Wer die Fäden zieht
Gespräch mit dem Soziologen Hans Jürgen Krysmanski über globale und nationale Macht- und Funktionseliten. Teil 1
Hans Jürgen Krymanski ist emeritierter Professor für Soziologie an der Universität Münster und hat sich in seinem Buch "Hirten und Wölfe. Wie Geld- und Machteliten sich die Welt aneignen", das nun in einer zweiter und gründlich überarbeiteten sowie erweiterten Auflage erschienen ist, der Erforschung jener gewidmet, von denen Carl Schmitt in einer lichten Stunden sagte: "Eliten sind diejenigen, deren Soziologie keiner zu schreiben wagt." Inspiriert vom Modell der amerikanischen Herrschaftsstrukturforschung Power Structure Research, rückt er jenen zu Leibe, welche die monetär gefasste Welt regieren, dabei so einflussreich sind, dass sie öffentlich nicht in Aktion treten müssen und dennoch trotz aller Machtfülle gestürzt werden können.
Herr Professor Krysmanski, sie haben sich in ihrem Buch den Superreichen und Eliten gewidmet. Was trennt einen Reichen von einem Superreichen?
Hans Jürgen Krysmanski: Wir hören ja in den Verteilungsdebatten immer wieder, dass Reichtum in unserer Gesellschaft schon bei Monatseinkommen über 5000 Euro und bei Vermögen von über 300 000 Euro beginnt (die Immobilie eingerechnet). Im Reichensteuerkampf lässt sich dann gut Angst schüren ums ererbte Reihenhäuschen und Stimmung machen gegen die "neidvolle" Unterschicht, die nicht arbeiten und trotzdem auch so viel haben will. Interessant wird es natürlich erst bei Jahreseinkommmen von 250.000 Euro (Singles) beziehungsweise 500.000 (verheiratet). Dann kommen die noch besser Verdienenden hinzu, bis hinauf zu den Topmanagern in Industrie und Finanz mit ihren die Millionen- oder auch 10-Millionen-Grenze überschreitenden Gehältern.
Auch Spitzenpolitiker, die einige Jahre auf Parlamentsbänken oder Ministersesseln darben mussten, um dann mit lukrativen Vorstandsposten für geleistete Dienste entschädigt zu werden, spielen eine Rolle in dieser verqueren Verteilungsdebatte. Hier wird mehr verschleiert als aufgedeckt. Nicht, dass da nicht vieles aus dem Ruder liefe. Es ist eben so: Der Kampf um pekuniäre Vorteile reicht von ganz unten bis ganz nach oben, zerstört die soziale Solidarität und erzeugt ein Klima der uferlosen Korrumpierbarkeit. Letztendlich entsteht eine winner-takes-all-Mentalität, eine Ellbogengesellschaft - wobei für viele "winner", vor allem aus dem halbseidenen Bussi-Milieu der Spekulation und Schaustellerei, auch der gelegentliche Absturz vorprogrammiert ist. Nachzulesen in Gala.
"Richistan"
Aber oberhalb dieser ganz gewöhnlichen Gier-Gesellschaft gibt es noch eine Region, die seit jeher die Frau und den Mann auf der Straße und auch Religionsstifter, Philosophen und sogar Ökonomen und Soziologen fasziniert hat. Der Wall Street Journalist Robert Frank nennt diese Region "Richistan" und beschreibt sie ausführlich und amüsant in seinem gleichnamigen Buch. Es ist das Land der Superreichen, vollkommen abgehoben, in einem den ganzen Erdball umspannenden nichteuklidischen Raum schwebend. Die Bewohner des Landes Richistan sind so reich, so superreich, dass unser Planet schon zerplatzen müsste, damit auch sie durch irgendeine Krise ernsthaft gefährdet würden oder gar abstürzten. Die Grenzen von Richistan sind fließend. Und es geht kaum noch um Einkommen, sondern vor allem um Vermögen. In harten Zahlen liegt die Grenze zwischen reich und superreich bei rund 500 Millionen Dollar frei verfügbarem Vermögen (also abzüglich der selbst genutzten Immobilien, der zum Lebensstil gehörenden langlebigen Güter wie Autos, Yachten usw.). Das bedeutet, dass im Kernland von Richistan weltweit rund 10 bis 20 Tausend Superreiche leben, mit einem Vermögen von jeweils über 500 Millionen Dollar. Unter ihnen sind - die Schätzungen gehen weit auseinander - rund 3000 Milliardäre - wohlgemerkt, weltweit und unter Einbeziehung der dunklen Ecken, sozusagen der Rotlichtbezirke von Richistan.
