USA: Neue Wende im Anthrax-Fall

Der FBI-Chefermittler Lambert erhebt Anklage und weist auf entlastende Beweise, schlampige Untersuchungen und Behinderungen in der "wichtigsten Untersuchung des FBI" hin

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Zur Erinnerung: Den Anthrax-Anschlägen fielen 5 Menschen zum Opfer und 17 Menschen erkrankten zum Teil schwer. Die landesweite Dekontaminierung kostete mehr als 1 Milliarde US-Dollar. Was folgte war "die wichtigste Untersuchung in der Geschichte des FBI", die insgesamt neun Jahre dauern sollte.

Anthrax-Brief an Senator Daschle. Bild: FBI

Nachdem im Sommer 2002 das FBI den Mikrobiologen Stephen Hatfill als Hauptverdächtigen benannte und offen überwachte, ohne aber eine Anklage gegen ihn zu erheben, schwenkte ab 2004 der Verdacht auf den Mikrobiologen Bruce Ivins. Ivins wurde von dem FBI ebenfalls offen beschattet, seine Familie unter Druck gesetzt, sein Haus zweimal durchsucht. Er verfiel zunehmend dem Alkohol. Am 29. Juli 2008 beging Ivins Selbstmord. Wenige Tage später bezeichnete das FBI Ivins als Person, die alleine für die Anthrax-Anschläge verantwortlich war, und präsentierte Beweise. Der Staatsanwalt erklärte, dass man anhand der existierenden Beweise die Schuld von Bruce Ivins ohne jeden Zweifel belegen könnte.

Der jahrelang öffentlich gebrandmarkte Stephen Hatfill erhielt rund 5,6 Millionen US-Dollar Schadensersatz (Das Anthrax kam vom Militär). Im Februar 2010 stellte das FBI und das US-Justizministerium die Untersuchung zu den Anthrax-Morden endgültig ein und bestätigte, dass Bruce Ivins der alleinige Täter gewesen sei (FBI schließt endgültig Anthrax-Fall).

Anklage des Chefermittlers

Niemand anderes als Richard Lambert, der von 2002 bis 2006 die FBI-Untersuchung der Anthrax-Morde leitete, erklärt nun, dass das FBI eine "gigantische Menge (für Ivins) entlastender Beweise" gefunden hatte, die aber bis heute geheim gehalten wurden. Es könne theoretisch möglich sein, dass Ivins tatsächlich der Täter gewesen ist, glaubt Lambert. Aber er ist überzeugt, dass es dem FBI niemals gelungen wäre, Ivins Schuld zweifelsfrei zu beweisen, wäre es tatsächlich zu einer Gerichtsverhandlung gekommen.

Vor wenigen Tagen reichte Lambert eine Klage gegen einige Mitarbeiter des US-Justizministeriums und des FBI ein. Er wirft den Beschuldigten Amtsmissbrauch und grobe Fahrlässigkeit vor. Während Lambert die Untersuchung leitete, stieß er auf Unnachgiebigkeit seiner Vorgesetzten, Teilnahmslosigkeit und Fehler des FBI-Labors und politisch motivierte Kommunikations-Embargos seitens der FBI-Zentrale. Dies alles habe die Untersuchung in sehr hohem Masse behindert und erschwert.

Bereits 2006 hatte Lambert intern einen Whistleblower-Bericht an den Stellvertretenden Direktor des FBI geleitet, in dem er das Missmanagement der Untersuchung anprangerte. Die dort aufgeführten Kritikpunkte finden sich auch in der Klageschrift. So kritisierte er in dem Whistleblower-Bericht die permanente Unterbesetzung. Zudem bestand das Untersuchungsteam hauptsächlich aus Agenten, die gerade die Ausbildung beendet hatten. Die Mitarbeiter blieben durchschnittlich nur 18 Monate. 12 von 20 Agenten hätten überhaupt keine Ermittlungserfahrung gehabt. Für die "wichtigste Untersuchung in der Geschichte des FBI" kaum optimale Voraussetzungen, um den Mörder in diesem hochkomplexen Fall zu finden.

Ein weiterer Punkt des Whistleblower-Berichts und der Klageschrift ist die absichtliche Geheimhaltung des FBI-Labors vor dem Untersuchungsteam, dass menschliche DNA auf dem mit Anthrax gefüllten Briefumschlag an Senator Patrick Leahy gefunden worden war. Ebenso die Weigerung des Labors, zügige und angemessene wissenschaftliche Analysen und forensische Untersuchungen durchzuführen.

2008 verbot das FBI Richard Lambert mit dem Fernsehsender CBS zu sprechen, die einen Dokumentarfilm über die Anthrax-Untersuchung planten. Ein Teil von Lamberts Whistleblower-Bericht wurde jedoch in dem ausgestrahlten Bericht angeführt, der das FBI in ein sehr kritisches Licht rückte.

Lambert schied 2012 beim FBI aus dem Dienst aus. Sein Versuch im Energieministerium eine Stelle anzutreten, scheiterte an einer Intervention des FBI. Insgesamt gelang es Lambert nicht, einen neuen Beruf zu finden, obwohl er sich auf 70 Stellen beworben hat. Daher beinhaltet seine Klageschrift auch, dass dies das Resultat einer Vergeltungsmaßnahme des FBI wegen seiner kritischen Haltung sei.

