Türkei: Umstrukturierung in den kurdischen Gebieten
Das türkische Parlament will nächste Woche die gesetzliche Grundlage dafür schaffen, oppositionelle Bürgermeister und Bezirksräte ihres Amtes zu entheben
Das türkische Parlament will kommende Woche die Umstrukturierung der kurdischen Provinzen beschließen. Damit wird gleichzeitig die gesetzliche Grundlage geschaffen, oppositionelle Bürgermeister und Bezirksräte ihres Amtes zu entheben. Da im Südosten die meisten Bürgermeister und Bezirksräte von der HDP bzw. der DBP gestellt werden, ist dies ein weiterer Schritt dahin, der kurdischen Bevölkerung ihre wenigen Mitbestimmungsmöglichkeiten zu entziehen.
Die Demontage der demokratischen Partei HDP, die sich u. a. auch für die Gleichberechtigung von Frauen sowie der verschiedenen ethnischen und religiösen Minderheiten einsetzt, geht weiter in die nächste Runde. Parteibüros werden durchsucht und zerstört, Haftstrafen für viele HDP-Abgeordnete angeordnet. Auch das Schikanieren der Zivilbevölkerung im Südosten geht weiter und weitere kritische Journalisten werden verhaftet.
Die Umstrukturierungen im Einzelnen
Wie die Informationsstelle Kurdistan (ISKU) unter Berufung auf Beiträge der Zeitungen DIHA und Cumhurriyet vom 11. und 14. August berichtet, sollen die Provinzen Colemêrg (türk.: Hakkari) und Şirnex (türk.: Şırnak) zu Landkreisen degradiert werden. Auch ihre Namen sollen geändert werden. Şirnex (türk.: Şırnak) soll den Fantasienamen "Nuh" erhalten, Colemêrg (türk.: Hakkari) heißt dann "Çölemerik".
Die (erneute) Umbenennung empfindet die kurdische Bevölkerung als weitere Demütigung und Vernichtung ihrer Kultur. Denn schon einmal wurden die kurdischen Dorf- und Städtenamen türkisiert. Seit der Republikgründung wurden erst die kurdischen Städtenamen türkisiert, dann folgten peu à peu die Dörfer.
Die Landkreise Gever (türk.: Yüksekova) und Cizîr (türk.: Cizre) sollen stattdessen zu eigenständigen Provinzen erklärt werden. Colemêrg soll als Landkreis dann der neuen Provinz Gever zugeordnet werden, wie auch die Landkreise Çelê (türk.: Çukurca) und Şemzînan (türk.: Şemdinli) sowie der neu geschaffene Landkreis Dereci.
Der neuen Provinz Cizîr werden die Landkreise Elkê (türk.: Beytüşşebap), Basê (türk.: Güçlükonak), Hezex (türk.: İdil), Nuh, Silopi und Keleban (türk.: Uludere) zugeordnet.
Diese Maßnahmen haben das Ziel, die Kommunalverwaltungen, die eng mit den verschiedenen Bürgerinitiativen zusammengearbeitet haben, in den kurdischen Provinzen und Landkreisen zu zerstören. Mit dieser Umstrukturierung geht eine Verschiebung der Kompetenzen einher, weg von der kommunalen hin zur zentralen Ebene. Für gewählte Bürgermeister werden innerhalb von 14 Tagen Treuhänder eingesetzt.
Der Grundbesitz von Kommunen und Landkreisen kann von der Zentralregierung beschlagnahmt werden. Die Entscheidungsbefugnisse liegen dann nur noch bei den Ministerien in Ankara, zum Beispiel beim Innenministerium, dem Umwelt- und Städteministerium oder dem Kultur- und Tourismusministerium.
Das bedeutet, dass die Planung über die in den letzten 12 Monaten durch die Militäroperationen zerstörten kurdischen Städte und Landkreise dann allein in der Hand des Ministeriums für Umwelt und Städte in Ankara läge. Es hätte dann das alleinige Recht auf Planung, Bau, Genehmigung sowie dem Wiederaufbau der zerstörten Ortschaften. Dies geht über die Enteignungen hinaus (Zerstörtes Diyarbakir und Türkei: Kurdische Dörfer werden zwangsgeräumt).
Schon vor dem für nächste Woche geplanten Parlamentsbeschluss hat sich die Regierung eines Tricks bedient, die lokalen Behörden zu umgehen: Sie erklärte die von ihnen zerstörten Stadtteile in z.B. Yüksekova zu Risikogebieten. Diese Gebiete unterstehen dann nicht den lokalen Entscheidungsträgern, sondern dem Ministerium für Umwelt und Städtebau.