Unterschiedliche Typen von Superreichen
Wichtig und interessant ist nun aber, dass diesen inneren Zirkel (nach konservativer Schätzung) mindestens 100 Tausend "ultra-high net-worth individuals" (UHNWIs) mit Vermögen zwischen 30 und 500 Millionen und 1 Million "high net-worth individuals" (HNWIs) mit Vermögen zwischen 5 und 30 Millionen Dollar umgeben. Hinzukommen, wiederum sehr konservativ geschätzt, rund 10 Millionen HNWIs mit Vermögen zwischen 1 und 5 Millionen Dollar. Diese letzteren Gruppen, die HNWIs, drängen selbstverständlich auch ins Land Richistan, ins Land der Superreichen. Doch die meisten werden an den Grenzen abgewiesen. Diejenigen, die eine Aufenthaltsgenehmigung bekommen, müssen dann oft gehobene Dienstleistungen für die Superreichen erbringen. Wir kennen sie als Spitzenkräfte des Investmentbanking, als Topmanager der Industrie, als Medienmogule usw. - und sogar einige Spitzenärzte, Unterhaltungsstars, Politiker schaffen es, durch die Mauer zu schlüpfen.
Inwiefern hängt Superreichtum und Elitenbildung zusammen? Wie ist diese Elite strukturiert?
Hans Jürgen Krysmanski: Die Erhaltung der Luftschlösser von Richistan hängt genau an diesem Verhältnis von Superreichtum und Reichtum. Während Superreichtum sozusagen ein absoluter Begriff ist, handelt es sich bei Reichtum um eine relative Größe, die unter anderem auch die Eliten, die dienstbaren Funktionseliten umfasst, die aufgrund ihrer Leistungen zur Erhaltung des Gesamtsystems in diese Regionen aufgestiegen sind. Es ist ja schwer, sich das Leben jener Gruppen und Schichten vorzustellen, welche die allerobersten Ränge der Listen des Forbes-Magazins oder der Londoner Sunday Times einnehmen. Was wissen wir schon über die meisten der hundert oder fünfhundert reichsten Amerikaner oder Europäer oder Asiaten. Da gibt es Familien mit über Generationen vererbten (und zum Teil gut versteckten) riesigen Vermögen. Da gibt es neureiche Entrepreneurs und Erfinder aus dem Milieu der neuen Technologien, der Finanzindustrie oder der Massenvermarktung. Und dann die durch korrupte Privatisierungspraktiken aufgestiegenen Oligarchen, Mafia-Milliardäre wie Berlusconi usw.
Diese unterschiedlichen Typen von Superreichen haben zunächst einmal kaum gemeinsame Interessen und Kulturen. Vereint aber sind sie durch das gemeinsame Bedürfnis, ihre zentrale und weitgehend abgedunkelte Stellung in praktisch allen Gesellschaften, also quasi ihre planetarische Stellung zu verteidigen. Und, wie der Name schon sagt, ihren Superreichtum unbegrenzt zu vermehren, vor Umverteilung zu schützen, als das Selbstverständlichste und zugleich Unangreifbarste von der Welt erscheinen zu lassen. Solche Absichten können in unserer komplexen Welt nur mithilfe eines umfangreichen "Dienstpersonals" befriedigt werden.