Anthrax-Sporen. Bild: Pentagon

Viele Gründe für Zweifel

Seit Jahren gab es massive Zweifel an der Behauptung des FBI, Bruce Ivins sei für die Anthrax-Morde verantwortlich. Immer wieder hatten Mikrobiologen darauf hingewiesen, dass Ivins gar nicht die Möglichkeit gehabt hätte, das in den Mordfällen benutzte Anthrax selber herzustellen. Ebenso konnte das FBI nie nachweisen, wie Ivins den entsprechenden Briefkasten, in dem die Anthrax-Briefe eingeworfen wurden, auch nur theoretisch zur Tatzeit hätte erreichen können, um die Mordwaffe auf den Postweg zu bringen (Das Anthrax kam vom Militär).

Bereits einen Tag, nachdem das FBI den toten Ivins als Einzeltäter präsentiert hatte, forderten die New York Times, die Washington Post und das Wall Street Journal eine unabhängige Untersuchung. Am selben Tag verlangten auch Senator Charles Grassley und der Abgeordnete Rush Holt eine Untersuchung der FBI-Untersuchung. Doch die US-Regierung lehnte dieses Ansinnen zuletzt im August 2010 ab.

Geschicktes Ausnutzen politischer Möglichkeiten

Die US-Regierung erwies ein erstaunliches Geschick, um die akute Panik, in der sich die USA nach den Anschlägen des 11. Septembers befand, für die eigene politische Agenda auszunutzen. Nur acht Tage nach den Anschlägen wurde dem Kongress die erste Fassung des US-Patriot-Act zur Abstimmung vorgelegt. Das 342 Seiten lange Gesetz, das die bürgerlichen Freiheiten massiv einschränken würde, sollte im Eiltempo durchgewunken werden. Tom Daschle, der demokratische Mehrheitsführer im Senat, war damit ebenso wenig einverstanden wie der demokratische Senator Patrick Leahy. Sie drohten, dass sie am 3. Oktober 2001 dem Gesetz die Zustimmung verweigern würden. Beide erhielten am 15. Oktober einen mit Anthrax gefüllten Brief (Poststempel: 7. Oktober). Bei der Annahme des US-Patriot-Act am 24. Oktober, auf dem Höhepunkt der landesweiten Anthrax-Angst, befürworteten die beiden Senatoren dann die neue Gesetzesvorlage.

Es gab auch weitere Versuche, politisches Kapital aus den Anthrax-Morden zu schlagen. In den Wochen der Anschläge machte das Weiße Haus Druck auf das FBI, um Al-Qaida für die Anthrax-Fälle verantwortlich zu machen. Aber auch der Irak sollte als Schuldiger identifiziert werden. Während der damalige US-Präsidenten George W. Bush eine mögliche Verbindung zwischen Al-Qaida und Anthrax erwähnte, bemühten sich andere Falken aktiv, unter anderem der ehemaligen CIA-Direktor Jim Woolesy, Beweise für die Verantwortung Saddam Husseins zu finden.

Das Bemühen hat einen gewissen Erfolg. Ende Oktober 2001 befürwortete eine breite Mehrheit der Bevölkerung eine Erweiterung des "Kriegs gegen den Terror" auf den Irak. Wenig später vermehrten sich aber die eindeutigen Beweise, dass das in den Mordanschlägen verwendete Anthrax aus dem militärischen Geheimlabor USAMRIID in Fort Detrick, Maryland, USA stammte. So geschickt und zum großen Teil erfolgreich das Ausnutzen der Anthrax-Morde war, so verblüffend war gleichzeitig die Behinderung und Verhinderung der Aufklärung der Morde.

Neben den von Lambert genannten Punkten, gibt es weitere Verhaltensweisen des FBI, die Unglauben auslösen. Nur wenige Tage nach den Anthrax-Morden erlaubte das FBI die Zerstörung der Orginal-Zuchtlinie der Anthrax-Bakterien, die bei den Mordbriefen verwendet wurde. Die sogenannten Ames-Sporen befanden sich in der Universität von Iowa. Deren Zerstörung sollte jedoch, kaum überraschend, die Rückverfolgung der verwendeten Bakterien und damit die Entdeckung des Ursprungsortes deutlich erschweren.

Manchmal zeigte das FBI ein geradezu erstaunliches Desinteresse. Ganze sieben Monate benötigte das FBI zur Überprüfung nur einiger hundert Briefkästen, um schließlich den Briefkasten zu finden, in den die tödliche Post ursprünglich geworfen worden war. Den Agenten, die Bruce Ivins rund um die Uhr überwachen sollten, entging wohl, dass er sich eine Überdosis eines Schmerzmittels besorgt hatte. Nach seinem Tod verzichtete das FBI auf eine Autopsie. Der damalige Vize-Präsident Dick Cheney war etwas aufmerksamer. Seine Angestellten wurden am Abend des 11. Septembers angewiesen, Cipro einzunehmen, ein Anthrax-Antidot.

Eine unabhängige Untersuchung

Ein nachgewiesener Fall von Terror, der aus den USA stammt. 5 Tote und große politische Auswirkungen, ein offenkundiges Desinteresse des FBI sowie aktive Behinderung der Untersuchung und eine Reihe von Merkwürdigkeiten. Lamberts Klage ist der letzte und größte Grund zu unterstreichen, dass die Anthrax-Morde nach wie vor nicht in einer Art und Weise geklärt worden sind, die den Ansprüchen eines Gerichtsverfahrens genügen.

Die These, Ivins sei der Täter, ist mehr denn je nur eine unbewiesene Behauptung. Eine neue unabhängige Untersuchung, die den Ansprüchen eines Rechtsstaats Genüge tut, wäre zwingend erforderlich. Die Mordopfer und nicht zuletzt auch die Familie von Bruce Ivins verdienen eine vollständige Aufklärung, aber auch die Nation und die Weltöffentlichkeit.