Türkisches Militär für Waldbrände im Nordosten verantwortlich

Waldbrand in Dersim. Ausschnitt aus einem Videoclip von Alican Önlü, Twitter

Bombardierungen auf kurdische Gebiete vernichten tausende Hektar Wälder. Viele Dörfer in der Region sind akut gefährdet

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Angesichts der Hitzewelle mit Temperaturen von teilweise über 45 Grad toben derzeit in vielen Ländern Südeuropas heftige Waldbrände. In der Türkei sorgt der Erdogans Militär dafür, dass die Wälder in den kurdischen Gebieten brennen und raubt damit Mensch und Tier die Lebensgrundlage. Die gleichzeitigen Repressionen gegen die kurdische Bevölkerung erinnern an die 1980/90er Jahre.

Vorwurf der Brandbomben auf Dersim

In der Provinz Tunceli (kurdisch: Dersim) brennen die Wälder. "Aus Militärhubschraubern wurden Brandbomben und leicht entzündliche Stoffe über die Wälder Dersims abgeworfen. Große Waldbrände sind die Folge, in die die lokale Feuerwehr nicht eingreifen darf", berichtet die kurdische Gemeinde.

Der Name Dersim steht für die Massaker des türkischen Staates an den alevitischen Dersim-Kurden in den Jahren 1936/37. Er steht auch für die Rettung zehntausender Armenier beim vorangegangenen Genozid an den Armeniern in den Jahren 1915/16 durch die ansässige Bevölkerung. Die alevitischen Kurden schlossen sich 1915 nicht den sunnitischen Hamidiye-Kurden an, die an den Deportationen und Ermordungen der Armenier 1915 beteiligt waren.

Immer wieder war und ist die Bevölkerung dieser Region den Repressionen der türkischen Regierungen ausgesetzt: Diese reichen von permanenter ökonomischer Vernachlässigung bis hin zu Zwangsassimilation und Staatsterror mit Folter, Vertreibungen und Exekutionen. Jetzt, wo sich das Massaker an den Aleviten bald zum 80. Mal jährt, scheint sich die Geschichte zu wiederholen.

Im bergigen Dersim-Gebiet gibt es große, in der Türkei einzigartige Eichenwälder. Seit dem 2. August bombardieren die türkischen Militärs diese Wälder in den Landkreisen Landkreisen Pülümür, Hozat, Nazimiye und Ovacik. Tausende Hektar Wald wurden schon vernichtet. In der benachbarten Provinz Elazig, im Landkreis Karakocan wurden ebenfalls Brände gelegt. Durch die extreme Hitze, die auch dort zurzeit herrscht, breiten sich die Brände rasant aus.

"Terrorbekämpfung"

Viele Dörfer in der Region sind akut gefährdet. Gleichzeitig hindert das türkische Militär die Bewohner mit allen Mitteln daran, die Brände zu löschen. Staatliche Löschfahrzeuge oder Löschflugzeuge werden erst recht nicht eingesetzt und internationale Hilfe, etwa durch Nato-Partner, ist auch nicht in Sicht, da die Türkei bewusst keine Unterstützung anfordert.

Die türkische Regierung rechtfertigt alle ihre Maßnahmen mit "Terrorbekämpfung" und nimmt dabei offensichtlich auch die Zerstörung der einzigartigen Tier- und Pflanzenwelt mit ihren mehr als 400 endemischen Arten in Kauf.

Kritik aus der CDU

Das CDU-Mitglied Ali Ertan Toprak, Bundesvorsitzender der Kurdischen Gemeinde Deutschland, kritisiert die gewaltige Zerstörung der Fauna und Flora als ein "Massaker an der Natur … Während wir in Europa um jedes Stück Natur kämpfen, wird in der Türkei die Umweltzerstörung politisch instrumentalisiert und die Menschen zur Auswanderung gezwungen". Toprak ruft die europäischen Umweltbehörden und Umweltverbände dazu auf, sich umgehend dafür einzusetzen, dass die Naturzerstörung beendet und die betroffenen Gebiete wieder aufgeforstet werden.

Der Zentralrat der Dersimer in Deutschland beklagt, der türkische Staat versuche durch "militärische Auseinandersetzungen, durch Bau von Staudämmen, durch Goldabbauprojekte mit naturschädigenden Methoden u.a. die Flucht und Auswanderung der einheimischen Bevölkerung aus dieser Region zu forcieren, umso eine ethnische und religiöse Säuberung in Tunceli (Dersim) zu verwirklichen".

Waldbrände auch in anderen kurdischen Provinzen

Auch aus anderen kurdischen Provinzen kommen Nachrichten über Waldbrände mit dem Vorwurf, dass sie vom türkischen Militär absichtlich gelegt werden. Die Nachrichtenagentur ANF berichtet von Waldbränden in der Provinz Şırnak in der Nähe der Stadt Cizre und im östlichen Bereich von Diyarbakir zwischen Lice und Bingöl. Das Flammenmeer auf dem Berg Gabar soll so groß sein, dass man es vom Zentrum des Bezirks Cizre aus sehen kann.

F-16-Kampfflugzeuge des türkischen Militärs sollen Bingöls Kiğı-Landschaft in Brand gesetzt haben, durch den Wind breite sich das Feuer über den Berg Hasan (Çiyayê Hesar) aus. Auch hier wird der Bevölkerung verboten, die Brände zu löschen.

