UK: Vorgezogene Neuwahlen am 14. Oktober?
Regierung verliert nach weiterem Tory-Austritt auch theoretische Parlamentsmehrheit und Vorabstimmung zu Brexit-Verlängerungszwang
Seit gestern hat das britische Regierungsbündnis aus den Tories und der nordirischen Protestantenpartei DUP keine Mehrheit im Unterhaus mehr. Der Abgeordnete Phillip Lee, der seinen Wahlkreis als Konservativer gewann, wechselte nämlich zu den Liberaldemokraten, weil er mit der Brexit-Politik seiner Partei nicht einverstanden ist und möchte, dass das Vereinigte Königreich in der EU verbleibt.
Jetzt verfügen die Tories noch über 309 Abgeordnete. Rechnet man die zehn der DUP hinzu, sind das 319. Diesen 319 Abgeordneten sitzen 245 von der Labour Party, 35 von der Scottish National Party (SNP), 15 Liberaldemokraten, 15 Unabhängige, fünf ehemalige Tory- und Labour-Abgeordnete von der "Independent Group for Change" (TIGfC), vier Waliser von Plaid Cymru und eine Grüne gegenüber. Diese Gruppen verfügen nun zusammen über 320 Abgeordnete. Die Sitze der sieben gewählten Sinn-Féin-Abgeordneten bleiben traditionell leer, weil die nordirischen Katholiken der englischen Königin keinen Treueeid schwören wollen.
"Gaukeward Squad"
Eine faktische Mehrheit hatte die Regierung aber schon vorher nicht mehr. Zumindest nicht in Brexit-Fragen wo die Meinungen quer durch die Fraktionen gehen. Auch gestern stimmten nicht 320 zu 319, sondern 328 zu 301 Abgeordnete dafür, dass morgen über eine Vorlage von Tony Blairs ehemaligem Entwicklungshilfeminister Hilary Benn abgestimmt werden kann, die die britische Regierung dazu zwingen soll, den Austrittstermin aus der EU auf den 31. Januar 2020 zu verschieben, wenn sie bis zum 19. Oktober keinen neuen Deal mit der EU-Kommission erzielt hat.
Als Dirigent der Remainer-Tories, ohne die dieses Ergebnis nicht erzielt worden wäre, gilt Theresa Mays ehemaliger Justizminister David Gauke. Tories, die sich nach ihm richten, nennen britische Medien in Anspielung auf das Adjektiv Awkward die Gaukeward Squad. Als Nummer zwei dieser Gaukeward Squad gilt der ehemalige Finanzminister Philip Hammond , der der BBC das Ergebnis von gestern Abend richtig vorhersagte.
Corbyn fordert vor Zustimmung zu Neuwahlen Verschiebung des Austrittstermins
Johnson hat sich entschieden gegen so eine Verlängerungsvorgabe ausgesprochen. Er meint, sie werde in Brüssel nur die unbegründete Hoffnung wecken, das Vereinigte Königreich doch noch in der EU zu halten. Deshalb behindere sie sein Ziel, Brüssel zu einem Deal ohne einen Backstop zu bewegen. Den Tory-Abgeordneten, die dafür stimmen, drohte der Premierminister am Montag indirekt mit vorgezogenen Neuwahlen am 14. Oktober, bei denen sie nicht mehr aufgestellt würden.
Einen Antrag auf solche Neuwahlen könnte er bereits heute im Unterhaus einbringen. Die zu seiner Verabschiedung nötige Zweidrittelmehrheit erhofft er sich nicht nur von der Mehrzahl der Abgeordneten seiner Partei, sondern auch von der Labour-Opposition. Deren Chef Jeremy Corbyn will seine Abgeordneten aber nur dann zum Zustimmen auffordern, wenn ihm vorher eine erneute Verschiebung des Austrittstermins garantiert wird.
Johnson hatte so eine erneute Verschiebung zuletzt am Montag erneut öffentlich ausgeschlossen. Er setzt stattdessen weiter auf einen geänderten Deal, dessen Wahrscheinlichkeit seinen Worten nach "gestiegen" ist. Eine Sprecherin der EU-Kommission wollte sich dazu nicht öffentlich äußern und meinte lediglich, es sei ein "Fortschritt im Prozess, dass nach dem G7-Gipfel wieder [zwei Mal wöchentlich] Gespräche stattfinden". Darüber hinaus will Johnson am Montag den irischen Ministerpräsidenten Leo Varadkar besuchen, der in der Backstop-Frage weiter die Brüsseler Position vertritt, obwohl ihm der britische Premierminister zugesichert hat, keine Kontrollen an der britischen Binnengrenze durchzuführen (vgl. "Wir schaffen das" mit britischem Akzent).
Verweigert Corbyn eine Labour-Zustimmung zu einer vorgezogenen Neuwahl ohne vorherige "No-No-Deal"-Garantie könnte das damit zusammenhängen, dass die Tories in Umfragen aktuell deutlich besser dastehen als seine eigene Partei. Gestern ermittelte YouGov für die Regierungspartei einen Stimmenanteil von 35 Prozent und für die Labour Party nur einen von 25. Im britischen First-Past-the-Post-Mehrheitswahlsystem deutet ein so bequemer Umfragevorsprung auf eine noch bequemere Mandatsmehrheit hin.
Auf dem dritten Platz finden sich mit 16 Prozent die Liberaldemokraten. Für Nigel Farages Brexit Party, die die Europawahl im Vereinigten Königreich noch mit 30,5 Prozent gewann, würden aktuell nur noch elf Prozent der britischen Wähler stimmen. Das zeigt, dass der neue Tory-Chef und Premierminister Boris Johnson den Befürwortern eines Ausstiegs aus der EU glaubhaft vermitteln konnte, dass er den am 23. Juni 2016 vom Volk direkt geäußerten Wunsch (anders als seine Vorgängerin Theresa May) zum nächsten angepeilten Datum auch wirklich umsetzt. Wird Johnson jedoch gezwungen, sein Versprechen zu brechen und doch noch einmal eine Verlängerung zu beantragen, könnte sich das schnell ändern.
Deshalb könnte Johnson versucht sein, das Inkrafttreten eines Gesetzes, das eine erneute Verschiebung des Austrittstermins erzwingen soll, zu behindern. Einen ersten Schritt dazu hat er bereits letzte Woche unternommen, als er die britische Königin erfolgreich um eine fünfwöchige Parlamentspause zwischen dem 10. September und dem 14. Oktober ersuchte. Gegen diese Entscheidung laufen zwei Klagen vor Gericht: Eine von Abgeordneten im schottischen Edinburgh und eine am britischen High Court, die der ehemalige Tory-Premierminister John Major angestrengt hat.
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