Türkei: Oppositionspartei HDP kurz vor dem Verbot?

Die Jagd auf Oppositionelle geht im ganzen Land mit unverhohlener Härte weiter

Die AKP-MHP-Koalition will die oppositionelle Partei HDP verbieten. Bereits Ende Januar deuteten Berichte in diese Richtung. In den letzten Tagen bekräftigten türkische Medien Anzeichen, dass Erdogan und MHP-Führer Bahceli auf HDP-Verbotskurs sind.

Nachdem vor kurzem allein an einem Tag Hunderte HDP-Mitglieder verhaftet wurden, plant die türkische Regierung die Aufhebung der Abgeordnetenimmunität von 28 der 56 HDP-Parlamentarier und Parlamentarierinnen. Die Jagd auf Oppositionelle geht im ganzen Land mit unverhohlener Härte weiter. Besonders betroffen ist die kurdische Bevölkerung. Viele türkische Staatsbürger kurdischer Herkunft suchen Schutz in Europa, vor allem in Deutschland. Doch bleibt vielen kurdischen Verfolgten der Schutz verwehrt.

HDP-Verbot bedeutet das Aus für die demokratische Opposition

Wegen der in der Türkei geltenden 10%-Hürde schaffen es in der Türkei nur wenige Parteien in das Parlament. Dies ist seit dem Militärputsch so gewollt, um die Beteiligung kleinerer bzw. neuer Strömungen in der parlamentarischen Politik zu verhindern. Man bleibt lieber unter sich und verteilt Pfründe und Posten entsprechend. Die kemalistische CHP, die fälschlicherweise im Westen mit der Sozialdemokratie gleichgesetzt wird, ist nämlich ebenso nationalistisch orientiert wie die AKP, bzw. deren neue Abspaltungen, sowie die rechtsextreme MHP.

Wenn es um die Eroberungsfeldzüge in Nordsyrien und im Nordirak geht, stehen alle jubelnd in einer Reihe. Kleine Unterschiede lassen sich allenfalls in der Frage der Islamisierung der Republik und der Frauenrechte feststellen. Ethnischen und religiösen Minderheiten, der LGBTI-Bewegung, Menschenrechts- oder Umweltaktivisten steht die CHP ebenfalls argwöhnisch bis feindlich gegenüber.

Am 24. Februar wurden 33 Anträge auf Aufhebung der Abgeordnetenimmunität an das Parlament geschickt. 28 davon betreffen HDP-Parlamentarier, auf die dann die üblichen Anklagen auf Unterstützung einer Terrororganisation, Terrorpropaganda oder Präsidentenbeleidigung warten.

So wird gegen den armenischen HDP-Abgeordneten Garo Paylan ermittelt, weil er einen früheren Brief an den ehemaligen HDP-Vorsitzenden Selahattin Demirtas mit den Worten "Lieber Selahattin Demirtas" begonnen hatte. Demirtas ist seit Jahren zu Unrecht inhaftiert, wie der Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) im Dezember 2020 erneut entschied. Nach dem Urteil des EMGR ist die fortdauernde Inhaftierung politisch motiviert. Der EMGR ordnete eine sofortige Freilassung an, der die Türkei jedoch nicht nachkommt, obwohl das Urteil für die Türkei als Mitgliedsstaat des Europarats verbindlich ist.

Neun HDP-Abgeordneten soll die Immunität wegen des sogenannten "Kobane-Verfahrens" entzogen werden. In diesem Verfahren geht es um die Proteste gegen die türkische Unterstützung für die Dschihadistenmiliz "Islamischer Staat" (IS) anlässlich deren Überfalls und anschließender Belagerung der nordsyrischen Stadt Kobane im Oktober 2014.

Bei den Protesten lieferten sich in vielen Städten Sicherheitskräfte, paramilitärische Verbände aus Dorfschützern und Anhänger der islamistischen türkisch-kurdischen Hisbollah, Straßenschlachten mit den Demonstranten. Dabei kamen angeblich 50 Menschen zu Tode, über 600 wurden verletzt. Insgesamt sind in diesem Prozess 108 Personen angeklagt. Ein Großteil von ihnen sind HDP-Politiker und Aktivisten der kurdischen Zivilgesellschaft.