Wenn die Stadtverwaltungen aufgelöst, durch Treuhänder ersetzt werden oder durch neue Zuschnitte der Provinzen und Landkreise die gewählten Vertreter durch Beamte der Zentralregierung ersetzt werden, gibt es keine Einflussmöglichkeiten der gewählten lokalen Vertreter mehr, wie der Wiederaufbau gestaltet werden kann.
Außerparlamentarische Maßnahmen gegen die kurdische Zivilbevölkerung
Seit dem 27. Mai 2016 ist der kurdische Politiker Hursit Külter, Kreisvorstandsmitglied der Demokratischen Partei der Regionen (DBP) in der Stadt Şırnak verschwunden. In dieser Zeit stand die Stadt bereits seit 80 Tagen unter Ausgangssperre. Das bedeutete, dass die Bewohner 80 Tage lang ihre Häuser nicht verlassen konnten, sich nicht mit dem Lebensnotwendigen eindecken konnten. Die Stadt stand mit schwerem Kriegsgerät unter Beschuss.
Wohlgemerkt, nicht von ausländischen Invasoren, sondern vom Militär im eigenen Land. Der Politiker Külter schrieb laut einem Bericht der Jungen Welt, dass "er sich in ‚einer schweren Lage‘ befinde und von Einsatzkräften umstellt worden sei.
Der Nachrichtenagentur Dicle Haber liegt zudem der Screenshot einer Handykommunikation zwischen Külter und einem Angehörigen vom 27. Mai vor, auf dem sich der nun verschwundene Aktivist von seiner Familie verabschiedet: ‚Mir bleibt nicht viel Zeit‘, schrieb er. Wenig später, am Abend desselben Tages, hieß es auf einem Twitter-Account, der offenkundig von türkischen Einsatzkräften betrieben wurde, Külter sei festgenommen worden". Öffentliche Stellen wie Polizei, Regierung, Militär wissen angeblich nichts vom Verschwinden des Lokalpolitikers.
Das "Verschwinden-lassen" von Oppositionellen, Politikern, Journalisten ist eine seit den 80er und 90er Jahren gängige Praxis in der Türkei. Spezialtruppen wie die JITEM verschleppten politische Gegner und richteten sie außerhalb jedes Gesetzes.
Die Nachrichtenagentur ANF berichtete am 12.8., dass die 83-jährige Friedensmutter Dılşah Özgen verhaftet wurde. Sie ist Mitglied des Rates der Friedensmütter in Amed (türk.: Diyarbakir). Vor einer Woche wurde ein Ermittlungsverfahren gegen sie eingeleitet. Die alte Frau wurde, als sie der Vorladung folgte, in Untersuchungshaft genommen.
Der Vorwurf: Sie soll für den Märtyrerfriedhof in Licê, auf dem auch ihr Sohn Ferdi Özgen beerdigt ist, Container gespendet haben, damit Besucher des Friedhofs, die dort das Gebet für ihre gefallenen Angehörigen sprechen, Unterstand finden können.
Maßnahmen gegen die (gewählte) Opposition und die westlich orientierte Bevölkerung
Die Berichterstattung der türkischen Medien will uns suggerieren, dass es bei den im jetzigen Ausnahmezustand ergriffenen Maßnahmen um die Wahrung der Demokratie ginge. Es gehe einzig darum, das Netzwerk Gülens zu eliminieren. Aber mitnichten. Erdogan nutzt die Gunst der Stunde, um die gesamte Opposition auszuschalten und demokratische Strukturen zu zerstören, um sein islamistisches Präsidialsystem zu etablieren. Wie blind mögen unsere Politiker und Türkeiexperten sein, um nicht wahrzunehmen, wie sich das Bild der Türkei in den letzten Jahren verändert hat?
Immer mehr verschleierte Frauen sind auf den Straßen. Westlich gekleidete Frauen werden mittlerweile tätlich angegangen. Alkohol gibt es nur noch an wenigen Orten. Schwule und Lesben sind sich ihres Lebens nicht mehr sicher. Vor zwei Wochen wurde ein schwuler Syrer in Istanbul geköpft. Und was macht die angeblich säkulare, kemalistische CHP im türkischen Parlament? Sie nickt die Vorstöße gegen die Kurden ab, weil sie immer noch am Leitsatz Atatürks festhält, dass alle Bürger der Türkei auch gleichzeitig "Türken" seien.
Fälschlicherweise wird die CHP in unserem Lande immer mit der Sozialdemokratie gleichgesetzt. Tatsächlich sind sie aber National-Konservative, die zwar säkular orientiert sind und damit Erdogan im Wege stehen, aber in der Frage von ethnischen, religiösen oder sozialen Minderheiten sich nicht wirklich unterscheiden.
