Türkei: Massenverhaftungen und Entlassungen

Der Staat ist Erdogan. Erdogan-Bild: Kreml

Erdogan baut sein Machtsystem weiter aus - mit unabsehbaren Folgen

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Die Zahl der Verhaftungen und Entlassungen, sowie der Verbote von TV-Sendern, Zeitungen, Zeitschriften und Verlagen steigt täglich. Immer deutlicher erfahren die Menschen in der Westtürkei am eigenen Leibe, was die kurdische Bevölkerung seit Monaten im Südosten erleiden muss. Aber Erdogan baut seine Diktatur unbeirrt der internationalen Kritik weiter aus: Nun will er die persönliche Befehlsgewalt über Militär und Geheimdienst. Die sozialen und wirtschaftlichen Folgen für das sich weiter spaltende Land sind kaum absehbar. Eine Zwischenbilanz.

Die Informationsstelle Kurdistan e.V. veröffentlichte am 29.7.2016 die Zahl der Verhafteten, die der türkische Innenminister Efkan Ala bekannt gab. Sie berufen sich dabei auf die Veröffentlichungen in den Zeitungen Yüsekova Günem, Bianet, Cumhuriyet vom 28. und 29.07.2016:

  • Demnach beträgt die Zahl der Verhafteten 18.044 Personen, darunter rund 10.000 Soldaten. 9.677 Personen davon sind in Untersuchungshaft.
  • 49.211 Reisepässe seien annulliert worden. So will man verhindern, dass sich vermeintliche Gülen-Anhänger ins Ausland absetzen.
  • 1.684 Militärs wurden unehrenhaft aus dem Dienst entlassen. Dies bedeutet, dass Ihnen ihre erworbenen Ränge aberkannt und ihr Beamtenstatus entzogen wurde. Eine erneute Rückkehr in die türkischen Streitkräfte ist nicht möglich. Eine Anstellung irgendwo sonst im Staatsdienst ist ihnen künftig ebenfalls verwehrt.
  • 66.036 Staatsbedienstete sind seit dem Putschversuch und der Ausrufung des Ausnahmezustandes suspendiert oder entlassen worden. Besonders betroffen von der Maßnahme sind Lehrer und Lehrerinnen, aber auch Akademiker und Akademikerinnen, sowie Ärzte und Ärztinnen. Eine Episode am Rande: Auch eine Fruchtbarkeitsklinik in Istanbul wurde wegen Terrorverdachts und angeblicher Zugehörigkeit zur Gülen-Bewegung geschlossen. 32.000 Patientenakten mit hochsensiblen Daten wurden dort beschlagnahmt. Aber der Besitzer ist Armenier und hat mit dem Islam nichts am Hut. Auch Mitarbeiter des Bildungsministeriums, des Finanzministeriums, Mitarbeiter im Präsidium für Religionsangelegenheiten, Mitarbeiter im Familien- und Sozialministerium, Mitarbeiter im Büro des Ministerpräsidenten, Mitarbeiter im Jugend- und Sportministerium, Mitarbeiter im nationalen Geheimdienst und Inspekteure der Provinzen sind von den Entlassungen betroffen.
  • Gegen rund 90 Journalisten wurden Haftbefehle erlassen. Darunter sind allein 47 ehemalige Mitarbeiter der liberalen Tageszeitung Zaman. Bereits im März war die Zeitung von der Polizei gestürmt und unter staatliche Zwangsverwaltung gestellt worden.

Krautreporter.de veröffentlicht eine ständig aktualisierte Tabelle, die den jeweils aktuellen Stand der Verhafteten oder vom Dienst suspendierten Personen zeigt, jeweils mit Angabe der Quelle:

Rechtsprechung im Ausnahmezustand?

Die Ausrufung des Ausnahmezustandes (OHAL) machte dies alles "legal". Beweise für die Schuld der Verhafteten und Entlassenen sind nicht mehr nötig. Eine gerichtliche Verurteilung ist nicht mehr erforderlich. Das Parlament als Ort, an dem Gesetze verabschiedet werden, wurde ersetzt durch ein 8-köpfiges Gremium zur Koordination des Ausnahmezustands. Es umfasst den Ministerpräsidenten und einen engen Kreis weiterer Minister - die Minister von Justiz, Arbeit und soziale Sicherheit, Innen- und Außenminister, Bildungs- und Verteidigungsminister und einem Staatssekretär. Beschlüsse dieses Gremiums haben Gesetzeskraft, gegen sie kann nicht geklagt werden.

