Türkische Attacke auf den saudischen Kronprinzen
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"Wohin mit der Leiche?": Die Veröffentlichung von Gesprächsprotokollen weist Mohammed Bin Salman als verantwortlich für den kaltblütigen Mord an Khashoggi aus. Warum wird die Sache wieder aufgenommen?
Die Daily Sabah, das Sprachrohr der türkischen Regierung, packt aus. Sie veröffentlicht Teile des Abhörprotokolls der Gespräche zwischen Mitgliedern eines saudi-arabischen Sondereinsatzteams, dessen Aufgabe darin bestand, Jamal Khashoggi zu beseitigen.
Das dokumentierte Gespräch zwischen Maher Abdulaziz Mutreb und Dr. Salah Muhammed Al-Tubaigy setzt mit der Frage des ersteren ein, ob man die Leiche in einer Tasche ("Bag") wegschaffen könne. Dr. Al-Tubaigy gibt zur Antwort, dass dies nur ginge, wenn man die Leiche zerschneide. Er sei aber dazu fähig, habe Erfahrung darin, wenn auch nicht mit einer "noch warmen Leiche". Dann kommt die Aussage, die schon vor Monaten internationale Berühmtheit erlangte:
Üblicherweise höre ich Musik über Kopfhörer, wenn ich Leichen seziere. Zwischendrin trinke ich Kaffee und rauche. Wenn ich mit dem Schneiden fertig bin, werdet ihre die Leichenteile in Plastiktüten verstauen und diese in Kofferpacken und rausschaffen.
Dr. Salah Muhammed Al-Tubaigy
Das Extra der aktuellen Veröffentlichung besteht nun darin, dass sie den Zeitpunkt des Gespräches zwischen Mutreb und Al-Tubaigy herausstellt: 12 Minuten, bevor Jamal Khashoggi (oder auch: Dschamal Chaschukdschi) am 2. Oktober 2018 das saudi-arabische Konsulat betreten haben wird. Seither fehlt jede Spur von ihm.
"Ist das Opfertier schon angekommen"
Es war kein Unfall, wie Saudi-Arabien später behauptete, sondern ein geplanter, vorsätzlicher Mord, der kalt, zynisch und verächtlich ("Ist das Opfertier schon angekommen") durchgeführt wird, das ist die zentrale Botschaft der Veröffentlichung der Gesprächsprotokolle. Deren Authentizität kann von der Öffentlichkeit nicht überprüft werden.
Das ist nur einem begrenzten, wenn auch nicht gerade kleinen Kreis - mehr oder weniger - möglich: dem türkischen Geheimdienst, Erdogan und Mitgliedern seiner Regierung, dem saudischen Herrscherhaus und seinen angeschlossenen Diensten, der US-Regierung und der CIA sowie allen anderen Regierungen, Diensten und Fachleuten, z.B. die UN-Ermittlerin Agnes Callamard (die im Juni schon davon sprach, dass es sich um Mord handelt), denen das abgehörte Material schon vor einiger Zeit von der türkischen Regierung zur Begutachtung zugeschickt wurde.
Der Öffentlichkeit werden nun die letzten Minuten und die letzten Wortwechsel mit Khashoggi nahegebracht sowie Bruchstücke aus einem Telefongespräch vom 2. Oktober, das der saudische Konsul in Istanbul mit dem Büro von Saud al-Qahtani, einem Mann, der dem Kronprinzen nahesteht, in Riad führte. Darin ist von einer "Top-secret-Mission" die Rede.
"Nur möglich mit Einwilligung des Kronprinzen"
Die Absicht, die durch weitere Konversationsfetzen, etwa des Geheimdienstchefs im saudischen Konsulat untermauert wird, wird von der türkischen Zeitung unmissverständlich dargelegt:
Diese Äußerungen sind Beweis dafür, dass der Mord an Khashoggi nicht ohne die Einwilligung des saudischen Kronprinzen ausgeübt wurde.
Daily Sabbah
Auch al-Jazeera berichtete gestern über die veröffentlichten Mitschriften der abgehörten Gespräche und beruft sich dabei auf die türkische Zeitung, von der es heißt, dass sie einen engen Draht zur Regierung in Ankara hat (was ihre Artikel, die eine gut erkennbare politische Agenda auszeichnet, täglich bestätigen).
Mit dem Bericht von al-Jazeera ist für eine größere Verbreitung in der arabischen Öffentlichkeit gesorgt. Man geht dabei allerdings etwas vorsichtiger an die Sache als die türkische Zeitung. Ein direkter Vorwurf gegen Mohammed Bin Salman wird dort nicht geäußert, sondern nur nahegelegt.
