Türkei vor Neuwahlen
IS schmäht Erdoğan öffentlich als "Verräter"
Im Juni wurde in der Türkei ein neues Parlament gewählt, in die die bislang regierende islamisch-konservative AKP 8,9 Prozentpunkte und ihre absolute Mehrheit verlor. Mit 40,9 Prozent der Stimmen hat sie jetzt nur mehr 258 von insgesamt 550 Sitzen und muss sich bis zum Sonntag, 23. August einen Koalitionspartner suchen. Andernfalls kommt es zu Neuwahlen.
Dazu führte der der AKP-Vorsitzende und amtierende Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu Gespräche mit der sozialdemokratisch-kemalistischen CHP, die mit 25 Prozent und 132 Sitzen die zweitstärkste Partei ist. Am Donnerstag erklärte er nach mehreren Sondierungstreffen mit dem CHP-Chef Kemal Kiliçdaroglu, dass es keinen Sinn habe, die Verhandlungen fortzuführen und nahm Gespräche mit der nationalistischen MHP auf, die im Juni mit 16,3 Prozent auf den dritten Platz landete und 80 Mandate verfügt. Am Montag scheiterten auch diese Gespräche.
Weil der MHP-Vorsitzende Devlet Bahçeli Journalisten nach dem Treffen eine "schöne Erklärung" Davutoğlus angekündigt hatte, was türkische Medien als Einigung interpretierten, stiegt der Leitindex BIST an der Istanbuler Börse um 1,2 Prozent. Faiz Öztrak, der Wirtschaftssprecher der CHP, äußerte deshalb den Verdacht, dass hinter Çeliks merkwürdiger Wortwahl kein Sarkasmus, sondern ein wirtschaftliches Interesse gesteckt haben könnte.
Gestern Abend gab Davutoğlu den Auftrag zur Regierungsbildung an Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan zurück, der ebenfalls der AKP angehört. Nun wird erwartet, das Erdoğan bald Neuwahlen ausruft, die möglicherweise am 22. November stattfinden.
Viele Beobachter vermuten, dass diese Option nach der verlorenen Wahl das eigentliche Ziel der AKP war und dass die Sondierungsgespräche mit anderen Parteien eher pro forma als mit dem Ziel einer Koalitionsbildung geführt wurden. Diesem Erklärungsmodell zufolge hofft die Partei, dass sich in einem zweiten Wahlgang Wähler um der Stabilität ihres Staates willen mit Bauchschmerzen für sie entscheiden. Für diese Erklärung sprechen Berichte, nach denen Davutoğlu der CHP lediglich eine Zusammenarbeit für ein paar Monate und nicht für eine ganze Legislaturperiode anbot.
Die AKP erreichte im Juni nicht nur wegen ihrer Stimmenverluste keine Mandatsmehrheit, sondern auch deshalb, weil die Kurdenpartei HDP mit 13,1 Prozent die Zehn-Prozent-Hürde übersprang und nun inklusive der direkt gewählten Abgeordneten mit 80 Mandatsträgern im Parlament sitzt. Durch den Ende Juli wiederbelebten Krieg mit der verbotenen Kurdenorganisation PKK (die seitdem wieder zahlreiche Terroranschläge durchführte) und durch Verhaftungen von HDP-Mitgliedern, denen Verbindungen zur PKK vorgeworfen werden, könnte die HDP potenziell Wähler verlieren - vor allem solche, die keine ethnischen Kurden, sondern Türken sind, bei denen sie sich vor der Wahl im Juni als Linkspartei präsentierte.
Der AKP wird dagegen vorgeworfen, syrische Dschihadisten geduldet oder sogar mit ihnen zusammengearbeitet zu haben. Insofern dürfte der Partei ein seit gestern im Umlauf befindliches Propagandavideo der salafistischen Terrorgruppe Islamischer Staat (IS), in dem drei Dschihadisten den türkischen Staatspräsidenten und langjährigen AKP-Chef Erdoğan als "Teufel", "Götzendiener" und "Verräter" schmähen, wahltaktisch gesehen nicht ungelegen kommen. Es hat das Potenzial, abspenstige Wähler indirekt von der Moderatheit der Partei zu überzeugen.
Dass Erdoğan nun anstatt Neuwahlen auszurufen Kiliçdaroglu ein Regierungsbildungsmandat erteilt, gilt als unwahrscheinlich, weil auch der CHP-Vorsitzende keine Parlamentsmehrheit in Aussicht hat. Dazu müssten sich nämlich die drei Oppositionsparteien einigen - die MHP hat jedoch erklärt, dass sich ihre Abgeordneten niemals an einem Kabinett beteiligen würden, in dem auch HDP-Politiker sitzen. Ändert sie ihre Meinung nicht, wäre höchstens die gemeinsame Duldung eines reinen CHP-Kabinetts durch MHP und HDP denkbar.
Ruft Erdoğan die Neuwahlen nach Artikel 116 der türkischen Verfassung aus, dann muss er bis zum 22. September ein Übergangskabinett hinnehmen, in dem ein AKP-Ministerpräsident lediglich das Innen-, das Justizminister und Kommunikationsressort nach eigenen Vorstellungen besetzen könnte. Alle anderen Posten würden anteilsmäßig auf die im Parlament vertretenen Parteien verteilt. Diese Regeln gelten nicht, wenn sich das Parlament selbst auflöst, was durch eine Enthaltung der MHP möglich wäre, die sich (wie oben bereits geschildert) nicht an einem Kabinett mit HDP-Ministern beteiligen will.
Empfohlener redaktioneller Inhalt
Mit Ihrer Zustimmmung wird hier eine externe Buchempfehlung (Amazon Affiliates) geladen.
Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Amazon Affiliates) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.