Die Generalstaatsanwaltschaft fordert wegen "Zerstörung der Einheit des Staates und der Gesamtheit des Landes" lebenslange Haft für die Angeklagten. Als Nebenkläger treten in dem Prozess auch das Verteidigungsministerium auf sowie "das Ministerium für Arbeit, Soziales und Familie, die Zentralbehörde der türkischen Polizei, der türkische Geheimdienst (MIT), die Koalitionsparteien AKP und MHP, die CHP und die Hizbullah-nahe Partei Hüda Par" (ANF-News).

Nach dem Prozess, der Mitte April stattfinden soll, steht voraussichtlich das Verbot der HDP auf der Agenda. Jedenfalls wird dies von den gleichgeschalteten türkischen Medien derzeit vorbereitet. Dort spekuliert man bereits, wie sich die HDP-Wählerstimmen auf die anderen Parteien aufteilen werden.

Im Westen ist man "ernsthaft besorgt"

Der EU-Sprecher für auswärtige Angelegenheiten und Sicherheitspolitik, Peter Stano, äußerte sich in gewohnter Weise "ernsthaft besorgt" über die Entwicklungen in der Türkei:

Die Europäische Union ist ernsthaft besorgt über den anhaltenden Druck gegen die HDP und mehrere ihrer Mitglieder, der sich in letzter Zeit in Form von Verhaftungen, der Ersetzung gewählter Bürgermeister, offensichtlich politisch motivierten Gerichtsverfahren und dem Versuch der Aufhebung der parlamentarischen Immunität von Mitgliedern der Großen Nationalversammlung manifestiert hat.

Peter Stano, EU-Sprecher für auswärtige Angelegenheiten und Sicherheitspolitik

Die Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, Bärbel Kofler, äußerte nach einem Gespräch mit den HDP-Vorsitzenden Pervin Buldan und Mithat Sancar sowie mit der außenpolitischen Sprecherin der HDP, Feleknas Uca und der ehemaligen HDP-Bürgermeisterin von Cizre und jetzigen Berliner HDP-Vertreterin, Leyla Imret, ihre Sorge über die Rechtsstaatlichkeit in der Türkei:

Kriminalisierung von Regierungskritik ist mit EU-Werten unvereinbar, Diffamierung von gewaltfreiem Protest als Unterstützung für Terror ist zynisch.

Bärbel Kofler, Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung

Zu Konsequenzen seitens der EU oder Deutschlands führt die Besorgnis jedoch nicht. Für Erdogan und die türkische Regierung hat all das keine Relevanz. Im Gegenteil: Weil die türkische Regierung weiß, dass sie keinerlei Sanktionen zu befürchten hat und die Waffenlieferungen in die Türkei weiterlaufen, kommt dies einer Ermutigung gleich, den repressiven Weg gegen die Opposition weiter zu gehen.

Die Begründungen für willkürliche Verhaftungen werden gleichzeitig von Tag zu Tag absurder: Eine Grafik mit einer Friedenstaube auf einem zerbrochenen Gewehr mit der Inschrift "Der Mensch lebt durch den Frieden" gilt nun als Terrorpropaganda.

"Terrorpropaganda"

So ist ein 35-jähriger Kurde wegen "Terrorpropaganda" angeklagt, weil er auf Facebook einen Brief von Trump an Erdogan geteilt hat, in dem der ehemalige US-Präsident im Vorfeld des Einmarsches in das nordsyrische Serekaniye im Oktober 2019 Erdogan dazu auffordert, keine "Dummheit" zu begehen. Er solle vielmehr das Verhandlungsangebot des SDF-Kommandanten Mazlum annehmen. Es sei besser, in dieser Angelegenheit als korrekt und human in Erinnerung zu bleiben denn als Dämon. Hat also sogar Trump Terrorpropaganda betrieben, wenn seine Worte in der Türkei zur Anklage eines Kurden führen?