Das Ausstellen von Haftbefehlen, Durchsuchungsbeschlüssen und Abhörgenehmigungen war bislang allein Richtern vorbehalten. Nun dürfen dies auch die Staatsanwälte. Akteneinsicht oder Beistand durch einen Rechtsanwalt ist ebenfalls Ermessenssache eines Staatanwalts. Faire Verfahren wird es so nicht mehr geben. Welcher Staatsanwalt wird sich angesichts der "Säuberungsaktionen" noch trauen, gegen Anordnungen dieses Gremiums vorzugehen oder demokratische, rechtsstaatliche Verfahren anzuordnen, ohne nicht selbst in Verdacht zu geraten?

Feldzug gegen die Pressefreiheit

Das Gremium beschloss auch das Verbot von 3 Nachrichtenagenturen, 18 Fernsehsendern, 23 Radioanstalten, 45 Zeitungen, 15 Magazinen und 29 Verlagen. Ihr Besitz wurde vom Staat vereinnahmt und ihre Dokumente wurden beschlagnahmt.

Diesen Medien wird vorgeworfen, zum Netzwerk des in den USA lebenden islamischen Predigers Fethullah Gülen zu gehören. Erdogan sieht in ihm den Drahtzieher des gescheiterten Putschversuchs vom 15. Juli 2016. Unter den betroffenen Medien sind in der Türkei bekannte Namen wie die Nachrichtenagentur Cihan, der Fernsehsender Kanal Türk, die Zeitungen Taraf, Millet und Bugün sowie die bekannten Magazine Aksiyon und Nokta.

Dass es Erdogan nicht nur um Gülen-nahe Medien geht, sondern um die Ausschaltung der kritischen Medien, beweist die Sperrung der Seiten der kurdischen Tageszeitung Özgür Gündem und der Nachrichtenagenturen JINHA und DIHA durch die Aufsichtsbehörde für Telekommunikation (TIB). Für DIHA ist das keine unbekannte Maßnahme: die DIHA-Seiten wurden in der Vergangenheit scho mehr als 40 Mal gesperrt (Liste der verbotenen, geschlossenen Sender, Zeitungen, Zeitschriften, Verlage).

Beschlagnahmung von Eigentum und Vermögen

Nicht nur der Besitz der Medien soll beschlagnahmt werden. Die türkische Staatsanwaltschaft will auch die Privatvermögen von mehr als 3000 suspendierten Richtern und Staatsanwälten beschlagnahmen. Damit geraten auch die Angehörigen in den Sog der "Säuberungen", wie Erdogan und seine Getreuen dies nennt - ganz in der Tradition faschistischer Diktatoren.

Die Situation von Familien der inhaftierten oder entlassenen Militärs oder Beamten

Traditionell prägt der Ehrbegriff in seinen verschiedenen Facetten die türkische und die kurdische Gesellschaft. Das Fehlverhalten eines Familienmitgliedes wird so aufgefasst, dass die Ehre aller Familienmitglieder beeinträchtigt ist. Die verhafteten, suspendierten, verurteilten Menschen gelten als "serefsiz" - ehrlos.

