"Über die Identität der Gläubiger des Schuldners Staat wird nie gesprochen"

Gespräch mit dem Soziologen Hans Jürgen Krysmanski über globale und nationale Macht- und Funktionseliten. Teil 2

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Teil 1: Wer die Fäden zieht

Wie schätzen Sie die Macht des Militär bei der Einflussnahme durch die Eliten ein? Spielen hier Geheimorganisationen wie Gladio eine Rolle? Welche Rolle spielen dabei scheinbar so weit getrennte Institutionen wie Geheimdienste und Kultur?

Hans Jürgen Krysmanski: In allen Ländern Europas steckten dem Militär noch lange Zeit die Schrecken des Zweiten Weltkriegs in den Knochen. Die unbelehrbare Kriegerkaste musste in Winkeln und Geheimorganisationen wie Gladio auf "bessere" Zeiten warten. Erst jetzt, und die Kundus-Affaire ist dafür ein Beispiel, fallen die Hemmungen der Militärapparate (samt Rüstungswirtschaft) und sie verlangen nach mehr Partizipation an der politischen Macht. In den USA war das anders. Zum Konzept einer Pax Americana gehörten auch Militärapparat und Kriegswirtschaft. Dort war das Militär, bestärkt durch den Weltkriegssieg und beschleunigt durch den Koreakrieg, nach 1945 fast selbstverständlicher Teil der Machtelite geworden. Der amerikanische Soziologe C. Wright Mills hat das schon 1956 in seinem noch heute lesenswerten Buch "The Power Elite" ausführlich beschrieben. Auch die Warnung Dwight D. Eisenhowers am Ende seiner Präsidentschaft vor einem Militär-Industrie-Komplex und die Protestbewegungen gegen einen "Pentagon Kapitalismus" in den Sechzigern und Siebzigern fanden ja nicht in einem luftleeren Raum statt. Generäle und Rüstungsindustrie stellen bis heute und sogar in wachsendem Maße ein Machtzentrum dar, dem sich die amerikanische Politik nicht entziehen kann.

Man denke nur an das absolut wahnsinnig aufgeblähte Militärbudget. Darin wird ja beispielsweise auch das aus den Zeiten des Manhattan-Projekts zum Bau der Atombombe stammende sogenannte "Black Budget" mitgeschleppt: ein Geheimanteil des Pentagon-Budgets von 25 Prozent, aus dem quasi eine militärische Parallelregierung finanziert werden kann. Damit ist auch gerade Obama konfrontiert. Dieser Militärapparat wird derzeit zu einer weltumspannenden High-Tech-Kampfmaschine umgebaut, die in die Lage versetzt werden soll, zu jeder Zeit und an jedem Ort zentrale Machtstrukturen staatlicher und nichtstaatlicher Gegner "chirurgisch" auszuschalten. Seymour Hersh, der u.a. die Folterungen in Abu Ghraib aufgedeckt hat, sagt von solchen "elite assassination"-Programmen: "Diese Leute sind in bestimmte Länder gekommen, haben weder mit dem US-Botschafter noch mit dem örtlichen CIA-Chef Kontakt aufgenommen, haben bestimmte Leute, die auf ihrer Liste standen, aufgespürt, exekutiert und sind wieder verschwunden.“

Vielfältigste Interessengensätze innerhalb der Kapitalistenklasse

Zur Frage nach konspirativer Kulturpolitik: Über die Rolle der Geheimdienste (und auch des Militärs) in der kulturellen Hegemoniepolitik des Westens ließe sich natürlich vieles sagen. Dass auch hier die USA Vorreiter waren und sind, liegt auf der Hand. Das reicht vom einst im verdeckten Auftrag der CIA operierenden Congress of Cultural Freedom (der in der Nachkriegszeit in Europa Kultur- und Kunstförderung betrieb und die gesamte Intellektuellenszene prägte) über die wachsende Beteiligung des Pentagon an der Produktion von Hollywood-Blockbusters bis zur immer gezielteren Einflussnahme auf die Entwicklung von Computerspielen. Aber das ist wirklich ein weites Feld.

