Tunnelblick auf die Ukraine – Feuer frei für Erdogan?
Mehrere Kommunen in Deutschland verurteilen türkische Angriffspläne auf Nordsyrien. Die Bundesregierung schaut weg und Ankaras Lobby kann Abgeordnete unter Druck setzen.
Wenn Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) doch einmal den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan kritisiert, denkt sie dabei weniger an Betroffene türkischer Bombardements in dessen Nachbarländern Syrien und dem Irak. Was Baerbock nach eigenen Worten "mehr als unverständlich" findet, ist nicht, was auf Erdogans eigenes Konto geht, sondern ein Gruppenfoto seines Treffens mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin und dem iranischen Staatschef Ebrahim Raisi.
"Dass der türkische Präsident mit auf diesem Foto ist, das ist eine Herausforderung, um es mal freundlich zu sagen", sagte Baerbock am Freitagabend im Bild-Format "Die richtigen Fragen".
Die Türkei als Nato-Staat gebe der Ukraine militärisch "massive Unterstützung" im Krieg gegen den Angreifer Russland und sei auch am jüngsten Abkommen zur Sicherung ukrainischer Getreideexporte beteiligt, merkte die Grünen-Politikerin an. "Deswegen ist mir dieses Foto mehr als unverständlich, gerade aus Sicht eines Nato-Mitglieds."
Warum Außenpolitik auch in Kommunalparlamenten auf den Tisch gehört
Während die Bundesregierung zu dem angedrohten und geplanten Angriffskrieg der Türkei in Nordsyrien beharrlich schweigt, verurteilen mehrere deutsche Kommunen die andauernden Drohnenangriffe und die aktuellen türkischen Angriffspläne auf das Gebiet der Selbstverwaltung. In den deutschen Kommunen sind die Auswirkungen der aggressiven türkischen Außenpolitik direkt spürbar. Spürbar ist allerdings auch Erdogans langer Arm bis in die Kommunalparlamente.
Krefeld: Mitte Juni verabschiedete der Rat der Stadt Krefeld eine gemeinsame Resolution der Fraktionen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen, FDP, sowie der Ratsgruppe Die Linke, in der die Angriffe der türkischen Armee auf den Nordirak und Nordsyrien, sowie die aktuelle Drohung eines Angriffs auf Nordsyrien verurteilt wurden.
Der Antrag wurde vor allem mit einem Gutachten der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages begründet, der "ganz erhebliche Zweifel" am Vorliegen einer Selbstverteidigungslage für die Türkei hatte.
Berlin: Das Berliner Bezirksparlament von Friedrichshain-Kreuzberg folgte der Krefelder Initiative und beschloss am 29. Juni mit den Stimmen von SPD, Grünen und der Partei Die Linke eine fast gleichlautende Resolution. Die CDU-Fraktion stimmte gegen die Resolution, die FDP enthielt sich.
Für den Bezirk mit seiner großen kurdischen Community sind die Angriffspläne der Türkei besonders bedrohlich. Der Berliner Bezirk unterhält seit 2019 eine Städtepartnerschaft mit der nordsyrischen Stadt Dêrik. Sollte der türkische Präsident Erdogan nicht dabei gestoppt werden in Nordsyrien einen 30 km tiefen Streifen vom Nordwesten bis zum Nordosten Syriens sowie bis zum irakischen Mossul zu besetzen, wäre auch die Partnerstadt Dêrik betroffen.
Frankfurt am Main: Mitte Juli brachte Die Linke auf Initiative der "Städtefreundschaft Frankfurt-Kobane e.V." eine ähnliche Resolution im Frankfurter Stadtparlament ein. SPD und VOLT signalisierten ihre Unterstützung, die CDU legte einen eigenen Entwurf vor. Bevor über die Resolution abgestimmt werden konnte, musste erst über die Dringlichkeit der kurzfristig eingebrachten Anträge festgestellt werden.