Und deshalb sind sie auch aktiv an der Zerstörung der HDP beteiligt. Die CHP stimmte auch für die Aufhebung der Immunität derjenigen Abgeordneten, gegen die Ermittlungsverfahren laufen. Dass dies hauptsächlich HDP-Abgeordnete betrifft, die mit Ermittlungsverfahren, Anzeigen, Klagen überhäuft werden, war Ziel der parlamentarischen Aktion.
Nun fordert die türkische Staatsanwaltschaft jeweils fünf Jahre Haft für Selahattin Demirtaş (HDP Kovorsitzender und Abgeordneter) und Sırrı Süreyya Önder (HDP-Abgeordneter), weil sie angeblich auf den Newroz-Feierlichkeiten in Istanbul Abdullah Öcalan und die PKK gelobt haben. Dies gelte als Terrorpropaganda, so die Staatsanwaltschaft.
Das Büro der HDP in Istanbul Tarlabaşı wurde von Sondereinheiten der Polizei durchsucht und verwüstet. 17 Menschen wurden verhaftet. Zeitgleich wurden auch Büros in anderen Landkreisen Ziel von Razzien.
Im Kreis Van wurde der HDP-Kreisbeauftragte Mehmet Şirin festgenommen. Mit ihm befinden sich noch weitere sieben Menschen in Gewahrsam der Anti-Terror-Abteilung der Polizeidirektion von Van.
In Ceylanpınar, im Landkreis Urfa, wurde der HDP Bezirks-Co-Vorsitzende Gülbahar Fidan von der Polizei festgenommen. In der Stadt Hakkari fanden zahlreiche Hausdurchsuchungen statt.
Weitere Eingriffe in die Pressefreiheit
Die Journalistin Güler Can Doguhan arbeitet für die kurdisch-türkische Nachrichtenagentur Diha (Dicle Haber Ajans) und die Frauen-Nachrichtenagentur Jinha (Jin Haber Ajansi). Jinha wendet sich gegen eine sexistische Sprache in den Medien und gibt Frauen eine Öffentlichkeit. Aber immer wieder wird ihre Webseite durch die Aufsichtsbehörde für Telekommunikation gesperrt, weil sie über die Auswirkungen des staatlichen Machtapparats auf Frauen und ihren Widerstand aus den besetzten und tagtäglich zerstörten Gebieten im Südosten der Türkei berichteten.
Die Agenturgründerin und Redakteurin Zehra Dogan berichtete acht Monate lang aus dem Gebiet, wurde Augenzeugin der Zerstörungen in Nusaybin - bis sie selbst zur Zielscheibe wurde. Sie wurde mit dem Vorwurf "Mitgliedschaft in einer illegalen Organisation" verhaftet. Weitere Reporterinnen wurden festgenommen, die Presseausweise der Mitarbeiterinnen des Istanbuler Büros wurden nicht verlängert.
In Sur, dem historischen Stadtteil von Diyarbakr, unterziehen Kräfte der Sondereinheit die Journalistin Duygu Erol einer Ganzkörperuntersuchung, ziehen sie nackt aus und bedrohen sie mit dem Tod. Sie nennen ihr den Namen eines Friedhofs und fragen ‚Willst Du mit uns dorthin gehen?‘
Güler Can Doguhan
Über ähnliche Schikanen berichtet die türkisch-kurdische Nachrichtenagentur Diha: Im April diesen Jahres wird die Reporterin Meltem Oktay während ihrer Recherche zur Ausgangssperre in Nusaybin unter Anwendung von Gewalt festgenommen. Seitdem sitzt sie im Gefängnis in Mardin.
Auch ihr wird der Vorwurf gemacht, dass sie Mitglied in einer terroristischen Vereinigung sei. Die Diha-Reporterin Sermin Soydan, wird während der Ausgangssperre im Landkreis Yüksekova in Hakkari wegen eines Artikels über eine militärische Geheimoperation im Ort Gever festgenommen und in ein Gefängnis nach Van überführt.
Die kurdische Tageszeitung Özgür Gündem wurde nun auch verboten. Die Reisepässe von zwei Mitarbeitern der Zeitung wurden für ungültig erklärt, um sie an der Ausreise zu hindern. Özgür Gündem war schon mehrfach verboten worden. Der Vorwurf lautet, wie bei allen Medien, die versuchen, objektiv über die Anliegen der kurdischen Bevölkerung zu berichten, Sprachrohr der PKK zu sein.
Dies ist nur ein kleiner Ausschnitt dessen, was im Moment an ‚Säuberungsaktionen‘ im Namen der Demokratie passiert. Wenn dieser Bericht erscheint, werden wahrscheinlich weitere Zeitungen verboten, Journalisten und HDP-Politiker inhaftiert sein. Was die Berichterstattung über die kurdischen Gebiete betrifft, so wird dies immer schwieriger, weil gerade diese Medien, die noch vor Ort berichten, nun gezielt verboten werden.