Sie machen in ihrem Buch einen Konflikt in den USA zwischen der alten Elite, deren Macht auf den Besitz von Öl basiert und einer neuen Elite, deren Reichtum und Einfluss auf der Generierung neuer Techniken wie den PC oder das Internet fußt. Besteht dieser Konflikt auch momentan und wie äußert sich dieser?

Hans Jürgen Krysmanski: So einfach steht das im Buch nicht. Es gibt eben vielfältigste Interessengegensätze innerhalb der Kapitalistenklasse (das ist immer noch ein nützlicher Begriff). Es gab schon immer Konflikte zwischen Finanz- und Industriekapital, zwischen Schwer- und Leichtindustrie, zwischen Rüstungs- und Friedenswirtschaft. Der Konflikt zwischen "Öl"- und "Internet"-Eliten durchzieht die letzten zwanzig Jahre. Da standen sich eben zuletzt ein kaum des Keyboards mächtiger Bush Junior und Elektronik-Freaks wie Al Gore gegenüber. Das alles hat einen realen Hintergrund, für den auch diese beiden Figuren stehen. Einerseits geht es um unsere reale Welt, unseren Planeten mit seinen Ressourcen, seiner Ökosphäre, sozusagen um die handfeste, stoffliche Seite der Reproduktion von Gesellschaft. Andererseits aber ist unser Planet auch eine Sphäre allgemeiner Kommunikation, nicht zuletzt auch weltumspannender Finanztransaktionen und – was mir viel sympathischer ist - ein Raum unübersehbar vielfältiger kultureller und massenkultureller Äußerungen.

Auf dieser kommunikativen Ebene von Macht und Hegemonie geht es nicht mehr allein um den Stoffwechselprozess zwischen Gesellschaft und Natur (also krass: um den Kampf ums Öl, oder progressiv: um die Rettung der Ökosphäre), sondern um kulturelle Entwicklungen und Perspektiven. Die Frage ist dann zum Beispiel, steht die Obama-Administration wirklich für diese zweite Ebene, auf der sie sich eingeführt und vielleicht sogar angebiedert hat? Und da kommen wir dann zu den interessanteren strategischen Fragen einer Klassenauseinandersetzung, die nicht innerhalb der Eliten, sondern tatsächlich zwischen "oben" und "unten" stattfindet. Deshalb möchte ich die Gelegenheit wahrnehmen und hier G. William Domhoff zitieren, Autor des seit Jahrzehnten immer wieder Neuauflagen erfahrenden Bestsellers "Who Rules America?": „Werden die Fehlschläge in der Kriegführung (also ein Ausbleiben einer Vereinbarung mit dem Iran und eine weitere kriegerische Politik im Irak, in Afghanistan und Pakistan) die USA im Inneren weiter destabilisieren? Wird sich die gegenwärtige Große Rezession weiter verschlimmern? Wird sich dadurch eine Kultur des Widerstands links von Obama entwickeln? Wird man auf den brutalen Sozialdarwinismus der politischen Cowboys hereinfallen oder die richtige Mischung aus Strategie und Taktik finden und eine ökonomische Vision, die für eine signifikante Minderheit aus Arbeitern und Liberalen attraktiv ist, formulieren?“

System der unverdienten Geldakkumulation muss erhalten bleiben

Gleichfalls haben sie Antagonismen zwischen den amerikanischen und arabischen Fraktionen des Kapitals erforscht, die aber gleichzeitig in Firmenkonsortien wie der Carlyle-Group Seit` an Seit` stehen. Wie geht das zusammen?