Immer perfektere Selektionsmechanismen
Und hier kommen unsere Eliten ins Spiel. Sind sie arriviert, so haben sie, wie gesagt, eine Arbeitserlaubnis in Richistan. Und für Nachwuchs wird gesorgt durch all diese Ausleseverfahren des Ranking, des Evaluierens gerade auch in den Bildungssystemen. Diese immer perfekteren Selektionsmechanismen dienen dazu, die Besten und Klügsten für Ausbau und Sicherung der "Infrastruktur" von Richistan zu rekrutieren. Bis vor kurzem jedenfalls strebten aus solchen Gründen die hellsten leeren Köpfe von Harvard, Yale und Stanford in die Zentralen des Investmentbanking, in die Stäbe der multinationalen Konzerne. Auch im Politik-Establishment gibt es entsprechende Positionen, und in den großen Rechtsanwaltskanzleien, in der Wissenschaft, den Medien, der Kultur. Und diese Elitepositionen werfen umso höhere Einkommen und Boni ab, je mehr sie dem Erhalt eines Systems dienen, das immer mehr Beobachter ein plutokratisches System nennen.
Funktionseliten
Vereinfacht gesagt: Funktionseliten sind unentbehrlich für das Weiterbestehen des Superreichtums. Und es wird - zum Beispiel über Förderungseinrichtungen, Stiftungen, Privatisierung des Bildungswesens usw. - alles getan, um diese Funktionalität zu optimieren. Insofern kann man von einem Machtkomplex oder Machterhaltungskomplex sprechen. Im Zentrum dieses Komplexes finden wir den Superreichtum, also die Geldelite oder den Geldadel, der oft sogar ziemlich ahnungs-, funktions- und orientierungslos dahinluxuriert. Für die richtigen Ahnungen, Funktionen und Orientierungen aber steht ein Kranz von Funktionseliten bereit. Konzern- und Finanzeliten, kümmern sich um die Vermehrung des Reichtums. Politische Eliten sorgen für eine Verteilung des Reichtums von unten nach oben unter tunlichster Wahrung des gesellschaftlichen Konsens. Verwaltungs-, Wohlfühl- und Wissenseliten halten diese Gesellschaft des goldenen Kalbs, ihre Infrastruktur, ihre Kultur und Wissenschaft insgesamt am Laufen.
Propagandistische Funktion des Luxuskonsums
Wer von den Superreichen ist öffentlich präsent?
Hans Jürgen Krysmanski: Diese ultimative Oberschicht - um die sich alles dreht und in deren Safes und auf deren Konten der von allen arbeitenden Menschen erzeugte Reichtum zusammenfließt - steckt in einer Zwickmühle. Einerseits möchte sie sich abschotten, in Ruhe und Muße genießen, beispielsweise den gerade für 90 Millionen Dollar ersteigerten Cezanne oder Picasso oder den für 21 Millionen Dollar erworbenen geschnitzten Art Deco Sessel oder die Turns mit der 150-Millionen-Megayacht oder den Rückzug in den Privatpalast an der Côte d"Azur. Andererseits müssen auch die Superreichen sich in dieser Mediengesellschaft auf irgendeine plausible Art rechtfertigen und deshalb auch sehen lassen. Schon von 120 Jahren hat der amerikanische Soziologe Thorstein Veblen auf die propagandistische Funktion des auffälligen Luxuskonsums hingewiesen. Die 500 Tausend Euro teure Extraanfertigung eines Ferrari signalisiert dem Golf GTI Fahrer, dass er "eigentlich", mit einigem Glück, doch "vielleicht" auch einmal in diese Kategorie aufsteigen könnte. Und schon ist dieser junge Mann auf diese Art von Glücksgesellschaft fixiert.
