Türkei-Referendum: Wählen, ohne zu wissen, worum es geht

Seite 2: Die Bundesregierung muss endlich Haltung zeigen

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"Ich bin ganz sicher, dass die Mehrheit nicht weiß, um was es hier geht", kommentiert Arif Arslaner im Gespräch mit der Frankfurter Neuen Presse. Er leitet eine Initiative gegen die Verfassungsreform:

Das Entscheidende ist aber eine Systemänderung in der Türkei. Es geht um die Änderung von einem parlamentarischen System zu einem Präsidialsystem, und zwar einem Präsidialsystem, das in keiner westlichen Demokratie anzutreffen ist.

Arif Arslaner

"Es war ein Jubel zu Lasten zehntausender Menschen, die das Regime Erdoğan in der Türkei bis aufs Blut verfolgt; zu Lasten der Grundrechte, die vom Regime Erdoğan malträtiert werden; zu Lasten von Demokratie, Rechtsstaat und Parlamentarismus. Es ist verstörend, wie viele Deutsch-Türken vom sicheren Boden des Grundgesetzes aus die autokratische Verwandlung der alten Heimat gutheißen", kommentiert Heribert Prantl treffend Yildirims Oberhausen-Auftritt in der Süddeutschen Zeitung.

Er ärgert sich zu Recht über die deutschen Behörden, die das so geschehen lassen, während wenige Tage später schon das Gerücht um einen geplanten Wahlkampf-Auftritt Erdogans in NRW die Runde macht und die hiesige Politik uneins ist, wie man damit umgehen soll.

Keine klare Haltung

Dass keine klare Haltung erkennbar ist, wird zum Problem. Vor der Oberhausener Arena sprach Tobias Schlegl mit Erdogan-Anhängern, die Massenverhaftungen rechtfertigten, indem sie sagen, die Betroffenen seien in Wahrheit gar keine Journalisten und Wissenschaftler, sondern Terroristen. Wenn dann noch der Begriff "zionistische Medien" fällt, weiß man, woher der Wind weht und wähnt sich auf einer Pegida-Demo. Die Geisteshaltung der deutschen und der türkischen Rechten ist ohnehin weitgehend deckungsgleich.

Yildirim wiederholte die Mahnung an die Bundesregierung, diese müsse aufhören, Terror-Organisationen zu unterstützen. Er meint die Gülen-Bewegung. Die Bundesregierung müsste sich derartige Angriffe entschieden verbitten, aber man ist stattdessen peinlich darauf bedacht, das Verhältnis zu Ankara nicht zu belasten.

Als bekannt wurde, dass Welt-Korrespondent Deniz Yücel in Istanbul in Haft ist, wurde aus Berlin nicht die entschlossene Forderung seiner umgehenden Freilassung laut. Das Auswärtige Amt mahnte lediglich ein faires, rechtsstaatliches Verfahren an - im Wissen, dass es so etwas in der Türkei längst nicht mehr gibt.

Das Schlimme an dieser Haltung ist, dass sie das türkische Vorgehen gegen einen deutschen Journalisten zum Teil legitimiert: Indem man auf scharfe Kritik verzichtet, erweckt man den Anschein, dass an den hanebüchenen Vorwürfen ja doch etwas dran sein könnte. Das ist fatal.

Denn es ist Wasser auf die Mühlen jener, die mitten in deutschen Großstädten die Todesstrafe fordern und damit gemeinsam mit ihrem Ministerpräsidenten den Boden von Grundgesetz und demokratischer Ordnung verlassen.

"Make Turkey great again"

Die AKP verspricht ihren Wählern mehr Gerechtigkeit, ein Ende des Terrors, wirtschaftlichen Aufschwung, neue Arbeitsplätze. "Make Turkey great again". Wir kennen das Motto. Wie die Realität aussieht, konnte man in den letzten Tagen wieder beobachten. Laut Amnesty International wurden bislang achtzig Personen festgenommen, weil sie für ein "Nein" beim Referendum geworben haben.

Allein in der vergangenen Woche wurden mehr als 1.000 Personen festgenommen wegen Gülen-Verbindungen. Die "unabhängige" türkische Justiz wirft ihnen kollektiv Unterstützung von Terrorismus vor. Als Beleg gilt, dass sie die Messenger-App ByLock genutzt haben, mit der die Putschisten kommuniziert haben sollen. Ein Dorf im Bezirk Mardin ist seit Wochen von der Außenwelt abgeriegelt. Es gibt Berichte über schwere Folter und willkürliche Morde durch die Armee.

Die oppositionelle kurdische Partei HDP, deren Parteispitze zusammen mit tausenden Parteimitgliedern im Gefängnis sitzt, ruft die Vereinten Nationen um Hilfe an, die CHP fordert Ministerpräsident Yildirim zur Stellungnahme auf. Aber nichts geschieht. Und das AKP-Blatt Sabah lässt allen Ernstes verlautbaren, dass Ermittlungen gegen insgesamt 146.000 Personen wegen Beteiligung am Putschversuch laufen. Wer das glaubt, der will es glauben.