Ungeachtet dessen, ob derjenige tatsächlich schuldig ist oder nicht, als Putsch-Beteiligter ist er ein "Ehrloser" und zieht seine ganze Familie mit ins Unglück - sollte sie ihn nicht aus der Familie verstoßen. Für die ganze Familie hat das fatale Folgen. Die Kinder der Betroffenen werden in der Schule einen "Spießrutenlauf" erleben: Man wird mit dem Finger auf sie zeigen, die verbliebenen, regimetreuen Lehrer werden sie diskriminieren. So ergeht es auch nach wie vor vielen kurdischen Kindern, die nur, weil sie Kurden sind, in der Schule kaum Chancen haben. Die Frauen werden beim Einkaufen angepöbelt werden: "Du bist doch die Frau von dem Verräter vom 15. Juli…". Freundschaften und soziale Kontakte werden zerbrechen, weil man sich von der Familie des "serefsiz" (Ehrlosen) besser fernhält, um nicht in den Fokus des Staates zu geraten. In der Oberschicht wird dies noch ganz andere Konsequenzen haben. Die verhafteten, suspendierten Generäle, Richter, Beamten etc. sind in der türkischen Wirtschaft gut vernetzt. Die Kinder studieren oft im Ausland, z.B. in den USA. Durch die Beschlagnahmung ihres Besitzes und Vermögens verlieren sie nicht nur ihre Häuser und Privilegien. Die Familie wird sich vieles nicht mehr leisten können.

Nun erleben die Militärangehörigen und Beamten das, was die Kurden in der Türkei schon seit Jahrzehnten erleiden mussten und wo in den letzten Monaten auch Teile der inhaftierten Militär- und Polizeieinheiten als Täter selbst beteiligt waren: die Enteignung oder Zerstörung kurdischer Häuser, auchFolter. Nur, dass nun in ihrem Fall die Regierung keinen Hehl mehr aus der Folter macht, sondern diese mittels Fotos öffentlich zur Schau stellt. Die Folterungen an den Kurden und anderen politischen Häftlingen geschah hinter verschlossenen Türen und es wurde peinlichst darauf geachtet, dass keine Film- und Fotodokumente an die Öffentlichkeit drangen.

In einer Demokratie gelten andere Regeln: Auch wenn jemand gegen die Gesetze in schwerwiegendem Maße verstoßen hat, darf dies nicht zur Diskriminierung der Mitglieder einer Familie führen. Angeklagt ist nicht eine Familie, sondern eine Privatperson. Aber in der Türkei gelten keine demokratischen Regeln, die Gesetze sind - wie kurz vor der Machtergreifung Hitlers 1933 - außer Kraft gesetzt. Die Besuchsrechte für Angehörige und Anwälte wurden durch den Ausnahmezustand außer Kraft gesetzt. Wenn Angehörige ihre verhafteten Angehörigen zu Gesicht bekommen, können sie nur aufatmen, wenn sie nicht von Folter gezeichnet sind. Erst nach 14 Tagen konnten Angehörige die inhaftierten Offizieren und Soldaten vor dem Silivri-Gefängnis sehen. Erleichterung konnte in den Gesichtern der Familienmitglieder zu sehen sein, deren Angehöriger keine Spuren der Folter aufwies. Ein anderer Vater blickt traurig auf seinen Sohn, der in einem sehr schlechten Zustand ist. Er wurde mit einer Gruppe Gefangener nackt ausgezogen und geschlagen. Er weist am Kopf Abdrücke einer Pistole auf, die Lippen aufgeplatzt, der Arm gebrochen.

In Istanbul wird ein "Friedhof der Verräter" eingerichtet, wo die am Putsch beteiligten Getöteten verscharrt werden. Der Friedhof liegt neben einer Baustelle für ein Hundeasyl. "Hainler Mezarligi - Verräterfriedhof" steht auf einem schwarzen Schild zu lesen. "Möge jeder, der vorbeikommt, sie verfluchen und sie nicht in Frieden ruhen lassen", sagte Istanbuls Bürgermeister Kadir Topbas der Nachrichtenagentur Dogan zufolge. Die Religionsbehörde hat jede Begräbniszeremonie und Gebete untersagt. Gebete dienten der Entlastung, "aber diese Menschen haben mit ihrer Handlung nicht nur einzelne Personen, sondern die Gesetze einer ganzen Nation missachtet, und daher verdienen sie keine Entlastung durch die Gläubigen", so die Religionsbehörde. Zivilisten dürfen den Friedhof nicht betreten.

Auch dies dient der Demütigung derjenigen Familienangehörigen, die ihre Toten angemessen begraben möchten. Diese Praxis wird in den kurdischen Gebieten schon seit Jahren angewandt, jüngste Beispiele konnte man aus Cizre, Diyarbakir-Sur und Nusaybin lesen.