Hans Jürgen Krysmanski: Pack schlägt sich, Pack verträgt sich. Das gilt für alle Schichten und insbesondere dort, wo es um die kapitalistische Verwertungskonkurrenz, um die Befriedigung der Profitgier geht. Das System der unverdienten Geldakkumulation muss erhalten bleiben, das geht nur durch Bündnisse zwischen den Akteuren. Aber dann geht das Hauen und Stechen los, nicht nur zwischen amerikanischen, europäischen, arabischen, asiatischen usw. Kapitalfraktionen, sondern auch innerhalb der Konzernwelt selbst: zwischen Banken und Industrie, zwischen Managern und Anteilseignern. Joussef M. Ibrahim, ein Sprecher reicher Investoren und shareholder aus der arabischen Welt, ging schon 2004 in einem Artikel in der International Herald Tribune mit den Konzerneliten der westlichen Welt ins Gericht, die sich Hunderte von Millionen Dollar in die Taschen steckten, während der Wert ihrer Konzerne durch Unehrlichkeit und Inkompetenz in den Keller sank. Er schrieb: „Diese Lenker gigantischer Konzerne sind Mitglieder eines winzigen Clubs, welcher die gewöhnlichen Investoren am ausgestreckten Arm verhungern lässt. Schlimmer noch, die großen Banken und Investmentfirmen helfen jenen Bossen dabei, die Spuren zu verwischen. Sie fliegen Privatjets, bezahlt von den shareholders, sie genehmigen sich Privatlogen bei großen Sportereignissen und Shows. Sie sind Freunde, die zusammen tafeln, während sie von Aufsichtsratssitzung zu Aufsichtsratssitzung ziehen. Ein fauler Gestank breitet sich aus in den Führungsetagen der größten Konzerne. Und am Horizont zeichnet sich eine gewaltige Revolte der shareholder ab.

Die Praktiken der Konzerneliten bedrohen die globale Ökonomie. Es ist an der Zeit für die Reichen, die, wie beispielsweise die Araber, hunderte von Milliarden ihres Vermögens in diese großen Konzerne investiert haben, ihren Bankiers ein paar harte Fragen zu stellen: Wo ist mein Geld und was macht ihr damit?“ Die Carlyle-Group steckt da mitten drin – aber über die ist schon viel geschrieben worden. Und die Bushs und ihre arabischen Freunde grinsen sich immer noch an auf den Gala-Dinners der Carlyle-Group.

Bin Laden steht für das arabische Großkapital

Darüber hinaus kann man durchaus die begründete Vermutung haben, dass die gesamte Machtmaschinerie des Kampfes gegen den Terrorismus nicht zuletzt angeworfen worden ist, um mit den konkurrierenden Kapitalen, den Geldmächten des arabischen und asiatischen Raumes, fertig zu werden. Osama bin Laden mag zwar für den fundamentalistischen Islamismus sprechen, aber er steht verteilungspolitisch für Teile des arabischen Großkapitals. Auf diese Zusammenhänge verweist beispielsweise Loretta Napoleoni mit ihrem Buch "Modern Jihad. Tracing the Dollars Behind the Terror Networks".

SWIFT

Oder man denke an die jetzt durch die EU "legalisierte" Bespitzelung der "Society for Worldwide Interbank Financial Telecommunication" (SWIFT). Diese in Belgien angesiedelte Kooperative des internationalen Finanzkapitals bewegt täglich in 11 Millionen Transaktionen 6 Billionen Dollar zwischen 7800 Banken, Börsen, Investmentfirmen und anderen Finanzinstitutionen weltweit. SWIFT ist damit die Dienstleistungszentrale des globalen Finanzmarkts. Und nun wird durch das nunmehr verbriefte Spitzelrecht der Amerikaner demonstriert, dass der Reichtum Europas nicht allein Europas Reichen gehört – was allerdings wiederum Europas Superreichen, die ohnehin global agieren, piepegal sein dürfte.

Chance für Systemwandel

Können Sie in der obersten Oberschicht der EU und der Bundesrepublik ähnliche Spannungen ausmachen?