Die Koalition im Frankfurter Römer, bestehend aus Grünen, SPD, Volt und FDP, lehnte die Dringlichkeit ab. Um den Koalitionsfrieden zu sichern ist es üblich, dass die Koalitionsfraktionen Beschlüsse nur gemeinsam herbeiführen. In diesem Fall stimmten die SPD und Volt erklärtermaßen gegen ihre Überzeugung. Eine merkwürdige Konstruktion, da doch eigentlich alle gewählten Mandatsträger zuerst ihrem eigenen Gewissen verpflichtet sind.
Damit wurde die Entscheidung über die Resolution wegen Grünen und FDP in den Herbst verschoben. Angesichts der akuten Gefahr eines Einmarsches der Türkei in Nordsyrien ein sehr durchsichtiges Manöver, um einer Positionierung zu entgehen.
Warum nur fällt es manchen Parteien so schwer, Völker- und Menschenrechtsverstöße zu verurteilen, wenn es sich um die Türkei handelt? Die Antwort ist bei den AKP-Strukturen in Deutschland zu suchen.
Welchen Einfluss hat Erdogans fünfte Kolonne in deutschen Parlamenten?
Wenn man sich den Debattenverlauf im Vorfeld der jeweiligen Abstimmungen genauer anschaut, kommen bedenkliche Dinge zu Tage: In Krefeld versuchten die CDU-Fraktion, die Freien Wähler und "WIR" gemeinsam mit der AfD, den Antrag zu verhindern. Was bei der Krefelder CDU nicht verwundert, denn Mitglied der Krefelder CDU ist auch Mehmet Demir, dem gute Kontakte zu den faschistischen Grauen Wölfe nachgesagt werden.
Der Verein "Union der türkischen und islamischen Vereine in Krefeld und Umgebung e. V." steht der Türkisch-Islamischen Union der Anstalt für Religion (Ditib) nahe und hatte im Vorfeld vergeblich versucht, SPD, Grüne und FDP zur Rücknahme des Antrags zu bewegen.
Ditib gilt als Auslandsfortsatz des türkischen Religionsministeriums Diyanet. Der Vorsitzende der "Islam-Union" griff die Fraktion der Grünen auf der öffentlichen Ratssitzung wegen der Resolution verbal an. Dieser Vorgang zeigt deutlich, wie aus dem AKP-nahen Spektrum in Deutschland mit Einschüchterungen versucht wird, Einfluss auf die deutsche Politik zu nehmen.
In Berlin bekundeten im Vorfeld der Abstimmung die Grünen ihre Zustimmung, verzichteten aber auf eigene Redebeiträge, da sie ihre türkisch- und kurdischstämmigen Verordneten nicht gefährden wollten. Diese würden weiterhin gerne in die Türkei zu ihren Familien reisen wollen.
Die CDU stimmte nicht zu – mit der Begründung, dass man zwar die derzeitige Politik der türkischen Regierung kritisch sehe, der Bezirk aber keine Außenpolitik mache, sondern sich nur um kommunale Belange kümmere. Die FDP begründete ihre Enthaltung ebenfalls mit dem fehlenden Bezug zur Kommunalpolitik, auch wenn man die Situation vor Ort schrecklich fände.
Die Linke entgegnete, der Bezirk sei sehr wohl mit der Außenpolitik konfrontiert, das zeige auch der Ukraine-Krieg, der dem Bezirk viele ukrainische Geflüchtete beschert habe. Zudem verpflichte eine Städtepartnerschaft auch zur Solidarität mit der Bevölkerung der Partnerstadt. Insofern sei Kommunalpolitik auch Außenpolitik. Wenn es um die Ukraine geht, seien alle solidarisch und hätten kein Problem damit, sich außenpolitisch zu positionieren.