Gute Milliardäre
Aber die Mediengesellschaft will inzwischen durchaus mehr über die Superreichen wissen. Und einige von denen gefallen sich denn auch - und sogar mit einigem Recht - in der Rolle des guten Milliardärs. So trafen sich kürzlich öffentlichkeitswirksam in New York auf Einladung von Bill Gates und Warren Buffett ein Dutzend der reichsten Leute dieser Welt. Milliardäre wie New Yorks Bürgermeister Michael Bloomberg, George Soros, Eli Broad, Oprah Winfrey, David Rockefeller Sr. und Ted Turner redeten über die globale Finanzkrise (unter der sie ernsthaft kaum gelitten hatten), über den Sinn von Philanthropie, aber auch über die wohlfeile Lösung aller unserer Probleme durch Verringerung der Weltbevölkerung. Doch trotz des Wirbels drangen nicht viele Details über den Inhalt dieser Diskussionen an die Außenwelt, dafür nette Bilder und der Eindruck, man könne sich auf den Gemeinsinn der Superreichen schon verlassen. Dieser Art von Propaganda für die Segnungen der Plutokratie dienen auch bei uns Blätter wie "Gala", "Galore" und exklusive, nicht frei verkäufliche Hofzeitschriften wie das "Patek Philippe Magazine" oder Credo, die Kundenzeitschrift der Fürstlich-Liechtenteinschen Privatbank LGT.
Und auch die Mainstream-Presse bekleckert sich hier mit Ruhm. So gab es 2007 einen Spiegel-Titel mit der Überschrift "Die Retter der Welt. Der Feldzug der Reichen gegen Armut, Aids und Klimawandel". Das Bild zeigte Superreiche und einige ihrer Domestiken - Bill Clinton, Bill Gates, Warren Buffet, Angelina Jolie, Richard Branson - wie sie als Superhelden den Erdball umkreisen. Das Magazin Newsweek stieß im April 2008 ins selbe Horn. Das Titelblatt verkündete: "Die Superklasse in Aktion. Wie eine neue globale Elite die Kreditkrise bekämpft und unsere Welt umformt".
Institutionen definieren Wirklichkeit
Welchen gesellschaftlichen und politischen Einfluss besitzen die Superreichen und welche Kanäle benutzen sie dabei?
Hans Jürgen Krysmanski: Die Sache ist aber viel ernster. Die amerikanische Herrschaftsstrukturforschung (Power Structure Research) hat ziemlich überzeugend die Pfade nachgewiesen, wie in dieser "mächtigsten Demokratie der Welt" heute die zentralen politischen Entscheidungen ablaufen. Und dieses Herrschaftsmodell ist, wie McDonald"s, ein Exportschlager geworden. Auch in Berlin versucht man sich ja an einer Kopie. Die Richtlinien der Politik werden in den USA in Netzwerken festgelegt, die weitaus dauerhafter sind (auch was das Personal angeht) als die jeweiligen Präsidentschaften. Es ist völliger Unsinn, den jeweiligen amerikanischen Präsidenten als den "mächtigsten Mann der Welt" zu apostrophieren. Wir sehen ja, wie Clinton oder Bush und all die anderen und demnächst Obama und vielleicht einmal Sarah Palin im (wohlgepolsterten) Machtvakuum verschwinden. Nein, in einer Demokratie hat entweder das Volk die Macht - und möglicherweise wären dann derzeit tatsächlich die Amerikaner (was nicht besonders erhebend wäre) das mächtigste Volk der Welt - oder die Macht hat sich in ganz anderen, langlebigen Herrschaftsstrukturen eingenistet. "Die Debatte über die Bestimmung Amerikas", sagte Al Gore im Präsidentschaftswahlkampf 2000, "wogte immer zwischen denen, die allein aufgrund ihrer gesellschaftlichen Stellung das Recht des Regierens beanspruchten, und denen, die an die Souveränität des Volkes glaubten."
