Über wirtschaftsliberale "Fehldiagnosen" und deren disruptives Potenzial
Das wirtschaftsliberale Lager flirtet mit einer "Prise Disruption" à la Milei und Musk. Potenzial hat diese Idee vor allem in Bezug auf die ohnehin schon angespannte soziale Kohäsion in Deutschland.
Vertreter wirtschaftsliberaler Ideologie, allen voran der ehemalige Finanzminister und Bundesvorsitzende der FDP, Christian Lindner, argumentieren im Rahmen des gegenwärtigen Wahlkampfs für "mehr Disruption und eine wirkliche Wende hin zu Reformen, um die Grundlage für Wachstum und Wohlstand neu zu schaffen". Demzufolge reiche es nicht mehr, "an ein paar Stellschrauben ein wenig zu drehen und mit wenig ambitionierten Reformen die strukturellen Probleme zu überdecken", mit denen Deutschland konfrontiert sei.
Wie er sich diese Wende in der Theorie vorstellt, klingt vor allem erst einmal widersprüchlich, denn Anhaltspunkte für die "disruptive Energie", die Deutschland fehle, sieht Lindner insbesondere "hinter den Provokationen von Milei und Musk", während er gleichzeitig eingesteht, dass "sowohl Milei als auch Musk (…) teilweise extreme, abwegige und bisweilen sogar bestürzende Ansichten (vertreten) und (…) diese mit provokanten Aktionen in die Öffentlichkeit (tragen)".
Praktisch verbergen sich hinter dieser rhetorischen Widersprüchlichkeit die üblichen, auch inhaltlich nicht minder fragwürdigen Forderungen des wirtschaftsliberalen Lagers: Es gelte vor allem "den dysfunktionalen Staat" zu limitieren und "auf Freiheit" zu setzen. Sprich: Deregulierung der Wirtschaft und Vertrauen auf die Selbstregulierungsfähigkeit des Marktes bei simultaner Einschränkung der staatlichen Interventionsfähigkeit in dessen Belange.
"Fehldiagnose" oder Unehrlichkeit in der Debatte?
Betrachtet man dieses Narrativ etwas genauer, so lässt sich feststellen, dass die Positionen Lindners und seiner wirtschaftsliberalen Mitstreiter einige eklatante blinde Flecken aufweisen, die entweder auf eine realitätsfremde "Fehldiagnose" (https://westendverlag.de/Fehldiagnose/2179) oder schlicht auf eine in der Politik nicht unübliche Unehrlichkeit in der Debatte vermuten lassen. So fallen zwei zentrale Aspekte, um Deutschlands gegenwärtige wirtschaftliche Lage adäquat einordnen zu können, einfach unter den Tisch, wie Tom Krebs richtig feststellt:
Die zwei wichtigen Ereignisse sind die Corona- und Energiekrise. Eine überzeugende Erklärung der langjährigen Stagnationsphase muss [..] zwingend auf diese zwei Makroschocks eingehen und kann nicht nur strukturelle Faktoren anführen.
Wahlkampftaktisch betrachtet mag es eine Rolle in Bezug auf Herrn Lindners Analyse der Situation spielen, dass es, wie Herr Krebs ebenfalls ausführt, dessen eigene wirtschaftsliberale Ideen und Politik als Finanzminister gewesen sind, die insbesondere im Zuge des Energiepreisschocks von 2022 die sich anschließenden Krisensymptome noch verstärkt haben, statt ihnen entgegenzuwirken. Ehrlich und kompetent lassen diese blinden Flecken Herrn Lindner also nicht erscheinen.
Eine Prise "Schocktherapie" gefällig?
Natürlich bedeutet das nicht, dass es in Deutschland nicht auch strukturelle Probleme gäbe. Ein zentrales ist durch das wirtschaftsliberale Lager selbst hervorgebracht und nennt sich "Schuldenbremse" – ein im Grundgesetz verankerter Mechanismus, der die deutsche Entwicklung bereits seit längerer Zeit ausbremst, indem er wichtige öffentliche Investitionen verhindert.
Herrn Lindners Vorschläge gehen jedoch, wenig überraschend, in die exakt gegenteilige Richtung: In seiner Vorstellung sollten, wie unter Milei, "öffentliche Ausgaben (…) konsequent gekürzt" und "staatliche Unternehmensbeteiligungen (…) umfassend zurückgefahren" werden, während "für viele Teile der Wirtschaft (…) Regulierungen radikal abgebaut" werden sollten. Es gibt einen Namen für das Programm, das Herr Lindner euphemistisch als "Disruption" der argentinischen Ökonomie bezeichnet: Man nennt es "Schocktherapie".