Hans Jürgen Krysmanski: Selbstverständlich. Wo Macht sich konzentriert, gibt es auch Machtkämpfe. Man denke an die Fehden des Feudalismus. Wenn man etwas verändern will, muss man sich mit diesen Konfliktstrukturen und Spannungen beschäftigen. Und dabei ist es ganz wichtig, zwischen dem Geldadel, den Superreichen, auf der einen Seite und ihren Funktionseliten – den Konzern-, Finanz- und Militäreliten, der politischen Elite, den Wissens-, Verwaltungs-, Wohlfühleliten – auf der anderen Seite zu unterscheiden. Mag der Geldadel seine teilweise völlig irrationalen Konflikte und Eitelkeiten doch unter sich austragen. Eine Veränderung des Systems ist von denen ohnehin nicht zu erwarten. Was natürlich nicht ausschließt, dass es auch unter den europäischen Superreichen interessante, verantwortungsvolle Personen und Gruppen gibt.

Aber meiner Ansicht nach besteht die Chance für einen Systemwandel eher darin, die in der gegenwärtigen Krise durcheinandergerüttelten Funktionseliten, welche den Herrschaftskomplex ja in stillen Stunden ganz gut durchschauen (und auch in der ständigen Gefahr stehen, degradiert zu werden), dazu zu bewegen, über ihre eigene Rolle in diesem System nachzudenken. Sie kennen sich ja aus im Milieu. Sie können mit der vorhandenen Wissensmaschinerie umgehen. Sie könnten sich eigentlich in der großen Tradition der Aufklärung wiederfinden, die den Feudalismus zu Grabe trug. Irgendwie brauchen wir für eine demokratische, wissenschaftliche, planvolle Überwindung von Klassenherrschaft auch die Expertise dieser Funktionseliten. Und gerade mittels der neuen Informations- und Kommunikationstechnologien könnten sie dazu beitragen, ein globales Netzwerk friedlicher Assoziationen, Projekte, Organisationen usw. aufzubauen, in dem, wie es im Kommunistischen Manifest heißt, die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist.

Vielfalt der möglichen Eigentumsformen

Sie schreiben in Ihrem Buch, dass die Eliten sowohl neue Eigentumsverhältnisse setzen (Stichwort Patente) als auch alte Zerstören (Stichwort Privatisierung). Können Sie uns mehr darüber erzählen? Welche Rolle spielt dabei der Cyberspace?

Hans Jürgen Krysmanski: Ja, das ist eben die Dialektik der Geschichte. Ohne dialektisches Denken (das gerade wegen des Cyberspace und seiner sowohl virtuellen als auch realen Dimensionen eine große Zukunft vor sich hat) werden wir die Entwicklung unserer Geschichte nicht verstehen. Klare, rechtlich abgesicherte Eigentumsverhältnisse sind eine kulturelle Errungenschaft. Gleichzeitig zerstört kapitalistisches Eigentum, obgleich gerade dieses Eigentum nur auf der Basis von Rechtsverhältnissen entstehen konnte, durch seine Zügellosigkeit eben dieses Recht (Gunnar Heinsohn/Otto Steiger). Privatheit, Individualisierung sind historische Errungenschaften, gleichzeitig werden wir alle durch das Pochen auf die Privatisierung aller Güter systematisch enteignet.

Übrig bleibt eine Handvoll superreicher Privatleute, die allein noch über sich selbst verfügen und in diesem Sinne der verbleibende Souverän sind. Vor diesem Hintergrund geht es letztlich darum, die Vielfalt der möglichen Eigentumsformen wieder zu entdecken. Beim Eigentum geht es ja nicht nur um Enteignung und Aneignung, sondern auch um Teilen, Schenken usw. Es geht vor allem um neue Formen des genossenschaftlichen Eigentums. Auch hier spielt das Internet eine entscheidende Rolle. Denn mittels Cyberspace haben wir begonnen, uns diese Welt auf eine neue Weise wieder anzueignen. Das Wirtschaftsmagazin brandeins titelt: "Wissen ist der erste Rohstoff, der sich bei Gebrauch vermehrt". Deshalb finde ich – wenn man die dialektische Sichtweise nicht vergisst – zum Beispiel Google oder Wikipedia so wichtig. Das sind erste Schritte in eine historisch neue und vielversprechende Richtung der gesellschaftlichen Nutzung von geistigem Eigentum und damit von Eigentum überhaupt (Jeremy Rifkin).

