USA: Wachsende Instabilität
12 Thesen zum politischen System
Die "colour-line" in den USA verschwand nie - sie wurde nur mit Krediten überdeckt. Mit dem erneuten Aufbrechen geraten die USA zunehmend an den Rande der politischen Erneuerungsfähigkeit.
Die "Farbigen" werden in den USA in den nächsten Jahrzehnten die Mehrheit der Bevölkerung stellen. Gleichzeitig zeigen soziale, wirtschaftliche und politische Indikatoren eine gesellschaftliche Spaltung entlang der "colour-line". Es entstehen zunehmend ethnisch ausgerichtete Strömungen, die nur eine geringe Kompromissfähigkeit aufbringen. Damit gerät das politische System der "checks and balances" an seine Grenzen. Wird das Rassenproblem nicht gelöst, steuern die USA langfristig auf eine tiefe gesellschaftliche Krise zu. Allerdings zeigen weder Demokraten noch Republikaner den Willen zu einem wirklichen gesellschaftlichen Wandel.
- Die Einheit der USA wirkt auch durch den "eindeutigen" Sieg Obamas bei den Präsidentschaftswahlen deutlich überzeichnet. Das seit der Gründung der USA im Kern nicht reformierte Wahlsystem mit indirekter Wahl des Präsidenten und Mehrheitswahlrecht reflektiert nur oberflächlich die zunehmend divergierenden inneren Kräfteverhältnisse. Landesweit betrug der Stimmenvorsprung des Präsidenten nur 4%. Es war kein Sieg Obamas, sondern ein Patt zugunsten der Demokratischen Partei.
- Das blockierende Gleichgewicht der Kräfte unterstreichen auch die Ergebnisse der parallelen Wahlen zum Senat und Repräsentantenhaus. Im neugewählten Repräsentantenhaus verschoben sich die Gewichte zwar leicht in Richtung Demokraten, die Republikaner verfügen aber nach wie vor über eine stabile Mehrheit. Bei den neugewählten Senatoren (33 von 100) dominierten die Demokraten. Sie besaßen aber bereits vorher die Mehrheit in dieser Kammer. Das seit über zwei Jahren blockierende Patt zwischen den zentralen politischen Strömungen bleibt bestehen.
- Die Gründerväter der USA etablierten ein System der sogenannten checks and balances. Keine Institution sollte mächtig genug sein, alleine - ohne Kompromisse - größere Entscheidungen treffen zu können. Parallel dazu wurde die Entstehung dauerhafter Parteistrukturen wie in Europa gezielt behindert - u.a. durch indirekte Wahlen und einen starken Föderalismus. In den letzten Jahrzehnten geriet das System an seine Grenzen. Die Fähigkeit, gesichtswahrende Kompromisse zu schließen, ging verloren. In zentralen Fragen der Sozial-, Wirtschafts- und Steuerpolitik konnten trotz zunehmender wirtschaftlich-sozialer Ungleichwichte wenn überhaupt nur minimale Kompromisse erzielt werden.
- Für die Analyse der Ursachen ist es aber zu einfach, nur auf die Entwicklung der Republikaner zu schauen. Sicherlich hat die Verhärtung der Parteipositionen durch die Radikalisierung der Basis erheblich zur Kompromissunfähigkeit beigetragen. Die Ursachen allerdings liegen tiefer. Die Gesellschaft der USA durchläuft einen tiefgreifenden Wandel, der sich insbesondere in vier sozialen Dimensionen niederschlägt.
- Bevölkerungsverteilung Die USA sind durch eine anhaltende Netto-Migration von 900.000 bis zu 1,7 Mio. Menschen pro Jahr seit den 1990er Jahren sowie einer Fertilitätsrate nur knapp unterhalb des Reproduktionsniveaus geprägt. Die Einwanderung erfolgt aber nicht gleichmäßig, sondern vor allem in den Süden der USA sowie in die Küstenregionen. Gleichzeitig beschleunigt sich der innere Prozess der Verstädterung. Seit den 2000er Jahren leben über 80% der US-amerikanischen Bevölkerung in Städten. Gleichzeitig konzentriert sich die urbane Bevölkerung in immer größeren Ballungsgebieten.
- Ethnische Zusammensetzung Seit den 1950er Jahren verschiebt sich die ethnische Zusammensetzung der USA. Derzeit stellt die europäisch-stämmige "weiße" Bevölkerung die Mehrheit. Allerdings schätzt das US-amerikanische Statistikbüro, das voraussichtlich bis 2050 die "nicht-hispanisch weiße" Bevölkerung nur noch die größte Minderheit stellt. Interessanterweise hängt die Stärke dieser Entwicklung wesentlich mit der anhaltenden Migration zusammen. Fände bis 2050 keine Einwanderung statt, könnte die "kaukasische" Bevölkerung weiterhin die Mehrheit stellen. Die hohe Geburtenzahl pro Frau bei den Hispanics beschleunigt den Wandlungsprozess zwar, ist aber nicht die zentrale Ursache.
- Ökonomische Entwicklung Die anhaltende Wirtschaftskrise in den USA führt zu einer massiven ökonomischen Verschlechterung der Haushalte. Einkommen und Vermögen sinken seit 2000 kontinuierlich. Die besondere Herausforderung liegt in der sehr unterschiedlichen Partizipation der Ethnien am Wohlstand. Ein durchschnittlicher weißer Haushalt hat nicht nur ein deutlich höheres Einkommen, sondern besitzt im Verhältnis zu hispanischen und schwarzen Haushalten das 20-fache an Vermögen. Trotz Herausbildung einer "farbigen" Mittelschicht ist die "colour-line" nie verschwunden. Mit der Wirtschaftskrise wird sie wieder sichtbar(er) - wie vor den 1970er Jahren.
