Tumult der Blockade-Appelle: Frankreichs Gretchenfrage zwischen Le Pen, Macron und Mélenchon

Bild: Symeonidis Dimitrios / Shutterstock.com

Vor der Stichwahl: Das Ende der Macronie ist sicher. Unsicher ist die Regierung. Die Wähler in der Zwickmühle.

Am Sonntag geht es bei den Stichwahlen in Frankreich um die Macht im Land. Gewinnt die Partei von Le Pen, der Rassemblement national (RN), so hat sie die Regierungsmacht. Dazu muss man wissen: Der französische Präsident hat bei weitem nicht die Machtbefugnisse wie der US-Präsident.

Macron hat angesichts einer Regierung, die seine politischen Ansichten nicht teilt, eine erheblich eingeschränkte Gestaltungsmacht. Manche sagen, er hat so gut wie gar keine mehr.

Die Gesetzesinitiativen liegen allein bei der Regierung. Der französische Präsident kann nicht, wie manchmal irreführend zu lesen ist, per Dekret regieren. Die Regierung gestaltet die Gesetze und: Über die Finanzierung von Vorhaben entscheidet allein die Regierung. Sofern sie die Mehrheit im Parlament hat.

Hilfe für die Ukraine

Ein Beispiel, wie das konkret aussehen könnte, liefert die Unterstützung für die Ukraine. Macron kann dem Land keine Hilfe mehr zusagen, ohne dass die Regierung dahintersteht. Zwar heißt es allgemein, dass der Präsident die großen Linien der Außenpolitik bestimmt.

Das ist aber nicht verfassungsrechtlich so geregelt, sondern ein gentlemen‘s agreement, wie das in früheren Phasen der Cohabitation gehandhabt wurde. Die Zeiten haben sich geändert. Das muss nicht mehr so sein.

Die Macht, die Macron bleibt

Innenpolitisch kann Macron über Nominierungen mitwirken und seinen öffentlichen Einfluss dank seines Status‘ geltend machen. Dann gibt es noch den Einflussbereich des sogenannten l‘etat profond, den "tiefen Staat". Prosaisch, von der Aura weitgreifender Spekulationen befreit, heißt das, dass der Präsident über einen Einfluss auf wichtige Funktionsträger der staatlichen Institutionen verfügt.

Das alles gilt selbstverständlich auch für den Fall, dass die linke neue Volksfront (Nouveau Front populaire) eine Parlamentsmehrheit schafft.

Keine absolute Mehrheit für Niemand in Sicht

Bisher zeichnet sich weder für den rechten RN noch für die linke Volksfront eine absolute Mehrheit ab. Gerechnet wird ausgiebig, bis auf die einzelnen Wahlkreise herunter, solide Voraussagen sind nicht möglich. Viele Wähler sind unentschieden.

Dazu gibt es eine Kernfrage, die auf den ersten Blick trivial erscheint, es aber keineswegs ist: Werden die Wählerinnen und Wähler am Sonntag den Empfehlungen der Parteien folgen?

Dahinter steht: Vor den Stichwahlen gibt es Verabredungen in den Wahlkreisen zwischen den Parteien der Kandidaten. Sie laufen auf das Prinzip hinaus, dass mehrere Parteien sich auf eine Bewerberin bzw. Bewerber einigen und dessen oder deren Wahl unterstützen, um Stimmen zu vereinen. Damit sie sich nicht verstreuen.

Rückzug der Kandidaten

Das hat zur Folge, dass sich ein Kandidat zurückziehen soll, selbst wenn sie oder er dies nicht möchte, wenn sich drei Bewerber im Rennen befinden ("triangulaires", deutsch oft als "Dreieckswahl" wiedergegeben).

Von diesen Szenarien wurden nach der ersten Wahl-Runde eine Rekordzahl von 306 gemeldet. Sie sank nach der offiziellen Anmeldung der Kandidaturen in der vergangenen Woche laut Francetvinfo auf 89.