Elite-Universitäten, Stiftungen und Think Tanks
Das amerikanische Power Structure Research hat für die USA die entscheidenden Gesetzgebungsverfahren untersucht und gezeigt, wie Superreiche und Konzerne durch Fördermittel, Forschungsaufträge, Personal die wichtigsten Universitäten, Stiftungen und Denkfabriken in der Hand haben. Und von diesen Institutionen her wird "die Wirklichkeit definiert", werden Handlungsmöglichkeiten eingegrenzt und das politische Weltbild bestimmt. Über die Elite-Universitäten, die großen Stiftungen und Think Tanks wird ein großer Teil des "Einflussgeldes" verteilt, von dort kommen die "Experten", die in einem Geflecht von formellen und informellen Diskussions- und Planungsgruppen Gesetzesvorlagen vorbereiten usw. Die Expertisen landen dann bei den Parteien, in Ausschüssen. Geld plätschert in die Wahlkassen der Abgeordneten und Senatoren und in die offenen Hände der Meinungsmacher. So ist relativ sichergestellt, dass nur Regelungen und Gesetze der ursprünglichen 'Auftraggeber' realisiert werden, wie sich leicht am Umgang mit der Finanzkrise, mit der Gesundheitskrise, mit der Ökokrise - und an den zunehmenden Frustrationsanzeichen bei Barack Obama - ablesen lässt.
Wie sieht die Politik der Superreichen denn aus?
Hans Jürgen Krysmanski: Man kann sich das so vorstellen. Wenn ein Superreicher überhaupt über Politik nachdenken und nicht einfach seine Macher machen lassen will, so kauft er sich eben ein paar Philosophen, Wissenschaftler, Institute und lässt nachdenken. Und nicht alle Superreichen sind ja so sympathisch wie Jan Philipp Reemtsma, Rang 143 der Liste der reichsten Deutschen des Manager-Magazins (Oktober 2009) mit einem Vermögen von rund 650 Millionen, der sich ein eigenes "Hamburger Institut für Sozialforschung" hält. Auch Klaus Tschira (Rang 19, 5,4 Milliarden Euro) ragt mit seiner beachtlichen Wissenschafts-Stiftung aus diesen Kreisen hervor. Überhaupt sind es die Zirkel der großen Stiftungen und Think Tanks, in denen sich unsere superreichen Laiendenker weltweit anregen und beraten lassen.
Harvard University, New York Times und die Metropolitan Opera
Auch russische Oligarchen und in zunehmendem Maße chinesische Milliardäre gehen dort zur Schule. Man denke zum Beispiel an den seit Jahrzehnten betriebenen Nachilfeunterricht seitens des New Yorker Council on Foreign Relations. Aber es gibt noch viele andere Orte und Gelegenheiten, wo der Geldadel seine Interessen formulieren und Strategien entwerfen kann. Gut durchleuchtet vom Power Structure Research sind in den USA die Aufsichtsräte von Institutionen wie der Harvard University, der New York Times oder der Metropolitan Opera, ganz zu schweigen von Klubs und durchaus konspirativen Zusammenschlüssen wie etwa der berühmten Bohemian Grove. Solche Clubs, schreibt der amerikanische Soziologe Thomas Dye, "haben für die Oberschicht die gleiche Funktion, die in Stammesgesellschaften dem Klan zukam. Mit ihrer restriktiven Mitgliederpolitik, ihren Initiationsriten, privaten Zeremonien und der großen Betonung von Tradition ähneln diese Clubs den Geheimbünden, die es in vielen Primitivgesellschaften gibt. Sie verschaffen ihren Mitgliedern das Gefühl einer exklusiven Brüderlichkeit." Politik auf dieser Ebene ist eben Privatpolitik, privatisierte Politik, die sich um formale Strukturen, Demokratie, Verfassungen usw. nicht zu kümmern braucht. Dafür gibt es ja vor unserer Haustür das Beispiel der Politik Berlusconis. Und nicht ganz ohne Grund hat sich der Begriff der Link auf http://www.heise.de/tp/r4/artikel/31/31172/1.html auch bei uns schon etabliert.