Michael Hardt und Antonio Negri schreiben in ihrem Buch "Empire": „Das Recht auf Wiederaneignung [das sie programmatisch fordern] meint zuallererst das Recht auf Wiederaneignung der Produktionsmittel. Die Menge benutzt nicht nur Maschinen zur Produktion, sondern wird auch selbst zunehmend zu einer Art Maschine, da die Produktionsmittel immer stärker in die Köpfe und Körper der Menge integriert sind. In diesem Zusammenhang bedeutet Wiederaneignung, freien Zugang zu und Kontrolle über Wissen, Information, Kommunikation und Affekte zu haben.“

Unsichtbare Gläubiger

Sie vergleichen in ihrem Buch den politisch eingesetzten Mechanismus der Staatsverschuldung mit der "ursprünglichen Akkumulation" bei Karl Marx. Können Sie für unsere Leser darlegen, was damit gemeint ist?

Hans Jürgen Krysmanski: Da muss ich doch mit einem Marx-Zitat antworten: „Die öffentliche Schuld wird einer der energischsten Hebel der ursprünglichen Akkumulation. Wie mit dem Schlag der Wünschelrute begabt sie das unproduktive Geld mit Zeugungskraft und verwandelt es so in Kapital, ohne dass es dazu nötig hätte, sich der von industrieller und selbst wucherischer Anlage unzertrennlichen Mühe und Gefahr auszusetzen.“ (Marx, MEW 23, 787)

Ursprüngliche Akkumulation heißt ja, nicht durch Arbeit, sondern durch Raub, Gewalt, Verbrechen und Korruption, aber auch durch subtile Mittel der Überredung, Verwirrung und allerlei indirekte Betrügereien an Geld zu kommen – also beispielsweise durch finanzielle Zaubertricks usw. Und ist das nicht ein toller Dreh: den Staat und damit die Steuerzahler zu veranlassen, Schulden über Schulden zu machen, und damit ja uns alle zu Schuldnern – ohne dass die Gläubiger sichtbar werden? Über die Identität der Gläubiger des Schuldners Staat wird ja praktisch nie gesprochen. Der Bund hat eine Billion Euro Schulden. Im kommenden Jahr müssen allein für die Zinsen im Haushaltsplan 40,4 Milliarden Euro angesetzt werden. Nach dem Sozialbudget (147 Milliarden Euro) ist dies der zweitgrößte Ausgabeposten im Budget der Bundesregierung. Wer also sind die Gläubiger, die vom Staat, dem sichersten aller Schuldner, Jahr für Jahr sichere 40 Milliarden an Zinsen einheimsen? Es sind nur in kleinem Umfange die Banken selbst, die agieren ja in erster Linie als Vermittler. Tatsächlich landen die Zinsen zum allergrößten Teil in den Taschen der Vermögenden, der Reichen. Das ist eine der sichersten Formen der Umverteilung von Reichtum und der Akkumulation von Superreichtum. Sie steht – mit den Fuggers, den Welsers usw. – am Anfang des Kapitalismus, sie hat sich durch dessen Geschichte geschlichen, und sie steht möglicherweise am Ende des Kapitalismus in seiner bisherigen Gestalt.

Netze der Korruption

Können Sie uns erklären, was Sie unter der "Refeudalisierung der Gegenwart" verstehen?

Hans Jürgen Krysmanski: In dem Augenblick, in dem Reichtum nicht mehr durch Arbeit, durch Produktion, durch die Realwirtschaft erzeugt wird, kehren Abhängigkeitsverhältnisse in die Gesellschaft zurück, die nicht auf dem Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit beruhen, sondern auf Gewalt, Unterjochung, "Gottesgnadentum" usw. Ich rede ja nicht von schlichter Refeudalisierung. Wir können nicht wieder in den gleichen historischen Fluss steigen, die Spirale dreht sich weiter. Gleichwohl hat Jean Ziegler recht, wenn er von einer brutalen, massiven Refeudalisierung spricht, in der die neuen Kolonialherren, die multinationalen Konzerne, sich die Reichtümer der Welt aneignen. Er schreibt: „Diese neue Feudalherrschaft ist 1000 Mal brutaler als die aristokratische zu Zeiten der Französischen Revolution ...“

