloser Tiger erweist. Ihre Einwände gegen die AKP-Politik sind, wenn diese nationalistisch ist, allenfalls halbgar, oft gibt es sogar Zustimmung. Diese Schwäche der Opposition weiß Erdogan seit jeher für sich zu nutzen.
Aber wie passt das zu Erdogans Anliegen, die Errungenschaften der Kemalisten zu überwinden und das Land bis zum Jubiläumsjahr 2023 selbst neu zu prägen? Nun, es passt gar nicht. Erdogan pickt sich bei den Osmanen und bei den Kemalisten jeweils das heraus, was ihm in den Kram passt, also jene Elemente, die einerseits seiner Macht und seinem Einfluss dienen, die andererseits dabei helfen, bei seinen Anhängern zu punkten. So kommt es, dass auch die symbolische Abwendung von Europa bei gleichzeitigem Festhalten am Beitritts-Ansinnen nur ein scheinbarer Widerspruch ist.
Erdogan weiß, dass er die EU braucht, schon allein aus ökonomischen Erwägungen. Und er weiß, dass er sehr weit gehen kann, bevor die EU und die NATO ihn fallenlassen, denn sie betrachten die Türkei als Pufferzone zwischen Europa und Asien. Seit Jahren testet er Grenzen und rote Linien aus, und egal wie weit er geht, man lässt ihn am Ende doch gewähren. Das gibt ihm Sicherheit, auch in Hinblick auf die nächsten Wahlen, die er möglicherweise erneut vorziehen wird.
Im Grunde könnte er sie, Stand heute, nicht gewinnen. Zu schlecht sind seine Umfragewerte, zu viele haben sich im Zuge der Corona-Krise und der schwächelnden Wirtschaft von ihm abgewendet. Doch es wäre nicht die erste Wahl, die er dann doch überraschend und knapp gewinnt, in der Regel, weil er die Bedingungen so konstruiert, dass sie sich zu seinen Gunsten auswirken.
Ein Desaster wie bei der Kommunalwahl im Vorjahr, die er zum Teil wiederholen ließ, nur um erneut zu verlieren, kann er sich nicht nochmal leisten. Daher ist es heute wichtiger denn je, dass er Erfolge vorweisen und sich als Macher präsentieren kann. Mit der Hagia Sophia ist ihm das erneut gelungen.
Die Türkei aber leidet unter diesem Präsidenten, der - reichlich unpatriotisch - seinem unbedingten Willen zur Macht alles andere unterordnet, auch die Interessen seines Landes und seiner Bürger. Sie befinden sich in einem Niemandsland mit schwieriger Zukunftsperspektive. Aber immerhin haben sie jetzt eine weitere Moschee.
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