Finanzeliten die Stichwortgeber großer Politik
Die Finanzkrise hat vollends sichtbar gemacht, wohin der Hase läuft. Er läuft, wenn überhaupt, rückwärts. Denn schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts waren - für ihre Auftraggeber im Hintergrund - die Finanzeliten der Wall Street, die "Finpols", wie der Soziologe Ferdinand Lundberg sie damals nannte, die maßgeblichen Stichwortgeber der großen Politik. Seit den Sechzigern dann befand sich diese Machtelite in einer Krise, es gab Gegensätze zwischen weltoffenen Handelsliberalen und konservativen Isolations-Ideologen, der Militär-Industrie-Komplex mischte mit, die neuen Informationstechnologien brachten neue Mitspieler in die Oberschicht. In den Achtzigern schienen sich die traditionellen amerikanischen Herrschaftsstrukturen gänzlich aufgelöst zu haben. "Corporate raiders" griffen die alten Businesseliten an. Mathematische Tüftler kreierten komplizierte Finanzinstrumente, welche die älteren Top-Manager selbst nicht mehr verstanden. Aber es scheint, dass gerade der finanzpolitische Tsunami alte, traditionelle Machtverhältnisse erst einmal wieder hergestellt hat. Das Establishment lebt. Oder ist es nur ein Zombie-Revival der "living dead"?
Die Weisheit, derjenigen, die das sagen haben
Jedenfalls scheint - repräsentiert durch dienstbare Geister wie Henry Paulson, Ben Bernanke und Tim Geithner - das alte finanzpolitische Establishment erst einmal wieder das Ruder in der Hand zu haben. Die Autorität dieses traditionellen Establishments, schreibt David Brooks in der New York Times, "basiert auf keinem irgendwie gearteten System der checks und balances, sondern auf der Weisheit und der öffentlichen Verantwortung derjenigen, die jetzt das Sagen haben." Und wenn nunmehr zwecks Überwindung der Krise eine Wirtschaftspolitik in Gang kommt, die auf grüne Technologien, Gesundheitsreform, Infrastrukturausbau, Bildungsreform und Forschung setzt, so sei das, fährt Brooks fort, dennoch "keine Ära, in welcher die Regierung die Mächtigen zugunsten des Volks in die Schranken weist. Nein, dies ist eine Ära des aus Erfahrung klug gewordenen Establishments, in welcher die Regierungsaktivitäten dazu dienen, einen stabilen - und oft oligarchischen - Rahmen für das kapitalistische Projekt bereitzustellen."
Neue Elite
Aber es wird natürlich kräftig geklingelt für diese neue,"progressive" Politik des Establishments, auch bei uns. Da gibt es dann - um nur ein kleines Beispiel anzuführen - prätentiöse Symposien im Berliner Hotel Adlon, in denen unter dem Titel "Macht - Ethik - Geld" angesichts einer Welt der "Umsatzeinbrüche", der "Kreditklemme", des "Vertrauensschwunds gegenüber Finanzwelt und Politik", der "wachsenden Verschuldung der öffentlichen Hand" und der zunehmenden Verunsicherung der Menschen nach Chancen "auf einen tiefgreifenden und zukunftsträchtigen Wandel" gesucht wird. Für eine Teilnahmegebühr von 1750 Euro soll Vermögenden an zwei Tagen vermittelt werden, wie sie "Leitfiguren" sein können, die "eigene und gesellschaftliche Zukunft nachhaltig gestalten" und den "Weg aus der Krise in der Weiterentwicklung der sozialen Marktwirtschaft zu einer öko-humanen Marktwirtschaft" finden können. Unter dem Strich aber kommen die Veranstalter zur Sache: "Wie macht man gutes Geld in einer öko-humanen Marktwirtschaft ?" Dazu sagt einer der Teilnehmer, Daniel Goeudevert, einst Vorstandsmitglied der Volkswagen AG: "Wenn wir es schaffen, Moral und Ethik in unser wirtschaftliches Handeln mit einzubeziehen, werden wir noch größeren Erfolg haben. Zu deutsch: mehr Geld verdienen." Schön wär"s.