In Frankfurt begründete die FDP ihre Ablehnung der Dringlichkeit damit, dass der Krieg in Syrien ja schon zehn Jahre andauere und die neuerlichen Angriffe bereits am 18. April 2022 begonnen hätten. Zudem fehle der kommunale Bezug. Der Abgeordnete der Linken entkräftete die Argumentation: Der Krieg in der Ukraine dauere auch bereits seit 2014 an; und trotzdem sei am 24. Februar dieses Jahres die Ukraine-Resolution der Frankfurter Stadtverordnetenversammlung durch einen Dringlichkeitsantrag mit großer Mehrheit verabschiedet worden.
Die FDP-Argumentation bedeutet letztendlich, dass Völkerrechte, Menschenrechte und die Bewertung von Kriegsverbrechen für sie nur dann wichtig sind, wenn der "passende" Aggressor kritisiert wird. Der FDP-Argumentation, es fehle der kommunale Bezug, schloss sich auch die grüne Fraktionsvorsitzende an: "Der Vergleich zur Ukraine-Resolution führt in unseren Augen in die Irre, da diese durch die zu erwartenden zahlreichen ukrainischen Geflüchteten in Frankfurt einen sehr starken kommunalen Bezug hatte", berichtete sie der FAZ.
Davor, dass bei einer türkischen Besetzung der Städte Manbidsch und Tel Rifaat 300.000 Geflüchtete aus dem 2018 von der Türkei besetzten benachbarten Afrin erneut vertrieben und Teile nach Europa flüchten würden, verschließt man bei den Frankfurter Grünen die Augen.
Warum ein Grünen-Büro in Frankfurt am Main besetzt wurde
Im Vorfeld der Abstimmung im Frankfurter Stadtparlament besetzte die Initiative "Defend Kurdistan" das Frankfurter Grünen-Büro und verlangte ein Gespräch mit dem Parteivorsitzenden und Frankfurter Bundestagsabgeordneten Omid Nouripour. Dabei teilten die Grünen zwar nach eigenem Bekunden grundsätzlich das Anliegen der Initiative, wiesen aber darauf hin, dass bedauerlicherweise Teile der Koalition die Verabschiedung einer Resolution ablehnen würden.
Wie in Berlin wiesen sie auf die Angst der türkisch- und kurdischstämmigen Fraktionsmitglieder und deren Familien vor türkischen Repressionen hin. In Frankfurt würden durch einen im Stadtparlament sitzenden Vertreter der AKP-nahen BIG-Partei höchstwahrscheinlich direkt Informationen über das Abstimmungsverhalten kurdisch- oder türkischstämmiger Abgeordneter an staatliche türkische Stellen weitergeleitet, hieß es.
Ein weiteres Argument gegen öffentliche Kritik an der Politik der türkischen Regierung ist die Befürchtung, ethnische Konflikte zwischen Türken und Kurden in Deutschland zu schüren. Merkwürdigerweise gab es diese Befürchtungen in Bezug auf die Ukraine und Russlands Angriffskrieg nicht – obwohl es bereits zu Beginn des Krieges prorussische Demonstrationen gab.
Diese teilweise identische Argumentation in den Kommunen zeigt: Erstens gibt es unter vielen Volksvertretern eine bedenkliche Doppelmoral in der Beurteilung von völkerrechtswidrigen Angriffen und Menschenrechtsverletzungen, je nachdem, wer der Aggressor ist.
Zweitens: Der Einfluss von AKP-nahen Institutionen auf die deutsche Politik ist bereits so groß, dass türkisch- oder kurdischstämmige Mandatsträger es aus Angst vor Repressionen des türkischen Staates nicht mehr wagen, ihrem Gewissen zu folgen: Sie nehmen ihr parlamentarisches Rederecht nicht mehr wahr und Fraktionsführungen versuchen sie vermeintlich zu schützen, indem sie türkeikritische Abstimmungen zu verhindern versuchen.
Grundsätzlich gilt: Wenn Abgeordnete aus Angst vor Repressionen bei Türkei-Besuchen bei Abstimmungen nicht mehr ihrem Gewissen folgen können, wenn Erdogans langer Arm so weit in unsere Institutionen reicht, dann läuft etwas gehörig schief in Deutschland.
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