Historische Beispiele für dieses kontroverse Vorgehen, in dessen Zuge Volkswirtschaften einer wirtschaftsliberalen Radikalkur unterzogen werden, sind Chile unter Augusto Pinochet, Russland unter Boris Jelzin und die ehemalige DDR im Rahmen der Vereinigung beider deutscher Staaten. Stets gehen diese Maßnahmen mit einer drastischen Verarmung der allgemeinen Bevölkerung einher – so auch im Falle Argentiniens unter Milei.
Hayek und Friedman melden sich aus dem Grab
Die dahinterliegenden Ideen sind wie erwähnt nicht neu, sondern eine (die wievielte eigentlich?) Wiederbelebung der Lehren Hayeks und Friedmans, von denen man bereits im Rahmen der "Großen Regression" erwartet hatte, dass die historische Phase, in der sie ihre Wirkmacht entfalten konnten, zurecht vorbei wäre – und doch finden sie, wider der Erfahrung, erneut ihren Weg zurück in die politischen Debatten der Gegenwart.
Ähnlich wie Herr Lindner und dessen Mitstreiter waren auch Hayek und Friedman jedoch nicht immer ganz ehrlich, wenn sie eine in ihren Augen optimale Wirtschaftsstruktur skizzierten, wie Joseph Stiglitz vor Kurzem in Erinnerung gerufen hat:
Hayek und Friedman waren die meist bekannten Verteidiger eines uneingeschränkten Kapitalismus in der Mitte des 20. Jahrhunderts."Uneingeschränkte Märkte" – Märkte ohne Regeln und Regulierungen – sind ein Oxymoron, denn ohne von Regierungen durchgesetzte Regeln und Regulierungen könnte und würde es kaum Handel geben. Betrug wäre allgegenwärtig, Vertrauen niedrig. Eine Welt ohne jede Einschränkungen wäre ein Dschungel in dem nur Macht zählen würde (…).
Zweifelsohne hüten sich Lindner und Kollegen in den meisten Fällen davor, offen "uneingeschränkte Märkte" einzufordern. Dennoch handelt es sich bei diesem von Hayek und Friedman etablierten wirtschaftsliberalen Extrem um das Leitbild, in dessen Richtung sie die deutsche Marktwirtschaft verschoben sehen wollen. Zweifelhaft erscheint hingegen, dass es den Herrschaften, wie von Lindner insinuiert, tatsächlich um unser aller Wohlstand und allgemein sinkende Lebensstandards geht.
Das Kind beim Namen nennen
Viel wahrscheinlicher wirkt es, dass es sich bei diesen zur Genüge widerlegten Gedankengängen, zumindest in ihrem Kern, um Aspekte einer wohldurchdachten und breit organisierten "Klassenstrategie" handelt. Eine immer wieder sträflich vernachlässigte Kerbe, in die Tom Krebs dankbarer Weise in seinem neuen Buch geschlagen hat:
Angesichts dieser und anderer Fehldiagnosen drängt sich die Frage auf, warum marktliberale Ökonomen und ihre kruden Theorien immer noch so einflussreich sind […]. Eine offensichtliche Antwort ist, dass der von ihnen vertretene Wirtschaftsliberalismus den Interessen der Kapitalseite dient und finanziell gut unterstützt wird. Wer das Geld hat, kann zusätzliche Stellen an Universitäten schaffen, marktliberale Wirtschaftsinstitute unterstützen und pseudoprogressive Denkfabriken gründen.
Die politischen Widersacher von Herrn Lindner und dessen Gefährten täten gut daran, diese seit langer Zeit etablierten Einsichten der (Kritischen) Politischen Ökonomie wieder vermehrt in die öffentliche Debatte zu tragen, denn wenn uns rund 175 Jahre kapitalistisch dominierter menschlicher Entwicklung eines mit Sicherheit vermitteln konnten, dann ist es folgender von Tom Krebs formulierter Leitsatz: "Ohne die Einsichten von Keynes, Marx und Polanyi geht es nicht". Zumindest, wenn man tatsächlich das Wohl der Allgemeinheit im Sinn hat.