Ich selbst spreche von einer "kapitalismusbasierten High-Tech-Refeudalisierung". Damit meine ich, dass die meisten geschaffenen Reichtümer nicht mehr über freie Märkte verteilt und umverteilt werden, sondern über riesige, feingesponnene und vor allem hochtechnisch unterfütterte Netze der Korruption, in denen Raubritter, Vasallen, Könige und Leibeigene des elektronischen Zeitalters sich auf gänzlich unökonomische, das heißt auf jeder wirklichen Ökonomie widersprechende Weise die Werte aneignen. Die von der Realwirtschaft abgekoppelten Finanztransaktionen sind alles andere, aber keine "Ökonomie". Und das geschieht zugleich – auch deshalb Refeudalisierung – zumindest Europa in den Kostümen und auf den Schlössern der alten Aristokratie, im höfischen Glanz von Bambi-Galas usw.

Sie unterstellen in Ihrem Buch die Herrschaft von konkreten Personen, einer Elite und zwar in Gestalt einer entsubjektivierten Herrschaft, der Wertform wie geht das zusammen?

Hans Jürgen Krysmanski: Das ist ein alter Widerspruch auch in der linken klassentheoretischen Diskussion. Beschäftigen wir uns mit den Strukturen kapitalistischer Ausbeutung oder blicken wir auch auf die Namen und in die Gesichter der Kapitalisten, der Akteure? Ich denke wir brauchen beide Sichtweisen und wir brauchen ihre dialektische Verknüpfung. Gerade die Schriften von Marx sind dafür ein exzellentes Beispiel. Wer nur vom Neoliberalismus spricht, den es zu bekämpfen gilt, stiehlt sich aus der Verantwortung konkreter politischer Aktionen. Wer nur von den gierigen Bankern redet, denen auf die Finger geklopft werden muss, macht sich lächerlich und verliert sich schließlich im Aktionismus. Herrschaftskonflikte – Klassenkampf, wenn man so will - sind immer beides, Struktur und Handlung, objektiv und subjektiv. Aber wie gesagt, das für diese Frage notwendige computergestützte dialektische Denken und auch ein – warum soll es das nicht geben? – dialektisches Forschen haben die Zukunft noch vor sich.

Sie erwähnen in Ihrem Buch den Künstler Mark Lombardi. Was hat dieser mit ihrer Elitenkonzeption zu schaffen?

Hans Jürgen Krysmanski: Elitenforschung, Power Structure Research, wird nicht nur von professionellen Sozialwissenschaftlern getrieben, sondern auch von Journalisten, watchdog groups, politischen Parteien, Aktivisten in sozialen Bewegungen, Gewerkschaftern, Nerds und sogar von Künstlern. Der amerikanische Maler Mark Lombardi (1951-2000) nahm seinerzeit politische und Finanz-Skandale zum Anlass, großformatige Diagramme der beteiligten Personen und Personengruppen anzufertigen, die einerseits auf dem Kunstmarkt reüssierten, andererseits aber schmutzige Deals und kriminelle Aktivitäten der oberen Zehntausend festhielten. Lombardi hatte sich eine private Datenbank mit über 12 000 Karteikarten angelegt. Seine Kunst überschritt ständig die Grenze zum investigativen Journalismus und zum Verschwörungsdenken, so dass sich vor seinem mysterösen Tod – er wurde erhängt in seinem Atelier aufgefunden - auch das FBI für seine Diagramme zu interessieren begann. Für mich ist Lombardi ein eindrucksvolles Beispiel dafür, dass Power Structure Research auch Graswurzelforschung sein kann.

Zuguterletzt: Wie wird es weitergehen? Werden die Guten siegen und die Bösen unterliegen?

Hans Jürgen Krysmanski: Ich hoffe, dass diejenigen, die sich selbst mittels Medienmacht zu Guten stilisieren, denen, die endlich böse auf dieses ausbeuterische System geworden sind, unterliegen werden.