Türkei: Militärischer Angriff auf Nusaybin

Ehemaliger Linken-Politiker sendet Hilferufe aus der belagerten kurdischen Stadt

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Der alevitische Abgeordnete der pro-kurdischen Partei HDP (Demokratische Partei der Völker) im türkischen Parlament, Ali Atalan, befindet sich in dem vom Militär belagerten Teil der Stadt Nusaybin in der kurdischen Provinz Mardin im Südosten der Türkei. Mittels sozialer Netzwerke im Internet verschickt er Hilferufe und die verzweifelte Bitte um Unterstützung an die Weltöffentlichkeit. Laut Atalan, der von 2010 bis 2012 der Fraktion der Linkspartei im Landesparlament von NRW angehörte, wurden in der vergangenen Nacht Dutzende Häuser zerstört, und dabei 18 Menschen getötet.

"Es wird ein regelrechter Vernichtungskrieg in kurdischen Städten geführt, seit gestern Abend sind in Nusaybin 18 Menschen getötet und Dutzende Häuser mit Erde gleichgemacht. Nusaybin braucht dringend Solidarität, um die Zerstörung der Menschlichkeit hier zu stoppen." Seit vergangenem Sonntag berichtet der Politiker auf seiner Facebook-Seite quasi live aus dem Krieg.

Screenshot aus einem von Ali Atalan geposteten Video aus Nusaybin.

Nusaybin ist eine seit der Antike bekannte Stadt mit ca. 88.000 Einwohnern und einer kurdischen Bürgermeisterin im Drei-Länder-Eck Türkei-Syrien-Irak. Die Bahnverbindung nach Syrien, Teil der Bagdad-Bahn, ist derzeit stillgelegt.

Der wohl prominenteste Bürger Nusaybins ist der 1992 ermordete kurdische Dichter Musa Anter. Zu Lebzeiten war er Herausgeber mehrerer Zeitschriften, die sich mit der Kurden-Problematik beschäftigten und dazu beitrugen, diese zum Thema in der Türkei zu machen. Außerdem war er Autor der Tageszeitung "Özgür Gündem" (freie Tagesordnung), Vorgängerin der pro-kurdischen Tageszeitung "Özgür Politika" (freie Politik). Am 20. September 1992 wurde Musa Anter entführt und erschossen. Der Musa Anter Park erinnert an den großen Sohn der kleinen Stadt.

Seit dem 10. April befindet Atalan sich in Nusaybin. In einem Eintrag bei Facebook beschrieb er seine ersten Eindrücke:

Wir sind eben in die belagerte und ununterbrochen unter Beschuss geratene Stadt Nusaybin reingekommen. Es werden schwerste Waffen (Artillerie, Panzer, Granatenwerfer und weitere Waffen) eingesetzt. Als wenn zwei mächtige Staaten sich im Krieg befänden. Ein Regime in einem NATO-Mitgliedsland und den EU-Mitgliedskandidat geht gegen eigene Bevölkerung und die Städte so unverhältnismäßig und brutal vor. Der Staatspräsident sagte kürzlich, "die werden entweder ihre Köpfe beugen oder werden sie ihre Köpfe verlieren". Ich bin über das Schweigen der Öffentlichkeit einfach rat- und sprachlos.

Ali Atalan

Trotz der Hilferufe Atalans ist über die Lage der Bevölkerung nicht viel bekannt. Auch über den konkreten Hintergrund der Angriffe auf Nusaybin ist nichts zu erfahren. Ob beispielsweise Kämpfer der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK sich in der Stadt aufhalten oder ob kurdische Jugendliche Barrikaden errichteten, wie im nicht weit entfernten Cizre vor einigen Monaten. Der Abgeordnete Atalan spricht von 18 Menschen, die bei der Zerstörung von Dutzenden Häuser ums Leben kamen. Laut Hürriyet Daily News fielen nach offiziellen Angaben der Regierung 18 PKK-Kämpfer bei dem Versuch, von Nusaybin aus die Grenze nach Qamischli zu passieren in einem Gefecht mit der türkischen Armee. Außerdem ist von Waffenfunden die Rede.

Wie schwierig es ist, die Lage in einem Kriegsgebiet zu erfassen, erläuterte Reporter Volker Schwenck am vergangenen Sonntag im ARD-"Weltspiegel". Schwenck berichtet von Kairo aus für die ARD über den Krieg in Syrien. "Da (in ein Kriegsgebiet, Anm. d. Verf.) kann man nicht hingehen, wie man es sollte, und vielleicht auch wollte", so der ARD-Korrespondent. Und, so Schwenck weiter, selbst wenn eine der Kriegsparteien den Zugang zu einem bestimmten Gebiet ermögliche, so müsse immer im Hinterkopf bleiben, dass auch sie eigene Interessen verfolge.

Ob und inwieweit die Belagerung Nusaybins ein Kriegsverbrechen ist, müssen dereinst internationale Gerichte klären. Doch dazu müsste erst einmal Frieden herrschen in Kurdistan. Atalan gehört wie der Co-Vorsitzende der HDP, Selahattin Demirtaş, zu den Politikern, die immer wieder an beide Seiten, die PKK und die türkische Armee und Regierung, appellieren, die Waffen schweigen zu lassen und an den Verhandlungstisch zurückzukehren.