Übernehmen die Rechtsextremen in Europa langsam die Macht?
Seite 2: Prognosen für rechtsextreme Parteien in Europa
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Die Fratelli d'Italia, RN in Frankreich, die deutsche AfD und die spanische Vox dürften mit 27, 25, 18 bzw. neun Sitzen als die großen Gewinner hervorgehen. Marine Le Pen hat bereits mit einer diplomatischen Blitzaktion begonnen, um ihre europäischen rechtsextremen Verbündeten zu mobilisieren. Vor Kurzem hat sie eine Offensive gegen Giorgia Meloni, ihre Hauptrivalin um die Führung der Rechtsextremen in Europa, gestartet.
Zwei ehemalige Schwergewichte, die polnische PiS und die italienische Lega von Matteo Salvini, werden bei den Wahlen im Juni 2024 voraussichtlich Einbußen hinnehmen müssen und 22 (minus fünf) bzw. sieben (minus 18) Sitze erhalten. In Ungarn wird Viktor Orbán voraussichtlich in etwa die Unterstützung von 2019 erhalten, ist aber innerhalb der europäischen extremen Rechten weiterhin isoliert.
Schließlich werden neue rechtsextreme Parteien in das Europäische Parlament einziehen: die Allianz für die Union der Rumänen (AUR), Chega in Portugal, die Slowakische Nationalpartei, die Dänischen Demokraten und möglicherweise auch die Reconquête von Éric Zemmour in Frankreich.
Durchbrechen der Brandschutzmauern
Die derzeitige Welle der Rechtsextremen spiegelt zwar im Wesentlichen die nationale politische Dynamik wider, doch sind in ganz Europa ähnliche Tendenzen zu beobachten, vor allem das Mainstreaming dieser Parteien.
In vielen Ländern haben die rechtsextremen Parteien eine strategische Balance hergestellt zwischen Regierungsernsthaftigkeit und radikaler Politik. Sie haben ihren Extremismus abgeschwächt, um ihren Wählerzuspruch zu erhöhen und an die Macht zu kommen, vor allem, indem sie ihre Euroskepsis abgeschwächt und sich von Putins Russland distanziert haben.
In der Zwischenzeit haben diese Parteien ihre typische nationalistische und autoritäre Ideologie in Verbindung mit einem Anti-Establishment-Populismus beibehalten, was es ihnen ermöglicht, weiterhin von den Ressentiments und der Wut der Wähler zu profitieren.
Eine solche Annäherung an die Mitte der europäischen Politik hat die politische Zusammenarbeit mit Parteien der rechten Mitte in Ländern wie Italien, Finnland, Schweden und Spanien erleichtert. Bald könnte auch Österreich dazukommen, und möglicherweise auch Belgien, wo die wachsende Popularität der rechtsextremen Vlaams Belang den "Cordon Sanitaire" des Landes aushöhlt. Sogar die deutsche CDU scheint nun geneigt zu sein, den gefährlichen Weg zu gehen und lokale Bündnisse mit der AfD einzugehen.
Rechtsextreme Ideen durchdringen die etablierte Rechte, wie die Radikalisierung zeigt von Parteien wie der ÖVP in Österreich, der VVD in den Niederlanden und dem, was von den Republikanern (LR) in Frankreich nach dem Debakel bei der Präsidentschaftswahl 2022 übrig geblieben ist. Eine solche Ansteckung wurde am deutlichsten bei der Übernahme der restriktiven Einwanderungspolitik der extremen Rechten in diesen Ländern.
Dieses komplexe Zusammenspiel der Kräfte ist der Schlüssel zum Verständnis der bevorstehenden Umstrukturierungen auf europäischer Ebene.
Wie sich die europäischen Parlamentsblöcke entwickeln könnten
Die derzeitige Zusammensetzung der rechtsextremen Fraktionen im Europaparlament zeigt eine anhaltende Kluft zwischen den einerseits eher "mainstreamigen" atlantischen Parteien, die mit Giorgia Meloni, der spanischen Vox und der polnischen PiS innerhalb der Europäischen Konservativen und Reformisten (EKR) verbunden sind, und der Fraktion Identität und Demokratie (ID) andererseits.
Seit ihrer Gründung im Jahr 2019 hat sich die ID-Gruppe zur wichtigsten Drehscheibe für ehemals pro-russische rechtsextreme und extremistische Parteien um Marine Le Pen, Matteo Salvini, die österreichische FPÖ und die AfD entwickelt. Andere rechtsextreme, pro-russische Parteien wie Orbans Fidesz verbleiben bei den Non-Inscrits (nicht angegliedert).
Gestärkt durch ihren Erfolg in Italien sucht Giorgia Meloni eine Annäherung an die Europäische Volkspartei (EVP), was die EKR zum Zentrum der europäischen Politik machen würde. Es wird erwartet, dass Parteien wie Vox, die Finnen, die lettische Nationale Allianz und die rumänische AUR beitreten werden, wodurch die EKR-Fraktion auf etwa 80 Sitze anwachsen würde.
Melonis strategisches Herunterspielen von Europa- und Einwanderungsfragen öffnet sicherlich die Tür für ein breiteres Bündnis der europäischen Rechten. Das bleibt jedoch von den Forderungen der EVP abhängig.
Der Vorsitzende der EVP-Fraktion, Manfred Weber, hat deutlich gemacht, dass künftige EVP-Verbündete die Rechtsstaatlichkeit respektieren und die Ukraine eindeutig unterstützen sollten, wobei er die polnische PiS für ihren illiberalen Kurs kritisiert hat.
Darüber hinaus könnte die interne Dynamik der EVP, insbesondere die aktuellen Meinungsverschiedenheiten zwischen der CDU und der CSU, den Kurs der Fraktion in den nächsten Monaten verändern.
Weiter rechts werden sich Marine Le Pen und Matteo Salvini auf ihre traditionellen Verbündeten in Österreich und Belgien verlassen müssen, während sie neue Partner in der Slowakei und Portugal suchen und vielleicht sogar Gespräche mit Viktor Orbán aufnehmen. Die derzeitige Zusammensetzung und der Ruf der ID machen es insbesondere Le Pen schwer, sich vom Rechtsextremismus zu distanzieren, was für ihre Bewerbung um die nächste französische Präsidentschaft von entscheidender Bedeutung sein wird.
Neben anderen Herausforderungen wird die ID mit der Aufnahme extremistischer Parteien konfrontiert sein, darunter eine inzwischen mächtigere, aber politisch schwerfällige AfD, die in Deutschland zu einem Zufluchtsort für Neonazis geworden ist.
Auch wenn sich bis Juni 2024 noch vieles ändern kann, wie der Rückschlag von Vox bei den letzten Wahlen in Spanien zeigt, deutet die derzeitige Flut der extremen Rechten möglicherweise auf eine Verlagerung des politischen Schwerpunkts in Europa hin.
Trotz ihrer "Normalisierung" bleiben die rechtsextremen Parteien die Hauptquelle an Opposition gegen die grundlegenden Werte und Prinzipien der Europäischen Union, am deutlichsten innerhalb der ID-Gruppe, die wahrscheinlich ihr Projekt eines "Europas der freien und unabhängigen Nationen" weiterverfolgen wird.
Der Artikel erscheint in Kooperation mit The Conversation. Das englische Original finden Sie hier. Übersetzung: David Goeßmann.
Gilles Ivaldi ist Politikwissenschaftler an der Sciences Po in Paris.
Andreu Torner arbeitet im Bereicht Internationalen Beziehungen an der Universitat Ramon Llull.