Wirtschaftliche Verflechtungen von Militär und Wirtschaft

Mit den Privilegien, die die Familien der putschenden Generäle und Offiziere genossen haben, dürfte es vorbei sein. Vorbei mit Häusern in bester Lage des Militärbezirks in Istanbul mit seinen grünen Parks. Vorbei mit der Altersabsicherung durch den Pensionsfonds des Großkonzerns der türkischen Armee, Oyak.

Oyak ist einer der drei mächtigsten Konzerne der Türkei. Es ist ein Staatsbetrieb, der dem Militär unterstellt war. Er umfasst die Autoproduktion (Renault Joint Venture), die Herstellung türkischer Schokolade, produziert Beton, ist Inhaber der auch in Deutschland vertretenen Oyak-Anker-Bank. Auch in der Versicherungs- und Stromwirtschaft ist das Unternehmen involviert. Der Stahlkonzern Erdemir, Bauunternehmen, Technik- und Sicherheitsanbieter gehören zu Oyak. 2015 wurde der Aluminiumkonzern Almatis aufgekauft. Rund siebzig Oyak-Unternehmen gibt es, ihr Umsatz betrug 2015 ca. 6,5 Mrd. Euro. Rund 30.000 Menschen sind in den Betrieben beschäftigt.

Wer die Strukturen der Türkei kennt, die Vetternwirtschaft, der kann sich vorstellen, dass nun auch Angehörige der Putschisten, die einen Job in einem Oyak-Betrieb haben, von Entlassungen betroffen sein werden. Denn Erdogan hat schon vor dem Putsch damit begonnen, Oyak unter seine Kontrolle zu bekommen. Im Mai 2016 wurde die Oyak-Führung durch regierungstreue Ex-Offiziere ersetzt. Generaldirektor wurde der Gefolgsmann Erdogans, Süleyman Savas Erdem. Bislang hatte die Regierung keinen direkten Einfluss auf den Konzern, die Armee konnte unabhängig wirtschaftlich tätig sein.

Oyak wurde 1960 von der damaligen Militärjunta gegründet. Der Pensionsfond sollte dazu dienen, die Offiziere wirtschaftlich abzusichern und die Unabhängigkeit der Armee zu sichern. Die Soldaten bezahlten steuerfreie Beiträge in den Sozialfond, dessen Vermögen im Jahr 2014 ca. 14 Milliarden Euro betrug. Der Konzern hatte gegenüber anderen Wirtschaftsunternehmen durch die Steuerbefreiung einen entscheidenden Wettbewerbsvorteil.

Für Erdogan ist der Putsch auch in wirtschaftlicher Sicht ein Segen, denn nun kann er wieder einmal für seine engsten Anhänger und deren Familien in den Holdings Jobs besorgen. Die AKP-Regierung liebäugelte schon länger damit, die Macht des Konzerns aus den Händen der Militärs zu nehmen.

Fazit

Es kann davon ausgegangen werden, dass die Mehrheit der Inhaftierten aus der Gülen-Bewegung stammt und dass es Gülen-Netzwerke in allen gesellschaftlichen Bereichen gab. Aber es ist unwahrscheinlich, dass zehntausende Bürger und Bürgerinnen sich als Putschisten schuldig gemacht haben. Wahrscheinlicher ist es, dass Erdogan nun mit dem Argument der Putschverwicklung versucht, tabula rasa zu machen. Er will sich der letzten Opposition in den eigenen islamischen Kreisen entledigen, um sich danach der kemalistischen Opposition widmen zu können.

Dass die kurdische Opposition unter dem Vorwand des PKK-Terrorismus weiter bekämpft wird, ist sowieso klar. An der PKK selbst wird die jetzige türkische Regierung aber wahrscheinlich genauso scheitern wie alle anderen Regierungen in den letzten 40 Jahren. Man kann nur hoffen, dass die vielen Appelle an diese türkische Regierung, doch wieder an den Verhandlungstisch zurückzukehren, bald gehört werden. Von Europa, Russland und den USA, von der Weltöffentlichkeit.