Kommentar zur Berichterstattung

Den deutschen Medien sind diese Vorgänge im Südosten der Türkei offenbar keine Meldung wert. Wollen die Leitmedien vor der Bundestagswahl das Thema Türkei und Erdogan niedrig halten? Soll Kritik am Erdogan-Regime nur noch "auf Sparflamme" erfolgen? Hat man sich schon so sehr dem Erdogan-Narrativ ergeben, dass Berichte über die aktuelle Lage von Kurden, Armeniern, Eziden und Aramäern im Südosten der Türkei eine Unterstützung der PKK und damit des Terrorismus darstellen? Und darf man nicht von "Staatsterror" sprechen, wenn der Staat Teile seiner Bevölkerung tyrannisiert?

Gut, man berichtet inzwischen ausführlich über die Einschränkung der Pressefreiheit. Aber beim Umgang mit der türkischen Justiz wird die europäische Reaktion zur Farce: Der europäische Gerichtshof für Menschenrechte lehnte gerade tausende Klagen inhaftierter Oppositioneller mit dem Hinweis ab, erst müsse der lokale Rechtsweg ausgeschöpft werden. Ob es den überhaupt noch gibt, und wenn ja, wie lange der dauert, interessiert dabei nicht.

Vom Verschwinden Oppositioneller, neue Foltervorwürfe und harte Gerichtsurteile

In letzter Zeit mehren sich Berichte, dass Oppositionelle bei Polizei-oder Militäraktionen "verschwinden". Die Südwestpresse berichtet, dass es allein in Ankara seit Januar elf solcher mysteriösen Entführungen gab. Diese Berichte wecken Erinnerungen an die 1990er Jahre: Damals wurden in der Türkei hunderte Menschen entführt. Fast 1.400 Fälle von "Verschwindenlassen" sind aus jenen Jahren dokumentiert, so die SWP:

Die Opfer waren vor allem kurdische und linke Bürgerrechtler. Manche fand man Tage, Wochen oder Monate nach ihrer Entführung tot in irgendeinem Straßengraben, oft mit Spuren von Folter. Andere Entführungsopfer blieben bis heute verschollen.

Südwestpresse

Aus der Provinz Hakkari, im Dreiländereck Türkei/Irak/Iran wird berichtet, dass die türkischen Einsatzkräfte, bestehend aus Militär und Spezialeinheiten, zahlreiche Bewohner des Dorfes Şapatan festgenommen und gefoltert haben. Anlass war ein Gefecht zwischen türkischen Einheiten und der Guerilla, bei dem am 6. August ein Polizist getötet wurde. Kurz danach überfielen Polizei und Militär das rund 1.000 Einwohner zählende Dorf und misshandelten ihre Bewohner.

Rund 100 Menschen, darunter auch Frauen und Kinder, sollen nach Berichten der Partei HDP, die eine Delegation in das Gebiet entsandte, auf dem zentralen Dorfplatz zusammengepfercht und anschließend von den Sicherheitskräften verprügelt worden sein. 36 Personen wurden ohne Angabe von Gründen festgenommen und auf die örtliche Polizeistation gebracht. 20 der Festgenommenen wiesen nach ihrer Entlassung schwere Folterspuren auf.

Unter den Folteropfern befindet sich auch eine 89 Jahre alte Frau. Ihnen allen wird ohne Beweise vorzulegen pauschal vorgeworfen, die PKK unterstützt zu haben. Eine weitere Form der Demütigung ist die Schändung und Zerstörung von Friedhöfen. Der Bezirk Derik in der Provinz Mardin war bis zum Genozid 1915 ein überwiegend armenischer Bezirk. Bis heute existieren in der Region zahlreiche armenische Friedhöfe und Kultstätten. Nach 100 Jahren sind auch sie heute von der Zerstörung bedroht.

Der Forscher Eyyüp Güven berichtet, dass die Armenier seit mindestens 400 Jahren in diesem Gebiet lebten - also lange bevor die Turkvölker einfielen. Heute gäbe es nur noch eine Familie, die hier wohnt. Vor 1915 waren es Tausende. Es gab vier große armenische Friedhöfe in Derik. Der Friedhof von Dêra Sor (Mezelê Dêra Sor), der Friedhof von Newalê (Mezelê Dêr a Newalê), der Aşikê Remê Friedhof (Wassermühlen Friedhof) und der Korta Vinyards Cemetery (Mezelê Korta). Sie wurden alle zerstört, es sind nur noch 50 Gräber übrig. Es wurde nichts unternommen, um diese Friedhöfe zu bewahren. Nach und nach werden so durch die Bebauung der verfallenden Friedhöfe die letzten Zeichen armenischer Vergangenheit entfernt.

Auch andere Friedhöfe und Grabmale, wie z.B. die der gefallenen Guerillas oder von Kämpfern und Kämpferinnen der YPG/YPJ wurden geschändet, wie unlängst in Viransehir geschehen Menschen, die an Beerdigungen vermeintlicher PKK-Mitglieder teilnahmen, werden zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Ein Beispiel dafür ist die HDP-Politikerin Nursel Aydogan.

Der Abgeordneten aus Diyarbakir wird vorgeworfen, "Straftaten im Namen einer Terrororganisation" begangen zu haben. Die Straftat war die Teilnahme an Beerdigungen von vermeintlichen PKK-Mitgliedern vor sechs Jahren. Das Gericht verhängte dafür eine Haftstrafe von mehr als viereinhalb Jahren. Aydogans Anwalt Gülec kündigte Berufung an und sagte der Presse: "Nursel Aydogan hat in ihrer Funktion als Abgeordnete an den Beerdigungen teilgenommen. Das Gericht behandelt sie trotzdem wie eine bewaffnete Verbrecherin."