Über 224 Kandidaten haben sich zurückgezogen. Es bleiben 409 Duelle, zwei Wahlen mit vier Kandidaten und zu einer Kandidatur fehlten noch Angaben, rechnet das Medium vor.

Der Rückzug, der wahrscheinlich nicht jeder Politikerin und jedem Politiker leicht fiel, erfolgte bei 211 Kandidaten aufgrund eines in Frankreich beinahe klassischen Räsonnements: "um den Rassemblement National oder seine Verbündeten zu blockieren".

Vote barrage: Die Vernunft für das kleinere Übel?

Mit der Konzentration auf einen Kandidaten sollen Wähler - die ihrer Überzeugung nach ihre Stimme lieber einem anderen gegeben hätten und dies im ersten Wahlgang auch taten - dazu gebracht werden, gegen Parteivertreter Le Pens oder der Republikanischen Partei, die sich mit der RN verbündet haben, zu stimmen.

Das nennt man le vote barrage, eine Stimmabgabe, um eine Sperre ("barrage") gegen Kandidaten einer Partei zu errichten. Manchmal ist auch die Rede von einem politischen "Cordon sanitaire", der mit einer solchen Wahltaktik errichtet werden soll.

Das lief lange Zeit so, dass viele Franzosen ruhig schlafen gehen konnten, aber dieses Mal nicht.

Denn gegenwärtig gibt es, wen man es überspitzt, aber nicht wirklichkeitsfremd, so formulieren will, drei vote-barrage-Wellen, die sich kreuzen: die erwähnte herkömmliche, gegen die Rechte um Le Pen, dann die gegen die "Macronie", das Lager des Präsidenten. Schließlich dann die Blockade gegen die linke Partei La France insoumise (Unbeugsames Frankreich) unter Führung von Jean-Luc Mélenchon.

Keiner der genannten Politiker steht zur Wahl. Le Pen, Macron und Mélenchon stehen für eine Politik, gegen die bei Wählern auf eine Weise mobilisiert wird, dass man sie auf jeden Fall nicht wählen sollte, nach dem Motto: "Besser das geringere Übel".

Dieser Mobilisierung hat Macron nicht wenige Stimmen bei den Präsidentschaftswahlen gegen Le Pen zu verdanken. Jetzt hat sich die Situation aber verändert: Le Pens Partei kann nun mit einem großen Anteil derjenigen Wähler rechnen, die die Aussicht, dass Macron weiterhin Macht behält, mehr abschreckt als eine RN-Regierung.

Währenddessen bauen Macron, die politische Mitte wie auch Unternehmer darauf, dass die Mehrheit gegen eine Regierung wählt, in der Unbeugsames Frankreich viel Mitsprache hat. Macron verteilte scharfe Worte gegen "extrem links".

Ob das klug war, wird dann auch von deutschen mitte-liberalen Zeitungen wie der SZ stark angezweifelt. Die Angst vor Mélenchons Partei wird auch vonseiten der unternehmerfreundlichen Medien geschürt – und dann gibt es noch die Stimmen, die auf antisemitische Äußerungen aus der Partei aufmerksam machen.

Der Sprung ins Unbekannte

Das ist ein schwieriges Gelände. Ohne La France insoumise hat die neue Volksfront überhaupt keine Chance auf ein Ergebnis, das ihr zählbaren Erfolg einbringt, die eine Koalitionsregierung gegen rechts ermöglichen würde.

Wie sich die Wählerinnen und Wähler angesichts dieser Barrages entscheiden werden, dafür gibt es kein Ready-Made-Statement, das ist ein Sprung ins Unbekannte. Zuletzt hängt das auch von den Kandidaten vor Ort ab. Und da haben sowohl der RN wie auch La France insoumise ihre Vorteile, da sie vor Ort Präsenz zeigen - die LAFI in den Problemzonen -, währenddessen sich andere von der Lebenswirklichkeit vieler abgesondert haben.