- Werte und Religionsangehörigkeit Fast unbemerkt von der europäischen Öffentlichkeit beginnt auch in den USA langsam ein Erstarken laizistischer Strömungen. Die Zahl der Konfessionslosen und Atheisten - mit all ihren Spielarten - beträgt bis zu 40% der Bevölkerung. Besonders bei den Jüngeren liegt der Anteil sehr hoch. Sichtbar wird der dahinterstehende Wertewandel auch an der zunehmenden Legalisierung von gleichgeschlechtlichen Partnerschaften und an den positiven Abstimmungen über die Legalisierung weicher Drogen in mehreren Bundesstaaten.
- Die Demokraten haben es geschafft sich auf die veränderten Realitäten besser einzustellen. Sie dominierten in den großen Städten und sprachen die "neuen" politischen Strömungen an - Umwelt-, Frauen- und Homosexuellen-Bewegung, die wachsende Gruppe der Atheisten/Konfessionslosen und auch die neuen sozialen Bewegungen (bsp. Occupy Wallstreet). Gleichzeitig konnten sie die ethnischen Minderheiten für sich gewinnen. Die Republikaner vertreten derzeit für die oben genannten Gruppen nicht akzeptable Positionen. Entsprechend stark ist die Partei dagegen in ländlichen Gebieten mit konservativ-religiösem Weltbild, vor allem im sogenannten "bible-belt" und dem Mittleren Westen. Spiegelbildlich dominieren die Demokraten die großen Städte des Nordens und Westens der USA. Soziale Indikatoren wie Bildungsstand und Einkommen zeigen am Wahlverhalten, dass die Wirtschafts- und Sozialpolitik Obamas in den unteren Schichten auf breite Akzeptanz trifft. Die Republikaner vertreten hingegen eine auf die (obere) Mittelschicht bzw. die Oberschicht ausgerichtete Politik. Entsprechend stark ist der Zuspruch aus diesen sozialen Schichten.
- Das Wahlergebnis verdeutlicht eine tiefe Spaltung im Wahlverhalten der Ethnien. Während fast 60% der Weißen Mitt Romney wählten, gaben nur 40% Obama ihre Stimme. Hier greifen soziale, ethnische und geographische Faktoren ineinander. Die Mehrheit der Weißen lebt in ländlichen Gebieten bzw. in Kleinstädten und hat bei allen Zukunftsproblemen mehrheitlich ein akzeptables Auskommen. Bei den Farbigen ist es umgekehrt. Die ethnischen Unterschiede werden zunehmend durch religiöse und soziale Faktoren verstärkt. Politische Strömungen wie die Tea Party zeigen eine deutliche Radikalisierung der Weißen. Mit zunehmender Härte - teilweise religiös verbrämt - wird gegen den (Sozial-)Staat vorgegangen. Dahinter steht auch ein ethnischer Verteilungskonflikt. Steuern können nur die zahlen, die Vermögen und Einkommen besitzen. Das sind primär die Weißen. Die Bedürftigen hingegen, kommen zunehmend aus anderen Ethnien.
- Interessant ist hierbei, dass Obama in wesentlichen Bereichen keine wirkliche Alternative zu den Republikanern bietet. Keine der beiden Parteien steht für eine Erneuerung des Wirtschaftssystems USA. Die Demokraten wollen den Erhalt eher durch eine partielle Ausweitung des Sozialstaates erreichen und sind dabei auch bereit in bescheidenem Umfang die Steuern zu erhöhen. Die Republikaner hingegen bevorzugen einen partiellen Abbau des Sozialstaates sowie das Einfrieren der Besteuerung auf jetzigem Niveau, inkl. der Steuersenkungen von Bush Junior. Die Verschuldungsdebatte war/ist in weiten Bereichen nur Mittel zum Zweck. Keine der Seiten will ernsthafte Kürzungen für Staatssubventionen von Banken und Energieunternehmen, im Militärbereich oder bei Forschungsprogrammen.
- Das System der "checks and balances" braucht für seine Funktionsfähigkeit den Willen aller Beteiligten zum Kompromiss. Die Beseitigung der (ökonomischen) "colour-line" wird eine der zentralen Herausforderung der USA. Sollten sie es nicht schaffen diese sozial-ethnische Spaltung zu mindern, besteht die Gefahr einer dauerhaften Steuerungsunfähigkeit des politischen Systems - befördert durch ethnisch und religiös unterschiedlich ausgerichtete Parteien bzw. Konflikte zwischen den Ethnien. Ein besonderes Zeichen könnte das Wahlverhalten im Süden der USA wie in Texas, Arizona und Louisiana sein. Der Wahlsieg der Republikaner wurde dort nur durch ein fast geschlossenes Wahlverhalten der Weißen ermöglicht. Der vielbesprochene politische Riss durch die USA ist tiefer - und betrifft damit die ganze Struktur -, als die Europäer und auch viele US-Amerikaner wahrhaben wollen.
Kai Kleinwächter ist Mitarbeiter der Redaktion von WeltTrends - Zeitschrift für internationale Politik. Im Dezember erschien das WT-Spezial 9: "Four more Years - Die Präsidentschaftswahlen in den USA".