Keine Mindestvorgaben einer Herrschaftsethik
Welchen Einfluss besitzt die "Privatisierung" von Wissenschaft und Politik dabei? Wie passen z.B. Gerhard Schröder, Joseph Fischer, Wolfgang Clement und Otto Schily in dieses Bild?
Hans Jürgen Krysmanski: Wo Regeln und Recht funktionalisiert werden, wo letztlich nur das Geldmachen zählt, werden sich auch die Funktionseliten nicht an die Mindestvorgaben einer Herrschaftsethik halten. Wo zwischen "Politik" und "Wirtschaft" die Einkommen immer weiter auseinanderklaffen, darf man sich nicht wundern, wenn die ja nur auf Zeit gewählten politischen Eliten auf Kosten der Moral für ihren Lebensabend sorgen. Schon Topmanager eines mittleren Unternehmens verdienen das Mehrfache der Bundeskanzlerin oder eines Ministers. Wenn private gegenüber öffentlichen Leistungen derart aufgewertet werden, darf man sich nicht wundern, wenn die Privatisierung der Macht von manchen Politikern, vor allem solchen, die sozial von unten kommen, wörtlich, also monetär genommen wird. Selbstverständlich höhlt Privatisierung der Macht die demokratischen Strukturen aus, verdirbt im wahrsten Sinne den Charakter. Diesem Sog können sich die Einzelnen schwer entziehen. Ähnliches gilt im Übrigen für die Wissenschaft: Wem die öffentlichen Forschungsmittel entzogen werden, dessen Rückgrat beugt sich allmählich, denn um sogenannte Drittmittel zu ergattern, muss man kriechen lernen.
Alle Macht geht vom Volk aus, so steht es im Grundgesetz Artikel 20, Absatz 2. Wie sieht ihrer Meinung nach die politische Willensbildung tatsächlich aus?
Hans Jürgen Krysmanski: Ich will nur einen Aspekt herausgreifen. Politische Willensbildung, lebendige Demokratie ist an die Entwicklung der Medien, an die Möglichkeiten medial vermittelter öffentlicher Debatten gebunden. Für mich hängt die Zukunft der Demokratie im Sinne des Grundgesetzes sehr stark vom Schicksal der neuen Informations- und Kommunikationstechnologien ab. Um deren Zukunft ist ja überall ein entscheidender Kampf entbrannt. Derzeit beherrscht eine Handvoll großer Medienkonzerne die Weltöffentlichkeit. Die wollen mit aller, wirklich aller Gewalt auch die Kontrolle über das Internet erzwingen. Das ist ein battleground, der immer mehr ins Zentrum rückt. Denn mit der Welt der vernetzten Computer ist eine völlig neue Stufe dessen, was man im Marxismus Produktivkraftentwicklung nennt, erreicht. Diese neuen, auf allen Stufen der Produktion und Kommunikation präsenten Produktivkräfte erlauben es gerade den Beherrschten, den beherrschten Klassen, an neue Formen eines wissenschaftlichen Sozialismus zu denken. Ich verweise auf die kleine Schrift von Dietmar Dath, Maschinenwinter. Wissenschaftlicher Sozialismus, demokratische Planung auf der Basis der gegenwärtigen technologischen und wissenschaftlichen Möglichkeiten, schreibt Dath, haben eine Zukunft, oder es wird keine Zukunft geben. Und in Wired Magazine steht: "Wir unterschätzen, wie sehr die Kraft unserer kybernetischen Werkzeuge in der Lage ist, unsere Köpfe umzubauen. Haben wir wirklich einmal geglaubt, dass wir täglich im Kollektiv virtuelle Welten konstruieren und bewohnen könnten, ohne dass dies unsere Weltsicht verändert? Die Kraft des Online-Sozialismus wächst. Diese Dynamik verlässt die Welt der Elektronen - vielleicht in Richtung Wahlen."