Der Arzt, HDP-Abgeordnete und Menschenrechtsaktivist Ömer Faruk Gergerlioglu muss ins Gefängnis, weil er sich u.a. mit den Protesten der Lehrenden und Studierenden der Istanbuler Bosporus Universität anlässlich der Einsetzung eines AKP-nahen Rektors solidarisiert hat.

Für die türkische Regierung ist er ein rotes Tuch, weil er über seinen Twitter-Kanal wöchentlich mit Opfern der Repressionspolitik kommunizierte und Unrecht öffentlich machte: Dazu gehört der Fall von Studentinnen, die nach der Festnahme im Polizeigewahrsam sexuell belästigt wurden. Auch der Fall ehemaliger türkischer Diplomaten gehört dazu, die über den Vorwurf der Mitgliedschaft in der Organisation des islamischen Predigers Fethullah Gülen verhaftet worden waren und die gegen die Polizei Foltervorwürfe erhoben.

Gergerlioglu besuchte zahlreiche politische Prozesse und machte die mangelnde Beweislage oder die offensichtlich konstruierten Anklagen öffentlich. In der Anklageschrift gegen ihn wirft man ihm allerdings nur einen Tweet vom Oktober 2016 vor, der vom Gericht als "Propaganda für eine Terrororganisation" gewertet wurde.

Er hatte das Foto einer Beerdigung in der südostanatolischen Provinz Hakkari kommentiert, auf dem Frauen vor den Särgen zweier Menschen trauerten: ein Sarg war in die türkische Fahne gehüllt, der andere in die Fahne der PKK. Sein Kommentar: "Anstatt, dass die toten Körper unserer Kinder nebeneinanderliegen, sollten sie bei lebendigem Leibe nebeneinanderstehen" - ist nach Lesart der türkischen Justiz Terrorpropaganda.

Das ganze Verfahren ist rechtswidrig, denn noch genießt Gergerlioglu als Abgeordneter der HDP Immunität. Selbst der in Deutschland in Talkshows bekannte, aus Deutschland stammende ehemalige AKP-Abgeordnete Yeneroglu, der noch bis vor kurzem Erdogans Sprachrohr in Deutschland war, kritisierte, dass sich dieses Urteil nicht juristisch erklären ließe.

Ein Journalist, der den Mord an dem jungen Kurden, Kemal Kurkut 2017 in Diyarbakir fotografierte, soll zu 20 Jahren Haft verurteilt werden. Der junge Mann soll angeblich ein Selbstmordattentäter gewesen sein. Tatsächlich war er leicht bekleidet und wurde von einem Polizisten von hinten in den Rücken geschossen und tödlich getroffen. Der Polizeischütze wurde freigesprochen.

Der langjährige, frühere SPD-Oberbürgermeister von Hannover, Herbert Schmalstieg, spricht als einer von allzu wenigen SPD-Vertretern in einer TV-Sendung klare Worte: "Die Türkei ist kein Rechtsstaat mehr...das Maß ist voll." Für die AKP-Regierung gäbe es nur zwei Kategorien für Regime-Kritiker: Entweder seien sie Terroristen der PKK oder Terroristen der Gülenisten. Das könne Deutschland nicht länger hinnehmen.

Solange es Menschenrechtsverletzungen, Unterdrückung und systematische Folter in der Türkei gebe, dürfe es keine Waffenlieferungen geben und es müsse bis zu klaren Veränderungen eine Suspendierung aus der NATO geben. Schmalstieg erinnerte daran, dass die Nationalsozialisten die Kommunistische Partei, die Sozialdemokratische Partei und die Gewerkschaften verboten hatten. Zu diesen Praktiken sehe er derzeit Parallelen in der Türkei.

Da dürften sich die europäischen Staaten nicht wegducken, sondern müssten klare Haltung beziehen. Merkwürdigerweise gelänge dies der Bundesregierung und der EU im Fall Russlands, Weißrusslands und Myanmars, im Falle der Türkei scheine das Pflaster aber besonders gut auf dem Mund zu kleben.