Der Kronprinz wieder fest im Sattel - mit einem langfristigen Racheplan
Warum die "Enthüllung" jetzt? Man erwartete von Erdogan, dass er im Herbst letzten Jahres auspacken würde und stichhaltige Beweise für die Verantwortlichkeit des saudischen Kronprinzen Mohammed Bin Salman vorlegen würde. Erdogan entschloss sich allerdings dazu, das Belastungsmaterial an Regierungen zu verschicken.
Jetzt lanciert Ankara offenbar eine zweite Welle, die an die Öffentlichkeit gerichtet ist - jetzt, da der Kronprinz wieder so fest im Sattel sitzt und wieder Zügel in der Hand hat, dass ihm die Nominierung seines Halbbruders zum neuen saudischen Energieminister zugeschrieben wird. Die Nachricht über die Amtsübernahme von Abdulaziz bin Salman Al-Saud als Oberhaupt des Ministeriums des wichtigen Ölexporteurs hat für Aufsehen gesorgt. Offiziell ist der König dafür verantwortlich, aber hier und da war zur Nachricht zu lesen, dass König Salman einen kränkelnden Eindruck machte.
Eine Erklärung für die Öffentlichkeitsoffensive wäre, dass Erdogan einen Sündenbock für schwierige Entwicklungen aufbaut, die sich ankündigen. Der türkische Präsident hat seine Popularität wesentlich dem Wirtschaftsaufschwung zu verdanken, der mit seinem Aufstieg in das Regierungsamt verbunden wird. Seit einiger Zeit geht es wirtschaftlich bergab.
Anfang August veröffentlichte das Middle East Eye, dem gute Verbindungen zu Katar nachgesagt werden, Auszüge aus einem Geheimpapier, das von einem strategischen Plan des saudischen Kronprinzen handelt. Demnach trachte Mohammed Bin Salman - erbost über die Verdächtigungen gegen ihn, die im Herbst letzten Jahres vonseiten der türkischen Regierung serienweise an die Öffentlichkeit gebracht wurden, nach der Demontage des türkischen Präsidenten.
Der "Racheplan" des saudischen Kronprinzen gegen Erdogan hatte laut dem "Geheimpapier" (als Intelligence-Report des Think Tanks Emirate Policy bezeichnet) zum Ziel:
(…) sämtliche zur Verfügung stehenden Mittel aufzuwenden, um auf die Regierung Erdogan Druck auszuüben, ihn zu schwächen und ihn mit inländischen Schwierigkeiten zu beschäftigen, in der Hoffnung, dass er von der Opposition von seinem Posten enthoben wird, ihn mit einer Krise nach der anderen zu konfrontieren und ihn so vor sich herzutreiben, dass er ausrutscht und Fehler macht, die die Medien ganz sicher aufnehmen.
Middle East Journal
Die Schwächung der türkischen Wirtschaft und ihrer Rolle "in islamischen Angelegenheiten"
Zum Plan gehört demnach: die Schwächung der türkischen Wirtschaft, die phasenweise Beendigung saudi-arabischer Investitionen in die Türkei, die allmähliche Reduzierung des saudischen Tourismus in die Türkei, indem man alternative Ziele schaffe, die Reduzierung türkischer Importe und "am wichtigsten die Schwächung der regionalen Rolle der Türkei in islamischen Angelegenheiten".
Es gab Anzeichen dafür, so das Middle East Eye, dass der Plan umgesetzt werde: etwa die Blockade türkischer Einfuhren durch saudische Grenzbeamte, die damit mutmaßlich eine Order von ganz oben umsetzten. Die Sache wurde aber nach ein paar Tagen geklärt. Mitarbeiter des Journals berichten allerdings davon, dass die Grenzschwierigkeiten für türkische Exporteure nicht aufgehört haben. Doch sind solche Informationen, die sich anderswo nicht finden, mit Vorsicht zu behandeln
Der Blick auf die Exporte der Türkei Richtung Saudi-Arabien ist auch noch nicht wirklich überzeugend, wenn es darum gehen soll, Erdogan wirklich darüber zuzusetzen. Auch der Tourismus aus Saudi-Arabien hat nicht in der Art nachgelassen, wie es der "Plan" vorsieht.
Aber es gibt mehrere Zeichen, dass es mit dem Verhältnis zwischen der Türkei und Saudi-Arabien nicht zum Besten steht. Etwa, dass das osmanische Reich, auf das Erdogan sehr viel hält, in saudischen Schulbüchern jetzt etwas anders dargestellt wird. Nun wird die Besatzung mehr akzentuiert.
Unübersehbar und die Realpolitik unmittelbar betreffend ist der Konflikt zwischen Saudi-Arabien und der Türkei an mehreren Fronten im Krisenhalbmond, der von Nordafrika bis in die Türkei reicht.